Benjamin, ich hab' nichts anzuziehen - Ilse Gräfin von Bredow - E-Book

Benjamin, ich hab' nichts anzuziehen E-Book

Ilse Gräfin von Bredow

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Beschreibung

Die wohlmeinendsten Geschenke der Welt sind für ein kleines Mädchen mit Modefimmel nichts gegen den ein wenig vergilbten Plüschaffen des Lieblingsonkels, der den alten Schlager «Benjamin, ich hab nichts anzuziehn» plärren kann... Ein traditionelles Weihnachtsmenü ist ja was Schönes, aber Lungenhaschee...? Monikas Gedächtnis ist nicht mehr das, was es mal war; heiter wird es jedoch, als sie an Heiligabend Söhne Wilfried und Walter nicht mehr auseinanderhalten kann...

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Seitenzahl: 130

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ilse Gräfin von Bredow

Benjamin, ich hab' nichts anzuziehen

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die wohlmeinendsten Geschenke der Welt sind für ein kleines Mädchen mit Modefimmel nichts gegen den ein wenig vergilbten Plüschaffen des Lieblingsonkels, der den alten Schlager »Benjamin, ich hab nichts anzuziehn« plärren kann... Ein traditionelles Weihnachtsmenü ist ja was Schönes, aber Lungenhaschee...? Monikas Gedächtnis ist nicht mehr das, was es mal war; heiter wird es jedoch, als sie an Heiligabend Söhne Wilfried und Walter nicht mehr auseinanderhalten kann...

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

1 Keine Chance für Lola

2 Geliebte Landplagen

3 Spaß gehabt

4 Unverhofft kommt oft

5 Welke Blätter

6 Das fünfte Rad am Wagen

7 Das Weihnachtsmenü

8 Die zündende Idee

9 Die Gartenzwerge

10 Glück im Winkel

1Keine Chance für Lola

Madeleine war ein typisches Kind der heutigen Zeit. Man konnte unmöglich Magda heißen, und die Karriere stand auch schon fest: Serienstar oder Topmodel. In beiden Berufen hatte sie sich bereits als Kleinkind bewährt. Zunächst konnten ihre Eltern sie in einem Katalog mit Strampelanzug bewundern und später in einem Werbespot, bei dem sie wieder und wieder mit anderen Kindern über eine Wiese tollte und zum Abschluss unter vielen Ahs und Ohs gierig ein Getränk in sich hineinschlürfte. Es musste ein furchtbares Gesöff gewesen sein, jedenfalls versetzte es die Kindermägen in solche Wut, dass die Mütter alle Hände voll zu tun hatten, ihre Sprösslinge zu beruhigen, die heulend im Gras herumstanden und spuckten. Im Branchenjargon kannte sie sich besser aus als in der Grammatik. Ihr Satz »Gib mich mal die Outdoor-Jacke« wurde viel belacht, und man speicherte ihn voller Rührung im Gedächtnis, um ihn gelegentlich bei Familienfeiern zum Besten zu geben. Auf die sorgfältige Zusammenstellung ihrer täglichen Garderobe verwendete Madeleine weit mehr Zeit als auf die Schularbeiten. Das endete meist mit dem Ausruf: »Ich hab nichts anzuziehn!«, was die Mutter undankbar nannte, jedoch dem Vater ein schmunzelndes »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm« entlockte. Aber auch ihm ging sein geliebter Putzaffe auf die Nerven. Eben noch hatte sie ihn in Jeans und herzig besticktem Blüschen angebettelt, mit ihr einen Spaziergang zu machen, Minuten später, als er sich widerstrebend aus seinem Stuhl erhob und nach dem Hausschlüssel griff, erblickte er neben sich eine Art Nixe im gerüschten Badeanzug und mit irgendetwas ebenso Gerüschtem auf dem Kopf, die Lippen rot angemalt und die Wimpern getuscht. Und zu allem Überfluss lispelte dieses Wesen noch durch eine Zahnlücke: »Wie seh ich aus, Papi?« Die Reaktion fiel entsprechend aus. »Dir fehlt wohl eine Latte im Zaun!«, rief der entsetzte Vater. Ihre Mundwinkel senkten sich bedenklich, und als er sich strikt weigerte, in diesem Aufzug mit ihr auf die Straße zu gehen, gab es ein lautes Gebrüll. Sein Versuch, ihren Zornesausbruch mit einem Klaps zu stoppen, schlug fehl. Dafür schloss sich ein elterliches Streitgespräch an über Sinn und Unsinn solcher pädagogischer Maßnahmen. »Ein Kind zu schlagen, das ist doch wohl das Letzte!«, empörte sich die Mutter.

