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Manche Erlebnisse mit Tieren sind unvergesslich: Henne Berta fasst einen Dieb. Ein Schwalbenpaar baut sein Nest im Klo. Möpschen erledigt den Kanarienvogel. Ilse Gräfin von Bredow hat in ihren Büchern viele solcher amüsanten Begebenheiten geschildert. Einige davon gehören zu ihren Erinnerungen an die glückliche Kindheit auf dem Land in der Mark Brandenburg. Andere sind einfach gut erfunden. Für diesen Band hat sie die schönsten ihrer Tiergeschichten ausgewählt: köstliche Anekdoten, nicht nur bei Hundewetter eine aufheiternde Lektüre.
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Seitenzahl: 229
Veröffentlichungsjahr: 2017
Ilse Gräfin von Bredow
Manche Erlebnisse mit Tieren sind unvergesslich: Henne Berta fasst einen Dieb. Ein Schwalbenpaar baut sein Nest im Klo. Möpschen erledigt den Kanarienvogel. Ilse Gräfin von Bredow hat in ihren Büchern viele solcher amüsanten Begebenheiten geschildert. Einige davon gehören zu ihren Erinnerungen an die glückliche Kindheit auf dem Land in der Mark Brandenburg. Andere sind einfach gut erfunden. Für diesen Band hat sie die schönsten ihrer Tiergeschichten ausgewählt: köstliche Anekdoten, nicht nur bei Hundewetter eine aufheiternde Lektüre.
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Vorwort
1 Robert, der Prächtige
2 Aus dem Leben Eduards V.
3 Pumm und das Osterlamm
4 Wintermärchen
5 Der aufmüpfige Bulle
6 Lizzy
7 Die blaue Grotte
8 Jugendliebe
9 Die Delikatesse
10 Der Regenmacher
11 Bruno, der Krepel
12 Der Findling
13 Der Sündenbock
14 Rosamundes spätes Glück
15 Fast ein Held
16 Henne Berta fasst einen Dieb
17 Die herrlichen Geschöpfe
18 Onkel Enzios Rettung
Quellenverzeichnis
Wer wie meine Geschwister und ich weitab vom Schuss zwischen Wald und Wiesen aufwuchs, besaß zur Natur und zu Tieren eine ganz besondere Beziehung und stand nicht nur mit Hund und Katze, sondern auch mit Kuh und Schwein auf vertrautem Fuß. Kein Wunder also, dass unsere Erlebnisse mit dem lieben Vieh auch in meinen Büchern ihren Platz gefunden haben, bei denen natürlich in der Erinnerung das Groteske oft überwiegt, wie etwa der Irrtum unseres biersüchtigen Bernhardiners Möpschen, der den in der Küche in Bodennähe herumflatternden Kanarienvogel meiner Schwester für ein herunterfallendes Stück Butter hielt und ihm mit einem Schnapp ein jähes Ende bereitete. Auch Robert, der Prächtige, ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Er war ein besonders boshaftes Pferd, das es liebte, arglose Ausflügler im wilden Galopp über die Koppeln zu jagen, während der Liebling meiner Schwester namens Wintermärchen, ein schwarzes Riesenross mit stattlichem Bauch, der in keine Gabel eines Einspänners passte, seinen Unmut über uns Menschen auf ganz andere Weise kundtat. Wenn er keine Lust mehr hatte, uns gemeinsam mit dem Sattelpferd im schlanken Trab durchs Luch zu ziehen, blieb er plötzlich mit tiefem Seufzer stehen und ließ sich auf die Deichsel fallen, die prompt zerbrach, sodass uns nichts anderes übrig blieb, als mit den ausgespannten Pferden, von Mutters Wehklagen: »Mit diesen Zossen kommt man nie irgendwo pünktlich hin!« begleitet, nach Haus zurückzukehren.
Zu der engen Gemeinschaft von Mensch und Tier gehörte für uns auch manches, was man normalerweise als Ungeziefer bezeichnet, zum Beispiel die Kakerlake Klara. Mein Bruder hatte sie so getauft und sie vorsorglich mit einem Klecks weißer Farbe gekennzeichnet. Klaras Lieblingssport war es, auf der Zentrifuge herumzuturnen, wobei sie einmal ins Rutschen geriet, in die Milch fiel und, vom Strom erfasst, im Sahnetopf landete, aus dem sie gerade noch im letzten Augenblick gerettet werden konnte.
