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Herzerfrischend normal geht's zu in der Familie von Trebnitz mit ihren vier Kindern, die ein romantisches altes Haus im Herzen einer Vorstadtsiedlung bewohnt: Im Mittelpunkt steht die hellwache zwölfjährige Charlotte, die selbstbewusst und liebevoll alles registriert, was in ihrer Familie und der Umgebung passiert. Ein echtes ›Kartoffeln mit Stippe‹ von heute.
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2018
Ilse Gräfin von Bredow
Geschichten aus ganz normalen Kreisen
Herzerfrischend normal geht's zu in der Familie von Trebnitz mit ihren vier Kindern, die ein romantisches altes Haus im Herzen einer Vorstadtsiedlung bewohnt: Im Mittelpunkt steht die hellwache zwölfjährige Charlotte, die selbstbewusst und liebevoll alles registriert, was in ihrer Familie und der Umgebung passiert.
Ein echtes ›Kartoffeln mit Stippe‹ von heute.
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Widmung
Widmung
1. Die Entdeckung
2. Die Chinesin
3. Die Grafenbank
4. Die blaue Grotte
5. Der Findling
6. Beerdigung erster Klasse
7. Der prominente Nachbar
8. Das Fotomodell
9. Stell auf den Tisch die duftenden Reseden …
10. Liebe kommt, Liebe geht
11. Der Vogel Greif
12. Das Mercedeskind
13. Maria
14. Der schöne Willi
15. Der Bushwalker
16. Gib her den Speer
17. Ich sehe was, was du nicht siehst
18. Das Tigerbaby
Für Eberhard und Jannet Fechner
«Seht mal, Kinder, da ist Oskar wieder», sagt Papi. Oskar ist ein Eichhörnchen. Eines Tages hat es sich in unserem Garten eingefunden.
Es ist Sonnabend nachmittag und eine Affenhitze. Wir sind im Garten unter dem Ahornbaum versammelt und trinken Kaffee. Ich liege auf dem Rasen und sehe zu, wie meine Schwestern, Andrea und Anna-Sofie, sich um das letzte Stück Obsttorte zanken. Ich hab mir vorsichtshalber gleich zwei Stück genommen. In dieser Familie muß man auf Draht sein, sonst hängt man schnell im Minus. Omi, die gerade zu Besuch ist, grübelt vor sich hin. Hat sie ihre Herztabletten nun genommen oder nicht? Mein kleiner Bruder Ferdinand kippt sich eine Ladung Kakao über die Hose. Im Nachbargarten haben sie das Radio voll aufgedreht und sind beim Grillen. Es riecht nach Bratfett und verbrannten Würstchen. Mutti schnuppert mißbilligend: «Ein Gestank, nicht zum Aushalten!»
«Aus deutschen Ställen frisch auf den Tisch!» Papi räkelt sich zufrieden im Schatten und beobachtet das Eichhörnchen. Es ist gerade dabei, an einem schmalen Eisenstab hochzuklettern, den Papi in den Rasen gesteckt hat. An der Spitze hängt ein kleines grünes Netz mit einer Futterkugel. Die Meisen sind vor Oskar in den Jasmin geflüchtet, stecken ihre Köpfe zusammen und schimpfen fürchterlich. «Bin gespannt, ob er das Netz wieder durchbeißt», sagt Papi. Im Sommer hängt er die Futterkugel nur noch für das Eichhörnchen auf, damit wir bewundern können, wie Oskar es fertigbringt, sich auf dem wackeligen Stab festzuhalten.
Der Qualm aus dem Nachbargarten nebelt uns inzwischen total ein. Mutti beginnt zu husten: «Einfach widerlich!»
«Der Wind steht heute eben etwas ungünstig», verteidigt Papi die Nachbarn. «Kein Grund, deswegen an unserem kleinen Reich herumzumäkeln.»
Omi hat sich endlich dazu durchgerungen, ihre Tabletten zu schlucken. «Ich meine …» Aber sie kriegt mal wieder keine Chance, bei Mutti einen Satz zu Ende zu bringen. Die hat nämlich mit einem Aufschrei Ferdinands bekleckerte Hose entdeckt.
«Junge!»
Papi fährt erschreckt zusammen. «Kein Theater wegen so einer dämlichen Hose, bitte, dann mußt du ihm eben einen Plastikanzug kaufen.»