»Nun mach aber mal halblang«, verteidigte sich der Vater, »ein Klaps ist kein Schlag«, und er wies den Vorwurf, er werde womöglich das Kind auch noch schütteln, wo man doch immer wieder lesen konnte, wie gefährlich so etwas für ein kleines Gehirn war, weit von sich.

Das Für und Wider solcher Strafen ging hin und her, bis ihn Madeleine am Ärmel zupfte. »Papi«, sagte sie ungeduldig, »nun komm doch endlich.« Er drehte sich zu ihr um und stellte fest, sie hatte sich zum dritten Mal auf wundersame Weise verwandelt. Sie trug jetzt einen großen Strohhut und darunter ihr giftgrünes Laura-Ashley-Kleid, ein Geschenk der Uralttante, von Vater nur der Familienrestbestand genannt, die nicht versäumt hatte, mehrfach darauf hinzuweisen, was dieser Fetzen für ein Sündengeld gekostet hatte und dass solche hohen Ausgaben für ein Kind eigentlich gegen jede gute Sitte verstießen. Madeleines Vater tat einen tiefen Seufzer. »Na, dann wollen wir mal starten.« Angeekelt betrachtete er die schwarz lackierten Nägel seiner Tochter.

Neben ihrem Modefimmel hatte Madeleine auch noch eine Vorliebe für Affen. Sie bevölkerten als kleine und große Plüschtiere das Kinderzimmer und baumelten handgroß aus ihrem Schulranzen. Es gab sie als Poster und Buchstützen, und sie schmückten T-Shirts und Schlafanzug. Der Favorit war ein Äffchen mit gelocktem Fell, das ihre Lieblingspuppe Lola aus ihrem Bett verdrängt hatte. Sogar ihre Garderobe musste die arme Lola opfern. Nackt und bloß, nur notdürftig mit ein wenig Seidenpapier zugedeckt, war sie in einen Karton verbannt worden und kümmerte auf dem Kleiderschrank dahin. Das Äffchen hieß Benjamin nach dem Gartennachbarn, der es ihr geschenkt hatte. Durch ihn, den früheren Tierwärter bei den Affen im Zoo, war ihr Interesse an diesen Tieren geweckt worden. Er hatte sie häufig in den Zoo mitgenommen und ihr viel Wissenswertes über Affen beigebracht, die seiner Meinung nach ja sowieso halbe Menschen waren. Er war Witwer, seine Frau vor vielen Jahren bei einem Bombenangriff umgekommen. Als Madeleines Eltern in ihr Haus zogen, sprang Onkel Benjamin, wie Madeleine ihn nannte, oft als Retter in der Not ein, weil er sich als sehr geschickter Handwerker erwies und dem jungen, unerfahrenen Ehepaar häufig aus der Klemme half, egal, ob es sich um einen Rohrbruch, eine kaputte Lampe oder eine plötzlich ihren Geist aufgebende Waschmaschine handelte. Dazu entpuppte er sich als ein zuverlässiger, besonnener Babysitter, vor dem Madeleine mehr Respekt hatte als vor ihren Eltern und der es ihnen ermöglichte, sich ab und an von der zukünftigen Claudia Schiffer auszuruhen und einen Abend allein zu verbringen. Doch nun war er vor einem Jahr nach einem leichten Schlaganfall in ein nahe gelegenes Altersheim übergesiedelt, wo ihn Madeleine manchmal besuchte, vor allem, wenn sie sich über dies und jenes beklagen wollte, was meist mit dem Wort »dauernd« anfing. Dauernd musste sie Schularbeiten machen, dauernd Flöte üben, dauernd ihr Zimmer aufräumen. Onkel Benjamin äußerte sich selten zu ihren Klagen, sagte höchstens beruhigend »mmhh mmhh« oder »na na« und »irgendwas ist immer«. Außerdem war da noch das Fernsehen, das ihre Eltern ihr nur gelegentlich gewährten. Onkel Benjamin war da schon großzügiger.