Neben Hunden, Katzen, Mäusen und der Kröte unter der Küchenpumpe waren es die Vögel, die sich ungeniert bei uns einnisteten. So erschwerte uns ein Meisenpaar die Gartenarbeit, indem es sich die Gartenpumpe als Wohnung aussuchte und uns zwang, bis die Jungen flügge waren, jeden Eimer Wasser zum Gießen aus der Küche heranzuschleppen. Ein Schwalbenpaar wiederum hatte es sich in den Kopf gesetzt, sein Nest im Klo zu bauen, was bedeutete, dass alle, Familie wie Gäste, der Gefahr ausgesetzt waren, nicht nur von oben bis unten bekleckert zu werden, sondern auch einen steifen Hals zu bekommen, von anderen Leiden ganz zu schweigen, weil Tag und Nacht das Fenster aufgehalten werden musste, was besonders bei den älteren Gästen einiges Missbehagen hervorrief. Als ausgesprochene Gästeattraktion erwiesen sich dagegen unsere beiden Kühe. Mit ihren eleganten Sprüngen über den Koppelzaun machten sie jedem Turnierpferd Konkurrenz. Und dann gab es da noch das Huhn Küki, das sich hypnotisieren ließ.
Längst nicht jedes Tier ruft heute noch in mir wehmutsvolle Erinnerungen hervor, doch unser Münsterländer Buschi besitzt bis heute einen festen Platz in unseren Herzen. Er teilte manch unangenehmes Fluchterlebnis und beschämte uns mit seinem Edelmut. Während er durch das Dorf, in dem wir nach dem Krieg gelandet waren, von Gehöft zu Gehöft flitzte und dort die Katzenteller leerte, saugten wir, wie damals üblich, Hungerpoten. Wenn unsere Mägen zu laut knurrten, leckte er uns tröstend die Hand. Und dann, eines Tages, apportierte er uns einen großen Beutel, prall gefüllt mit Weißwürsten, den er einem arglos dahinradelnden Bauern blitzschnell vom Gepäckträger gezerrt hatte.
Jetzt bin ich dem Landleben seit langem entwöhnt. Doch meine Schwester füllt das langsam austrocknende Sammelbecken an Tiergeschichten wieder auf. Sie lebt auf einem Bauernhof, umgeben von betagten Pferden, zugelaufenen Katzen, denen man nicht abgewöhnen kann, am Heiligabend die liebevoll geschmückte Tanne als Kletterbaum zu benutzen, Besucherhunden, die den Burgfrieden respektieren und mit den Katzenjungen kuscheln, und zwei ehemals als Braten gedachten Enten. Da sie es nicht übers Herz brachte, sie selbst zu schlachten, fuhr sie sie zu einer Bauersfrau in der Nachbarschaft, die ihr angeboten hatte, diese unangenehme Aufgabe für sie zu erledigen. Mit den Enten im Karton auf dem Rücksitz ihres Autos machte sie sich auf den Weg. Doch die Enten befreiten sich und erklommen die Lehne des Fahrersitzes, wo sie, vergnügt vor sich hinschnatternd, sie ab und zu zutraulich am Haar zupften. Meine Schwester kehrte wieder um. Seitdem nehmen auch sie hin und wieder am Familienleben teil, kommen ins Wohnzimmer gewatschelt und beschnattern das Fernsehprogramm.
Nicht nur dem lieben Vieh meiner Kinder- und Jugendjahre ist dieses Buch gewidmet, sondern auch hin und wieder jenen Tieren, die meiner Phantasie entsprungen sind oder denen ich später im Leben begegnet bin, wie einem wohlbeleibten älteren Dackel. Er zwang seine Besitzerin, im strömenden Regen auszuharren, während er mit verdrießlicher Miene im Gebüsch herumschnüffelte, und gönnte sich gern auf dem Zebrastreifen eine längere Ruhepause. Er war also das Gegenteil eines liebenswürdigen Begleiters, bellte viel und knurrte unfreundlich jeden arglosen Hund an, der sich ihm näherte, sodass sich nette Gespräche mit anderen Hundebesitzern nie ergaben und man sich eher zuflüsterte: »Was für ein grässlicher Köter.« Es ist noch nicht lange her, da beobachtete ich, wie die Besitzerin dieses »Köters« wieder einmal in Wartestellung vor dem Unterholz im Park stand, in das er zu verschwinden pflegte. Auf meinem Rückweg harrte sie dort immer noch aus, und ich fragte teilnehmend: »Gehorcht er mal wieder nicht?« Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Er ist doch gestorben. War ja auch ein alter Hund. Aber ich hab ja noch seine Leine. Sehen Sie?« Sie hielt sie mir unter die Nase und erklärte mir mit der Nüchternheit der Kriegsgeneration: »Einen neuen will ich nicht in meinem Alter. Ich kann ja auch plötzlich tot sein.« Und dann erzählte sie mir mit Tränen in den Augen, was für ein wunderbares Tier der Dackel gewesen war. Und so was von klug. Voller Mitleid mit der nun so Vereinsamten ging ich nach Haus. Aber es zeigte sich, dass mein Mitleid überflüssig war. Jedes Mal, wenn ich nun an der Hundewiese vorbeikam, sah ich sie mit dem einen oder anderen Hundebesitzer ins Gespräch vertieft stehen. Sie hielt die Leine in der Hand und erzählte dem interessiert Zuhörenden offensichtlich die Geschichte von dem wunderbaren und klugen Tier. So war sie, ehe sie es sich versah, in die Gemeinschaft von Hund und Mensch aufgenommen, von der sie der Dackel vorher ausgeschlossen hatte.