«Und dir auch.» Mutti deutet auf einen Kaffeespritzer auf Papis Hemd.
«Sei friedlich und laß uns den herrlichen Sommertag genießen.» Er reibt mit dem Taschentuch auf dem Fleck herum.
Mutti sieht ihn spöttisch an. «Dein kleines Reich! Ehrlich gesagt, könnte ich mir eine schönere Wohngegend vorstellen als diese Schrebergartenidylle. Jedes Fitzelchen Boden ist hier gegen den Nachbarn abgegrenzt und alles wie mit dem Lineal gezogen. In den meisten Gärten stehen nur Tannen aus lauter Angst vor dem Laub. Und dann der ganze Schnickschnack von bunten Glühbirnen über den Gartenpforten und Windmühlen und Gartenzwerge auf dem Rasen. Außerdem sieht hier doch jeder dem andern in den Kochtopf!»
Papi sieht träumerisch vor sich hin. «Ich hätt’ so gern einen mit Schubkarren.»
«Was hat das damit zu tun?» Mutti gibt Andrea das leere Milchkännchen: «Lauf mal rüber zu Frau Fröhlich, ob sie uns mit Kaffeesahne aushelfen kann.»
Andrea stößt Anna-Sofie mit der Schuhspitze: «Los, schwing die Hufe!»
Papi sieht Mutti vorwurfsvoll an. «Dir kann man es auch nie recht machen. Vor fünfzehn Jahren warst du glücklich, aus der Einzimmerwohnung herauszukommen.» Er starrt enttäuscht auf die leere Kuchenplatte. «Hier war doch eben noch ein Stück.»
Mutti hat sich schon wieder abgeregt. «Mir gefällt’s ja auch ganz gut. Aber mußtest du deswegen bei der Party gestern abend deinem neuen Vorgesetzten einen solchen Bären aufbinden?»
«Was für ’n Bären?» Papi grinst ein bißchen.
«Na, er dachte doch, wir leben auf dem Lande, und wollte von mir wissen, in welchem Ort unser Bauernhaus liegt. Der gute Mann war ganz irritiert, daß wir in dieser verrotteten Villa in einer Schrebergartenkolonie wohnen.»
«Hab ich vielleicht was Falsches gesagt?» Papi läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. «Ist es bei uns nicht wie auf dem Dorf?»
Papi hat recht. Natur gibt’s hier ’ne Menge. Wildenten spazieren durch die Gegend, Karnickel flitzen über den Rasen, Igel machen es sich in den Komposthaufen bequem. Im Sommer riecht es überall nach Heu wie von frisch gemähten Wiesen, und ein dichter Ring von Bäumen hält den Verkehrslärm ab.
Papi hat uns erzählt, daß es hier nach dem Krieg nur Schutt und Asche gab. In der Schule haben sie uns Bilder von 1945 gezeigt. Nur Trümmer und der Park, auf dem die Siedlung entstanden ist, total abgeholzt. Auf den kahlen Flächen haben sich die Menschen Gemüsebeete angelegt und Kartoffeln gepflanzt und sich Notunterkünfte gebaut. Mitte der sechziger Jahre hat die Stadt die Parzellen an Kleingärtner verkauft und ihnen das Geld fürs Bauen vorgestreckt. Danach sind lauter winzige Flachdachhäuschen wie Pilze aus der Erde geschossen.
Hinter der Siedlung gehen die Schrebergärten weiter. Nur wohnt dort keiner mehr. Man hat den Kleingärtnern gekündigt, anstatt ihnen wie bei uns die Parzellen zum Bauen zu überlassen. Es wurde auch damit angefangen, die Lauben niederzureißen. Aber sehr weit ist man noch nicht gekommen. Die Bagger sind wieder abgezogen worden, und es herrscht totale Ruhe.
«Gott sei Dank», sagt Papi. «Daß sie uns Hochhäuser direkt vor die Nase setzen, fehlte gerade noch!»
Auf dem Vormarsch sind sie nämlich mächtig. Sie haben uns schon im Halbkreis umzingelt. Eins von diesen Ungeheuern, ein Trumm von zwanzig Stockwerken, mit klobigen Seitenflügeln, ist bereits ausgeschert und bedrohlich nahe gerückt. Nachts funkelt es unheimlich zu uns herüber.
«Ein richtiger Vogel Greif, im wahrsten Sinne des Wortes», sagt Papi.