Madeleine hatte längst begriffen, wenn man bei den Erwachsenen etwas erreichen wollte, war es ratsam, sie auch mal zu Worte kommen zu lassen und zuzuhören, wenn sie sich ihren Erinnerungen hingaben und dabei dauernd über völlig fremde Menschen sprachen, von denen man keine Ahnung hatte, was sie eigentlich mit allem zu tun hatten. Ganz anders dagegen Onkel Benjamin. Seine Erlebnisse als Affenwärter fand sie nach wie vor spannend, obwohl sie auch diese Geschichten fast auswendig kannte. Etwa die Episode von dem Schimpansen im Kinderwagen, dessen Mutter an einer Lungenentzündung gestorben war. Onkel Benjamin hatte das Affenbaby für die ersten Wochen mit nach Haus genommen. Manchmal war er sogar mit ihm im Kinderwagen spazieren gegangen. Freundliche Spaziergänger, die einen Blick hineinwarfen und fragten: »Junge oder Mädchen?«, eilten mit dem erstickten Ausruf »Wie entsetzlich!« davon, ohne die Antwort abzuwarten. Ein andermal, als er einen der Affen durch den Tierpark führte, riss sich dieser von seiner Hand los, rannte hinter einem genüsslich an seinem Eis lutschenden Jungen her, und ruck, zuck war die Eiswaffel weg. »Das Geschrei hättest du hören sollen«, sagte Onkel Benjamin dann jedes Mal, und Madeleine sagte verträumt: »Erzähl weiter.«

Noch kurz vor seinem Schlaganfall waren sie regelmäßig zu den Fütterungen gegangen, und er hatte sie oft ermahnt, nicht so herumzuzappeln. Aber Madeleine war nun mal ein quirliges Kind, bestärkt durch ihre Eltern, die anscheinend der Meinung waren, man müsse unbedingt auch das Sinnloseste mit Sinn erfüllen und keine Minute dieses Lebens ungenutzt verstreichen lassen. Ständig kam ihnen die Zeit abhanden, und Madeleines Mutter stöhnte: »Kind, mach zu, beeil dich! Wir haben schon so viel Zeit verloren durch dein Herumtrödeln.« Onkel Benjamin hingegen war ein ruhender Pol. Bei ihm gab es noch die Dämmerstunde, diese Licht sparende Sitte früherer Generationen, in der man zusammensaß, sich was erzählte oder einfach nur seinen Gedanken nachhing. Bei ihm hatte sie sich abgewöhnt, dauernd zu fragen: »Und was machen wir jetzt?«

Der regelmäßige Besuch eines kleinen Mädchens im Heim erregte allgemeine Aufmerksamkeit, zumal es sich jedes Mal in einer anderen Kleidung und in einer anderen Rolle präsentierte. Mal marschierte es keck in Jeans, eine Baseballmütze schwingend, die spiegelnden Flure entlang und winkte durch die offenen Türen den Bettlägerigen und den Alten in den Sitzecken zu, mal schritt es in feierlicher Pose in einer Art griechischem Gewand hoheitsvoll vorbei oder schlurfte mit hängenden Schultern, den Kopf gebeugt, dahin. Die Versuche der Alten, Madeleine mit Schokolade anzulocken, wurden von Onkel Benjamin sofort im Keim erstickt. Eifersüchtig wachte er darüber, dass ihm niemand dieses Kind wegnahm. Er erwartete sie deshalb, auf seinen Stock gestützt, bereits vor der Tür seines Zimmers und zog sie hastig hinein. Ihr Besuch begann jedes Mal damit, dass sie sich über die Schwester am Empfang beklagte, die sie durch ihre dicken Brillengläser misstrauisch musterte und brummte: »Wie siehst du denn heute wieder aus?«

Benjamin lachte. »Das ist Schwester Lisa, eine gute Seele. Im Grunde mag sie Kinder.«

»Mich bestimmt nicht«, sagte Madeleine. Sie sah ihm zu, wie er in seinem Schrank herumkramte, aus dem es stark nach Kampfer roch.

»Hier sind sie ja.« Er holte eine Blechdose hervor und stellte sie auf den Tisch. »Deine Lieblingskekse.« Madeleine war ein höfliches Kind und behielt für sich, dass diese nach Kampfer schmeckenden Kekse nicht gerade nach ihrem Geschmack waren.