Jedes Mal, wenn Vater mit einem von uns Besuch von der Kleinbahn abholte, wies er an einer bestimmten Stelle mit der Peitsche auf ein fernes Gebäude und machte den mäßig interessierten Gast darauf aufmerksam: »Dort wohnt der Piepenhans.« Über Piepenhans, so genannt, weil er eine hohe Stimme hatte und in Kindheitstagen »Hänschen, piepe mal« sein Lieblingsspiel gewesen war, wurde gern geredet. Sein Schloss lag wie eine aufgeblähte, bemooste Kröte auf einer kleinen Anhöhe und konnte vor lauter Efeu kaum noch aus den Fenstern gucken. Die wuchtige eichene Doppeltür, an der sich nur noch ein Flügel bewegen ließ, trug Onkel Hans’ Wappen und war durchsiebt von Teschingkugeln. Piepenhans lebte ganz allein mit seiner Mutter in diesem Riesenkasten. Er war klein und rundlich, aber behende, und pflegte gern von sich »als Mann« zu sprechen. »Ich sage euch als Mann«, hatte er vor vielen Jahren als grünes Bürschchen auf einer Jagd herumgekräht, »ich werde mir mindestens fünf Söhne anschaffen.«
»Wie ich dich kenne, weißt du sogar schon ihre Namen«, sagte Onkel Karl kopfschüttelnd über diese Anmaßung, die sogar noch seine eigene übertraf.
»Richtig.« Piepenhans holte mit einem schnellen Schuss eine Krähe herunter. »Bestimmt wird ein Robert darunter sein.«
Er heiratete denn auch sehr jung. »Nun kannst du ja ans Anschaffen gehen«, sagte Vater auf der Hochzeit. Doch irgendwie lief die Sache schief. Piepenhans bekam eine Tochter nach der anderen. Bei der dritten hatte er in die Zeitung setzen lassen: »Diesmal noch mit großer Freude geben wir … bekannt«, bei der vierten starb seine Frau. Vor Schreck, wie man behauptete. Piepenhans gab nicht auf. Er heiratete zum zweiten Mal, die Witwe seines Bruders, was man sehr praktisch fand. »Die weiß wenigstens gleich, wo im Keller der Rotwein steht.« Doch die Ehe blieb kinderlos, und die Frau starb nach acht Jahren an Diphtherie. Inzwischen hatten seine vier Töchter das Haus verlassen und sich selbständig gemacht. Zu Hause ließen sie sich nur selten blicken. Der Vater hatte sich nie sehr um sie gekümmert, und die butterlosen Marmeladenbrote zum Frühstück sowie der Tick ihrer Stiefmutter, sie zur Abhärtung jeden Morgen mit kaltem Wasser zu übergießen, waren allzu lebhaft in ihrer Erinnerung geblieben. Zudem war das Gut Majorat und würde später sowieso an einen Vetter vererbt werden.
Jetzt also wurde Piepenhans’ Haus von seiner Mutter geführt, die noch sehr rege, aber ebenfalls sehr sparsam war. Das Mobiliar war ein Sammelsurium von Stilen. Keine Tür schloss richtig, und alles wackelte. War man bei Onkel Hans zu Gast, setzte man sich nur mit äußerster Vorsicht und stand ebenso behutsam wieder auf aus Angst, sich an Splittern und Nägeln Hosen und Röcke zu zerreißen. Dafür waren Hof und Maschinen hochmodern. Piepenhans war ein fortschrittlicher Landwirt. Die Ställe waren luftig, und die gut geputzten Kühe standen auf sauberem Stroh.