Für uns sind die verlassenen Gärten ein fabelhafter Spielplatz. Ein Urwald, in dem alles durcheinander wächst und miteinander verfilzt ist. Es gibt knorrige Apfelbäume mit verschrumpelten kleinen Äpfeln, Himbeer-, Johannisbeer- und Stachelbeersträucher zwischen hohen Brennesseln und dichtem Gras und jede Menge Holunderbüsche. Fehlt nur Tarzan, der durch die Zweige hüpft und seine urigen Schreie ausstößt.
Die Beeren müssen wir für Mutti sammeln, wenn uns die Stare noch welche übriglassen. Sie kocht davon literweise Saft, der dann im Keller vergammelt, weil er niemandem schmeckt, obwohl sie ihn bei jeder Gelegenheit als einzig wahre Medizin anpreist.
Wir bauen uns Höhlen, verstecken uns in den zusammengekrachten Lauben, legen uns ins Gras, bekucken die Wolken und den Zeppelin, der mit einem Reklameband am Himmel steht, und beobachten die Karnickel, wie sie ihre Jungen am Genick aus dem Bau schleppen und in die Sonne legen.
Natürlich liegt auch viel Müll rum: Kinderwagen ohne Räder, verrostete Fahrradgestelle und kaputte Reifen, einzelne Schuhe und leere Zigarettenschachteln. Aber wir haben auch schon die tollsten Sachen entdeckt, vor allem Hänschen Naumann, der ist groß im Finden. Einmal lag tatsächlich ein nagelneuer Fotoapparat im Gebüsch. Und sein Opa mußte ihn erst ein bißchen im Genick schütteln, damit Hänschen einsah, daß so was ins Fundbüro gehört.
Aber gruseln kann man sich auch ganz schön. So schoß meine Schwester Anna-Sofie mal wie der geölte Blitz aus einem Busch. «Eine Leiche! Eine Leiche!»
Wir flitzten natürlich hin. Aus dem Gestrüpp ragten zwei regungslose Füße. Aber Hänschen Naumann tippte sich nur an die Stirn. «Hast du ’n Schatten oder was? Das ist doch der besoffene Penner von der U-Bahn. Den erkenne ich an seinen Socken.»
Dann erschreckte uns ein wildernder Schäferhund. Erst war er hinter den Karnickeln, danach hinter uns her. Er war drauf und dran, meine Schwester anzufallen. Aber vor Tieren hat die ja keine Angst. Nicht die Bohne. Die würde glatt ’ne giftige Schlange streicheln. Sie ist also ganz cool geblieben und hat beruhigend auf ihn eingeredet, bis er nur noch sein Bein an einem Benzinkanister gehoben und sich dann verdrückt hat.
Zu Hause haben wir lieber nichts erzählt. Mutti hätte sofort eine Krise bekommen und uns verboten, dort zu spielen. Sehr gern sieht sie es sowieso nicht.
Hänschen Naumann ist hinter dem Gartenzaun aufgetaucht und winkt wie wild. «Komm mal rüber, Charlotte!» schreit er. «Ich hab was im Teich gefunden!»
Mutti runzelt schon die Stirn. «Müßt ihr euch ewig da rumtreiben? Du bist doch allmählich auch zu alt dazu, Charlotte.»
«Da ist sie wenigstens an der frischen Luft und sitzt nicht vor dem Fernseher.» Papi blinzelt mich an. «Ich will mir auch mal die Beine vertreten. Ich komme mit.»
Hänschen ist ganz aufgeregt. «Es ist bestimmt die Geldbombe vom Überfall auf die Sparkasse im Winter, nach der die Bullen immer noch suchen.»
«Und die soll da in dem Tümpel stecken?» Papi kann’s nicht glauben.
«Der ist doch dieses Jahr ganz ausgetrocknet. Durch die Hitze.»
Der kleine Teich besteht sowieso mehr aus hohem Schilfgras als aus Wasser. Aber in manchen Jahren gibt’s da sogar Fische. Keiner weiß, woher die kommen. Und ein einsamer Frosch quakt durch die Gegend.
«Dann sehen wir uns deinen Fund mal an. Also, auf zu euerm Feuchtbiotop!»
Wir ziehen los, zwischen den Gärten durch, wo die Rasensprenger kreisen und uns die Nachbarn grüßen. «Na, Herr von Trebnitz, wo wollen Sie denn hin bei der Hitze?»