In letzter Zeit verlief die Unterhaltung der beiden sehr einseitig. Onkel Benjamin sprach nur wenig und schlief immer häufiger mitten im Satz ein. Kein Grund für Madeleine, sich zu langweilen. Sie stellte den Fernseher an und zappte sich, von Onkel Benjamins sanftem Schnarchen begleitet, durch die ihr zu Hause nicht vergönnten Nachmittagsserien.

Wie alle Eltern stellten auch Madeleines Eltern dieses weit leuchtende Licht von Tochter nicht unter den Scheffel. Ihre liebevolle Betreuung eines alten, kranken Mannes konnte nicht oft genug erwähnt werden, was die zuhörenden Mütter dazu brachte, ebenfalls Wunderdinge über das soziale Verhalten ihrer Brut zu berichten. Ein Kind namens Susanne hatte sich hingesetzt und einen Leserbrief an die Zeitung geschrieben, worin sie in bewegenden Worten die wachsende Brutalität auf dieser Welt beklagte. Der Brief, von der um Leserwirksamkeit bemühten Redaktion tatsächlich veröffentlicht, steckte nun, säuberlich ausgeschnitten, im Portemonnaie der Mutter. Ein anderes Mädchen hatte seiner kranken Großmutter eigenhändig einen Kuchen gebacken. Die Mutter musste lediglich die Zutaten bereitstellen, sie zu einem Teig zusammenrühren, den Backofen anstellen und die Form im Auge behalten. Die Schokoladenplätzchen, die den Kuchen zierten, hatte das Kind ganz allein hineingedrückt. Über Madeleines Anhänglichkeit an den alten Mann war man allerdings geteilter Meinung. Natürlich war es lobenswert, wenn Kinder sich um alte Menschen kümmerten. Andererseits war bei alten Männern aber auch eine gewisse Vorsicht geboten. Man las doch darüber oft sehr Unerfreuliches. Da konnten Madeleines Eltern nur lächeln. Ausgerechnet Onkel Benjamin, diese Seele von einem Menschen, zu verdächtigen, womöglich ein Lustmolch zu sein! Wirklich, geradezu absurd. Trotzdem blieb diese Bemerkung nicht ohne Wirkung. Sie brachte sie dazu, Madeleine ein bisschen auszuhorchen. »Nun erzähl doch mal, was ihr so alles treibt.«

Was sie zu hören bekamen, war sehr beruhigend. Benjamin und Madeleine hatten im Garten gesessen, einer Bettlägerigen hatte sie zwischendurch die Zeitung vorgelesen, mit einer Pflegerin geplaudert und dem Onkel beim Aufräumen geholfen. »Kein Fernsehen?«, fragte die Mutter skeptisch. »Mami!«, rief Madeleine empört, so, als hätte man ihr unterstellt, sie sei zu einem fremden Mann ins Auto gestiegen. Madeleines Mutter reagierte gelassen. »Ich frag ja nur«, sagte sie, noch das vor ein paar Tagen erlauschte Gespräch zwischen dem Plüschaffen und ihrer Tochter im Ohr: »Werfen Sie die Waffen weg, und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus«, und eine halbe Stunde später: »Küss mich, küss mich, ich habe Schmetterlinge im Bauch«, Sätze, die sie kaum im Elternhaus gehört haben konnte.

Wie sehr sie jedoch wirklich an dem Onkel hing, zeigte sich an einem Aufsatz über das Thema »Meine Lieblingstante oder mein Lieblingsonkel«, in dem sie ein Porträt von ihm ablieferte, das der Klassenlehrer beeindruckt »anrührend« nannte und das ihr eine Eins einbrachte, was ihren Eltern wieder einmal bestätigte, dass ihre Tochter trotz ihres gelegentlichen Affengetues ein großes Herz hatte. Und so ertrugen sie von nun an auch mit einem gewissen Gleichmut, dass sie jedes Mal, wenn sie von dem schon ziemlich tauben Benjamin zurückkehrte, mit Trompetenstimme sprach und es eine Weile dauerte, bis sie wieder zur Zimmerlautstärke zurückfand.