Einziger Ersatz für seine unerfüllt gebliebenen Vaterträume war sein Reitpferd, der Rappe Robert, den er gar nicht genug rühmen konnte. Wenn er von ihm erzählte, hatte man den Eindruck, er spreche von einem hochgezüchteten Araber und nicht von diesem dicken, boshaften Teufel, an den sich der Stallknecht zum Putzen kaum herantraute. Aber Piepenhans wollte kein schlechtes Wort über seinen Liebling hören. »Vielleicht manchmal ein bisschen heftig, aber beim Reiten das reine Lamm.« Zwischen dem Lamm und ihm entwickelten sich unterwegs lautstarke Machtkämpfe, denn Robert bog aus rätselhaften Gründen jeden Weg rechts ein. Onkel Hans brüllte außer sich: »Wirst du wohl! Was soll das!« – zerrte an den Zügeln und gab ihm die Sporen. Aber das Einzige, was er erreichte, war, dass sie dann den Heimweg getrennt zurücklegten. Wenn Bruno und ich an Roberts Koppel vorbeiradelten, galoppierte er schnaubend und mit geblähten Nüstern am Zaun auf und ab und versuchte, über den Draht hinweg nach uns zu schnappen.
Noch mehr als Kinder hasste er Ausflügler. Mit ihnen spielte er ein selbst erdachtes Spiel, das ihm großes Vergnügen bereitete. Wenn sie am Sonntag in Scharen vorbeikamen, stellte er sich mit gesenktem Kopf unter eine alte Kastanie und starrte schwermütig auf das dürre Gras zu seinen Füßen. Die wohlgerundeten Flanken hatte er so eingezogen, dass er wie ein halb verhungertes Zigeunerpferd aussah. Dazu klemmte er seinen Schwanz ganz fest unter den Bauch, was den Eindruck des Elends noch verstärkte.
»Seht mal das arme Pferdchen«, sprachen die Mütter zu ihren Kindern, »das werden wir jetzt mal füttern.« Sie krochen durch den Draht und machten sich, mit ihren Stöckelschuhen über die Maulwurfshügel stolpernd, auf den Weg zu ihm. Robert, der müde mit den Augenlidern zuckte, um die Fliegen abzuwehren, wusste genau, wann der richtige Augenblick gekommen war. Er sprang aus dem Stand auf sie zu, die Oberlippe über den gelben Zähnen zurückgezogen, und schnappte mit angelegten Ohren nach ihnen, drehte sich zwischendurch um und keilte aus.
Zu seinem Pech wusste er dabei nicht das rechte Maß zu halten. Als die Klagen sich häuften, blieb seinem Herrn nichts anderes übrig, als in der Koppel eine Tafel mit Aufschrift »Vorsicht, Pferd beißt und schlägt!« aufzustellen. Robert wunderte sich natürlich, wieso sein Spiel plötzlich vorbei war. Er grämte sich sehr, bis es ihm an einem Sonntag gelang, das nur nachlässig geschlossene Koppeltor aufzuschieben. Zuerst fiel er über Vaters Klee her, dann stellte er sich in gewohnter Pose am Wegesrand unter eine Birke. Bald war er von Städtern umringt, die sich zuriefen: »Seht mal, ein Pferd! Was macht das hier? Wahrscheinlich weggelaufen –«, und die nach allen Seiten auseinander stoben, als er sie attackierte. Robert konzentrierte sich auf eine ältere Frau, die ihn durch gellende Schreie besonders animierte. Er verfolgte sie bis auf die Höhe einer tiefen Sandgrube. Als die Frau Robert hinter sich schnauben hörte, überlegte sie nicht lange. Sie hob ihre Röcke und rutschte den Sandhang hinunter. Obwohl Robert alle vier Hufe als Bremse benutzte, gelang es ihm nicht, rechtzeitig vor dem steilen Abgrund zu stoppen. Sein von Klee aufgeblähter Bauch gab ihm einen zu großen Schub. Unter verzweifeltem Wiehern segelte er durch die Luft und überschlug sich. Er brach sich ein Bein und musste erschossen werden.
Da Onkel Hans ein fortschrittlicher Mensch war und ihn das Reiten in letzter Zeit sowieso über Gebühr angestrengt hatte, beschloss er, sich ein Auto zu kaufen. Die Grüne Woche in Berlin war ein guter Anlass dafür. In einem Autosalon ließ er sich von einem wendigen jungen Mann die neuesten Modelle vorführen, die er mit den Augen des alten Kavalleristen prüfte. Der Verkäufer mühte sich auf seine Weise, diesem sonderbaren Kunden die einzelnen Typen schmackhaft zu machen. Er pries Motor und Innenausstattung, während Onkel Hans jedes Auto beklopfte und von »schwacher Hinterhand« und »abfallender Kruppe« sprach. Der passende Wagen wurde schließlich gefunden, ein mächtiges Ding, dessen Hupe sich anhörte wie ein Hirsch zur Brunftzeit.
»Haben denn Herr Baron schon einen Chauffeur?«, fragte der Verkäufer.
»Chauffeur?«, sagte Piepenhans. »Den fahr nur ich allein, da kommt mir kein anderer ans Steuer.«
Wir erfuhren von Onkel Hans’ neuester Errungenschaft mehr durch Zufall, denn bis in unsere Wildnis war die Kunde von seinem Kauf noch nicht gedrungen. Wir waren zum Abendessen eingeladen und hatten das warme Wohnzimmer verlassen, um uns in den eisigen Speisesaal zu begeben, in dem ein Kachelofen vergeblich gegen die Kälte anheizte. Während Onkel Hans’ Ahnen auf uns herabsahen und Mäuse durch die neben der Anrichte zum Trocknen ausgebreiteten Nüsse huschten, löffelten wir mit klammen Fingern und kleinen Wölkchen vor dem Mund unsere Suppe. Als Hauptgang gab es Schweinebraten mit Sauerkraut und Kartoffelklößen.
Onkel Hans’ Mutter war gerade dabei, Vater ein Stück Fleisch auszusuchen – »Du bist immer so bescheiden, mein lieber Alfred, am Ende wirst du mir nicht satt« –, und legte ihm ein recht kleines, aber sehr fettes Bratenscheibchen auf den Teller, da meldete der Diener: »Der Mann, der Robert verarztet hat, ist draußen.«
»Soll reinkommen«, sagte Piepenhans.
Auf der Schwelle erschien ein junger Mann im gestreiften Overall, einen Werkzeugkasten unter dem Arm, und sagte: »Alles in Ordnung, nu loofta wieda.«
»Er spricht von Robert«, erklärte der Hausherr, »ich meine das Auto, das ich gekauft habe. Ihr müsst es euch unbedingt nach dem Essen einmal ansehen.«
Von nun an sah man ihn nur noch mit seinem Auto in der Gegend herumkutschieren. Gestiefelt und gespornt wie zu einem Ausritt begab er sich jeden Morgen hinter das Lenkrad. Sprang an kalten Tagen der Motor nicht an, nannte er den Wagen einen lahmen Schinder, eine elende Krücke. Seine Mutter teilte seine Passion. Sie war ganz versessen darauf, hinten im Wagen zu sitzen und die Alleebäume vorbeiflitzen zu sehen. Die alte Dame beklagte sich nicht, wenn ihr Sohn, um Robert zu strafen, in hohem Tempo durch die Schlaglöcher jagte, sodass sie mit dem Kopf gegen die Decke flog. Sie hatte sich angewöhnt, eine Art selbst angefertigten Sturzhelm zu tragen, der, mehr praktisch als kleidsam, den Kurfürstendamm zu staunender Bewunderung hinriss, als sie einmal vergaß, ihn rechtzeitig abzusetzen. Als das Auto und Piepenhans mal wieder eine Meinungsverschiedenheit hatten, fuhr er mit Vollgas auf einen Sturzacker und brüllte so laut, dass Bruno, der gerade seine Karnickelfallen ganz in der Nähe nachsah, vor Schreck fast selbst in die Falle geriet. »Tob dich aus, du Aas!« Das tat das Aas denn auch gründlich. Es stak bis zu den Achsen im nassen Boden und musste von einem Gespann .
Vater war dafür bekannt, dass er überall, wo er hinfuhr, seine Kinder mitschleppte, ob es den Nachbarn nun passte oder nicht. Und so sagte er beim Mittagessen mit der Miene eines gütigen Weihnachtsmannes: »Ich hab was Schönes für dich und Billi. Ihr könnt heute mit mir zu Onkel Hans fahren.«
»Ooch«, sagte Billi gedehnt, »nimm doch Vera mit, ich blieb ganz gern hier.«
»Damit ich die Weinkiste für Piepenhans allein schleppen kann«, sagte Vater entrüstet.