Die Adventszeit nahte, und wie immer gab es für die meisten Mütter viel zu tun. Plätzchen mussten gebacken werden, ein Adventskranz war zu besorgen, Besuche auf dem Weihnachtsmarkt wurden obligatorisch, Kinderstiefel mussten auf Hochglanz gebracht werden, damit der Nikolaus sie nicht naserümpfend übersah. Auf dem Wochenmarkt erstand Madeleine einen klitzekleinen Adventskranz für Onkel Benjamin, der ihr besonders ins Auge gestochen hatte, weil er mit etwas Buntem, Perligem besprüht war.

Wegen einer starken Erkältung war sie länger nicht bei ihm gewesen. Umso mehr freute sie sich auf sein überraschtes Gesicht, wenn sie ihm den Kranz auf den Tisch stellen und die Kerzen anzünden würde. Ihre Vorfreude war allerdings mit Wut darüber gemischt, dass ihr die Lehrerin selbst die kleinste Rolle im Krippenspiel verweigert hatte. Mit der Lehrerin im Geiste hadernd, hüpfte sie an der Rezeption vorbei und erschrak heftig, als die Schwester plötzlich herausgeschossen kam und sie am Arm festhielt.

»Ich hab nichts getan!«, rief Madeleine.

»Getan?« Die Schwester wirkte irritiert. »Wieso getan? Ich muss über ganz was anderes mit dir reden.« Sie tippte mit dem Finger ganz vorsichtig auf den Adventskranz. »Wie hübsch. Den hast du sicher selbst ausgesucht. Aber dein Onkel kann sich nicht mehr darüber freuen. Dein Onkel hat uns ganz plötzlich verlassen.«

»Wo ist er denn hin?« Madeleine sah sie verwirrt an.

»Für immer eingeschlafen«, sagte die Schwester. »Herzstillstand.«

»Er ist tot?«, fragte Madeleine ungläubig.

Die Schwester nickte und zog Madeleine tröstend an sich. »Er war halt schon sehr alt, dein Onkel Benjamin.« Sie griff unter den Tresen und drückte ihr ein Päckchen in die Hand. »Das hab ich in seinem Nachttisch gefunden, mit deinem Namen drauf. Und nun gehst du besser nach Hause. Und nicht vor Weihnachten öffnen, steht extra drauf!«, rief sie ihr nach. Madeleine nickte. Das Päckchen unter dem Arm, trottete sie mit gesenktem Kopf davon.

Zu Haus waren die Eltern wie meist ausgeflogen. Ihre Mutter war in einem Kurs über Bewusstsein durch Bewegung, ihr Vater in einem Seminar für Führungskräfte. Madeleine ging in ihr Zimmer, holte ihr Äffchen Benjamin aus dem Bett, setzte sich in ihren Schaukelstuhl und sah aus dem Fenster in das langsam verlöschende winterliche Abendrot, über dem eine einzelne plustrige Wolke segelte. So blieb sie sitzen, bis es dunkel war und nur noch die Straßenlaternen das Zimmer schwach erhellten.

Natürlich werde man zur Beerdigung gehen, darüber waren sich die Eltern völlig einig. So ein netter, hilfsbereiter Nachbar, das war einfach selbstverständlich. Am Beerdigungstag hatte allerdings der Vater dann doch einige Einwände. In der Firma war jetzt gerade in der Vorweihnachtszeit unheimlich viel zu tun. »Wenn ihr beide hingeht, genügt das doch«, sagte er zu seiner Frau und handelte sich damit einen langen Vortrag über männliche Egozentrik ein. Madeleine bekam von dieser Diskussion nichts mit. Sie war in ihrem Zimmer ganz damit beschäftigt, den Affen Benjamin in ein schwarzes Taftband zu wickeln. Zufrieden betrachtete sie ihn zum Schluss in seiner Trauerkleidung. »Gut siehst du aus«, sagte sie. Der Affe schien ihre Meinung nicht zu teilen. Hilfe suchend streckte er beide Arme nach oben. »Stell dich nicht an.« Madeleine drehte sie herunter.

Großen Andrang gab es bei der Beerdigung nicht. Fünf Trauernde folgten dem Sarg auf den Friedhof. Als Madeleine vor dem offenen Grab stand, griff sie nach Benjamin, der entsetzt versuchte, sich an einem Mantelknopf festzuhalten. Aber es nützte ihm nichts. Mit Schwung landete er auf dem Sarg.



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