»Wie reizend, die Kinder mitzubringen!«, rief die alte Dame, als wir ankamen, und rettete mit hastigem Griff eine offene Keksdose. »Ich lasse gleich etwas heiße Schokolade für sie bringen.«
Die Schokolade war dünnster Kakao, aber der frische Butterkuchen schmeckte dafür umso besser. Wir waren so richtig am Abräumen, und die alte Dame wurde schon ganz unruhig – »Der Kuchen ist aber noch sehr frisch, Kinder« –, da griff Vater ein und sagte: »Wir haben noch einiges zu besprechen, spielt ein bisschen draußen.« Dazu hatten wir gar keine Lust, denn es hatte angefangen zu nieseln.
»Ihr dürft euch ins Auto setzen«, sagte der Hausherr großmütig. Robert, der Prächtige stand auf dem Hof und wurde von einem Knecht gewaschen. Als wir uns dem Auto näherten, ging dieser gerade pfeifend, den Eimer in der Hand, in den Stall. Die Türen standen offen. Im Nu hatten wir uns auf die Sitze geschoben.
»Soll ich mal?«, sagte Billi und lockerte die Handbremse.
»Bist du verrückt!«, kreischte ich voll Entzücken. Da rollte der Wagen auch schon über den leicht abschüssigen Hof und rammte eine Pumpe.
»Ihr verfluchten Bälger! Was habt ihr da bloß angerichtet! Das wird Dresche geben.« Der Knecht scheuchte uns vor sich her ins Haus. Onkel Hans lief auf den Hof, um den Schaden zu besichtigen. Ganz gebrochen kam er wieder zurück. »Schrott, nichts als Schrott!«
»Nun übertreib man nicht, Hans Heinrich.« Die alte Dame schob ungerührt ihr Gebiss mit der Zunge zurecht. Wortlos verließ Onkel Hans das Zimmer und ließ sich nicht mehr blicken. »Wahrscheinlich ins Bett gegangen«, vermutete seine Mutter. »Genau wie sein Vater, immer gleich alles zum Wegschmeißen.«
Wir verabschiedeten uns betreten. Auf dem Heimweg machte uns Vater so fertig, dass ich zu weinen anfing. »Das hat man gern, auch noch Tränen«, rief Vater. Aber im Flur hörte ich ihn zu Mutter sagen: »Was für ein Theater wegen einer kleinen Beule.«
Es dauerte seine Zeit, bis Onkel Hans über unsere Missetat hinweg war. Aber jedes Mal, wenn wir ihn trafen, sah er Billi und mich ernst an, als wollte er sagen: Verziehen habe ich euch, aber vergessen kann ich es nicht, was ihr meinem Robert angetan habt.
Die Wildgänse begannen zu ziehen. Es wurde Winter, der See fror zu. Unbedingt mussten Billi und ich probieren, ob das Eis uns schon trug. Vom Wald führte ein schmaler Hohlweg steil ab bis zum Ufer, den wir, uns gegenseitig schubsend, hinunterliefen. Plötzlich hörten wir hinter uns Motorengeräusch und Onkel Hans schreien: »Zur Seite, Kinder! Zur Seite!« Wir drehten uns um, das Auto war bereits bedrohlich nah. Wir konnten uns gerade noch an die steile Böschung pressen, da rauschte Robert auch schon mit bösartigem Röhren an uns vorbei durchs Schilf. Nach einigen Metern bog sich das Eis unter ihm wie ein Stück vollgesogener Pappe. Er begann zu sinken.
Inzwischen hatte uns der Onkel erreicht. »Ich muss die Handbremse nicht richtig angezogen haben, als ich ausgestiegen bin, nun ist er hin!«
Robert, der Prächtige war nicht mehr zu retten. Zuerst konnte man ihn nicht herausholen, weil das Eis zu dünn war, und dann stak er so tief im Morast, dass es nicht einmal gelang, ihn mit einem Kran hochzuhieven. Das Dorf war wieder um eine Legende reicher.
Nun hörte die Jungfer Zech zur Geisterstunde nicht nur das Läuten der Glocken aus dem im See versunkenen Dorf, sondern sie sah auch Roberts Scheinwerfer aufleuchten und Blinkzeichen geben.
Diesmal, so erzählte es jedenfalls sein Kutscher, zog sich Piepenhans ganze acht Tage in sein Bett zurück. Doch das Schicksal meinte es noch einmal gut mit ihm. Die jüngste Tochter bekam einen Sohn. »Na ja, jetzt sieht er mehr wie ’ne Kaulquappe aus«, meinte der überglückliche Großvater. »Aber aus dem wird was, das sag ich als Mann. Und weißt du, wie er heißen wird?«
»Kann’s mir denken«, sagte Vater.
Jeden Morgen, wenn der Schweizer gähnend in den Kuhstall geschlendert kam, hoppelte Eduard V. quer über den Hofplatz zum Stall hinüber. Gemeinsam mit der Katze Frieda stärkte er sich unter den wohlwollenden Blicken des Schweizers aus einem Blechteller an frisch gemolkener Milch. Frieda hatte das nicht immer so großzügig geduldet. Doch seitdem Eduard zu einem stattlichen Hasen von fast 12 Pfund herangereift war, hatte sie es für klüger gefunden, sich mit ihm zu einigen.
Eduard V. war jedermanns Freund, gehörte meiner Schwester und mir, war eigentlich nur aus rein ökonomischen Erwägungen zur Welt gekommen. Unser stiller Traum war seit langem ein Fahrrad mit Gangschaltung und Dynamo. Doch unsere Sparschweine erwiesen sich als schlechte Futterverwerter. Bei jedem Geburtstag irgendeines Onkels oder einer Tante fielen sie erneut vom Fleisch.
Als fortschrittliche Landkinder schlachteten wir daher die unrentablen Schweine ab, gründeten eine Kaninchen-KG und kauften von unserem Freund Erwin zwei stattliche Hasen. Eduard und Caroline, wie wir sie tauften, erwiesen sich als sehr fruchtbar. Ihre Kinder fanden im Dorf als Feiertagsbraten guten Absatz. Nach einem Jahr hatten wir bereits, wie Vater uns vorrechnete, das Geld für je ein Vorderrad und 22 Speichen vom Hinterrad zusammen.
Leider hatte Caroline eine unangenehme Eigenschaft. Sie litt häufig unter der Zwangsvorstellung, die Ohren ihrer Kinder seien Mohrrüben oder sonst was Leckeres, was die Aufzucht der Jungen erschwerte. Auch als Eduard V. dann geboren wurde, unterlag sie dieser seltsamen Suggestion. Eifrig begann sie, sein rechtes Ohr zu benagen, Eduard, der sich gerade aus leicht verschleierten Augen in der Hasenwelt umzusehen begann, riss sich entsetzt los, zwängte sich zappelnd durch engen Maschendraht und suchte verängstigt im Nachbarkäfig bei seinem Vater und den älteren Geschwistern Schutz. Jedoch zeigten sie dem armen kleinen Eduard gegenüber nur wenig Familiensinn. Sein Vater kniff ihn sehr unangenehm ins Genick, und einige Brüder begannen ebenfalls ein fatales Interesse für seine Ohren zu zeigen. Nur im letzten Augenblick vermochten wir ihn noch zu befreien.
Seitdem zeigte Eduard eine begreifliche Abneigung gegen das Leben in der Familie. Er beschloss auszuwandern. Beim Ausmisten machte er sich still davon. Unbemerkt verschwand er im Holzschuppen.
Zweimal fingen wir ihn wieder ein. Beim dritten Mal kam er erst nach acht Tagen, von Friedas spielerischen Pfoten getrieben und ganz mit Häcksel bedeckt, unter der Dreschmaschine zum Vorschein. Vor so viel Freiheitsdrang kapitulierten wir und ließen ihn laufen.
Es fiel Eduard nicht leicht, sich in der Freiheit zurechtzufinden. In den ersten Tagen erwischte ihn fast ein Habicht auf der Koppel. Eduard floh unter einen umgestülpten Hühnertrog, und der Habicht, einer von der bequemen Sorte, griff sich stattdessen das Huhn, das Eduard durch sein plötzliches Erscheinen unter dem Trog hervorgescheucht hatte. Bevor er lernte, die Kettenlänge des Hofhundes richtig abzuschätzen, verlor er ein großes Büschel seiner schwarzen Haare, und in seiner neuen Wohnung, der roten Scheune, machten ihm die Ratten und Iltisse das Schlafen schwer. Aber allen Widerständen zum Trotz: Eduard setzte sich durch, wuchs, wurde kugelrund, und in seinem Fell konnten sich fast Friedas grüne Augen spiegeln. Er lernte das ungebundene Leben eines Junggesellen zu schätzen, wurde selbstbewusst, arrogant und sehr von sich eingenommen. Kurz: ein Mann!
Im Frühjahr, wenn der Hofhund Nacht für Nacht sein Huu-Hup zum Mond emporheulte, Friedas Verehrer sich fauchend über den Hof jagten und Nachbars Irmchen am offenen Fenster oft und gern die Waldeslust besang, begannen sich auch in Eduard gewisse zarte Empfindungen zu regen. Dann hoppelte er zu den Kaninchenställen, um ein sehnsuchtsvolles Auge auf die hübschen kleinen Hasenfräulein zu werfen. Doch der Anblick seiner durcheinander wimmelnden Verwandtschaft ließ ihn schleunigst wieder kehrtmachen und in seiner Scheune verschwinden.
Eduard muss zwei Jahre gewesen sein, als sich Tante Adele bei uns ansagte. Tante Adele war die Schriftstellerin unserer Familie. Dass ihr Talent noch im Verborgenen blühte, lag nur daran, dass ihre Geschichten zu traurig waren. Sie bekam es einfach nicht übers Herz, den düsteren Schicksalslauf ihrer Heldinnen bis zum bitteren Ende zu bringen, und so blieb der Schluss stets ungeschrieben. Für jeden halbwegs mitfühlenden Menschen war es herzbewegend anzusehen, wie sie beim Schreiben still vor sich hin seufzte und schließlich in Tränen ausbrach.
Außer dem Talent für tragische Geschichten besaß Tante Adele noch einen Hund. Ein ungeschlachtes Tier, groß wie ein Kalb und tintenschwarz, von dem sie sich nie trennte und das sie Bienchen nannte. Während sie beim Abendbrot Bienchen mit rohen Mohrrüben fütterte, erzählte sie uns, Bienchen hätte was an der Leber und dürfe nur noch vegetarisch ernährt werden. Das Vieh sah uns, die Mohrrübe lustlos im Maul, mit trostlosen Augen an und stierte auf die Aufschnittplatte, die Mutter gerade Tante Adele reichte.
Am nächsten Tag durfte er nur kurz mit uns spazieren gehen und musste, um sein Herz zu schonen, bei Tante Adele bleiben, die auf der Veranda saß und dichtete. Während sie sich auf seinem Rücken die Füße wärmte, kam Eduard an der Treppe vorbeigehoppelt. Bienchen seufzte fast so tief wie Tante Adele, erhob sich, reckte sich, sprang mit einem Satz die Treppe hinunter auf den arglosen Eduard zu und biss ihn ins Hinterteil. Glücklicherweise kamen ihm dabei so viele Haare zwischen die Zähne, dass er ihn wieder losließ. Eduard sprang fast senkrecht in die Luft und versteckte sich unter einer Blautanne. Bienchen vergaß Leber, Herz und Diät. Er begann mit Eduard »Bäumchen, Bäumchen, wechsel dich« zu spielen. Knurrend und japsend jagte er das Kaninchen von der Blautanne zum Holunderbusch, vom Holunderbusch unter die Buchsbaumhecke, bis er ihn schließlich am Hinterlauf zu fassen bekam. Eduard hatte es jetzt mächtig mit der Angst zu tun. Er begann zu fiepen und zu schreien. Wir stürzten aus dem Haus zu seiner Hilfe herbei. Aber Bienchen war so in Rage, dass selbst Tante Adele, die kräftig an seinem Schwanz zog, ihn nicht zur Vernunft zu bringen vermochte. Erst als meine Schwester, unbemerkt von Tante Adele, ihm einen fetten Kotelettknochen unter die Nase hielt, biss er sich darin fest und ließ sich wegführen. Doch Eduard brauchte lange, ehe er sich von diesem Schreck erholt hatte. Sobald sich ihm jemand näherte, verschwand er blitzschnell in seiner Scheune.
Eduard V. war eins der wenigen Tiere, denen es auf dem Hof gestattet wurde, ohne jeglichen Nutzen alt zu werden. Wahrscheinlich hätte er noch viele Generationen Karnickel überlebt, wenn Egon nicht gewesen wäre. Er war Irmchens Vetter und verbrachte seine Herbstferien bei ihren Eltern. Wir mochten den fetten Bengel ebenso wenig wie Irmchen. »Den haben se als Kind zu heiß gebadet«, pflegte sie abfällig zu sagen.
Allerdings nur wenn er nicht dabei war, denn Egon war einen Kopf größer als sie und wandte gern bei ihr den Polizeigriff an, wie er es nannte, und der war sehr schmerzhaft.
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