Dann haben wir «Serengeti» erreicht, wie wir die verlassenen Gärten nennen. Trockenes Gras raschelt unter unseren Füßen. Papi stampft wie ein Elefant durch die Savanne; wir hüpfen neben ihm her. Fast tritt er auf ein Liebespaar; das richtet sich empört auf.
«Oh, Verzeihung.»
«Alter Trottel!»
Kleine Staubwolken kreiseln, Mücken tanzen über einem kaputten Plastikeimer. Der Teich ist nicht mal mehr schlammig – er ist knochentrocken.
«Wo ist denn nu die Bombe?» frage ich enttäuscht.
«Na, da!» Hänschen deutet auf einen winzigen Punkt, den man in der flimmernden Hitze kaum ausmachen kann. Wir gehen hin. Und tatsächlich: Irgendwas Metallenes kuckt da aus dem Boden raus.
«Scheint ziemlich groß zu sein.» Papi besieht sich das Ding von allen Seiten, kratzt Erde weg und streicht sich nachdenklich übers Kinn.
«Soll ich ’n Spaten holen?» fragt Hänschen aufgeregt. «Wollen wir’s rausbuddeln?»
«Nee, das laß mal lieber bleiben, mein Junge.» Papi scheucht uns auf einmal weg. «Los, los! Ab nach Hause! Wir müssen das der Polizei melden.»
Eine halbe Stunde später wimmelt es von Streifenwagen und Polizei in der Siedlung. Nachbarn hängen sich über den Gartenzaun. «Hinter wem die wohl her sein mögen?»
Ein Lautsprecher verkündet, die Häuser müßten sofort geräumt werden; man hätte eine Bombe aus dem Krieg gefunden.
«Eine Bombe? Wo gibt’s denn so was!»
«Beeilen Sie sich!» mahnt der Lautsprecher. «Und öffnen Sie die Fenster.»
«Damit die uns inzwischen alles klauen!» empört sich Frau Fröhlich. «Meine Wäsche hab ich auch noch auf der Leine.»
«Das hat mir gerade noch gefehlt», sagt Mutti.
«Vergiß nicht, die Waschmaschine abzustellen», mahnt Papi.
Anna-Sofie will unbedingt das Zwergkaninchen und ihr Meerschweinchen mitnehmen. Ferdinand mault, weil er nicht die «Sesamstraße» sehen kann. Papi muß erst ein Machtwort sprechen. Omi sucht nach ihrer Brille, ohne Brille ist sie nur ein halber Mensch, sagt sie.
«Macht zu! Macht zu!» drängt Papi.
In unserer Schule trifft sich die ganze Siedlung. Frau Reimer vom Kiosk in der U-Bahn sitzt neben uns und redet wie immer von früher. Mit durchdringender Stimme erzählt sie uns, wie es damals Bomben regnete. Das war auch so ein heißer Sommer gewesen. Jede Nacht in den Keller. Drei Tage war sie verschüttet. Das rostige Wasser aus der Heizung mußten sie trinken, um ihren Durst zu löschen. Und draußen ein Flammenmeer! Ein Inferno! Die Bäume im Park brennende Fackeln. Zu Tausenden wären die dort in den Unterständen erstickt. Auf einem Balken hätte ein Papagei gesessen und dauernd gekrächzt: «Nur geringer Sachschaden! Nur geringer Sachschaden!»
«Tatsächlich?» fragt Mutti ungläubig.
«So wahr ich hier sitze», beteuert Frau Reimer und steckt meinem kleinen Bruder Ferdinand ein Smartie nach dem anderen in den Mund. «Die Straßen voller verkohlter Leichen und erst die vielen Toten unter den Trümmern. Ein riesiger Friedhof, die Stadt! Und da wohnen wir nu drauf!»
Ich klammere mich an Hänschens Arm. Der schüttelt mich ab. «Jetzt mach dir mal nicht gleich ins Hemd.» Pfeifend verläßt er die Turnhalle.
Plötzlich gibt es einen wahnsinnigen Knall, daß die Scheiben zittern. Wir schreien auf: «O Gott, jetzt ist die Bombe explodiert!» Aber es war nur ein Böllerschuß. Hänschen hat ihn im Klo gezündet, um uns etwas aufzumischen, wie er grinsend verrät, als er zu uns zurückkommt. Sein Opa fackelt nicht lange. Er schüttelt ihn kräftig und schimpft: «Dich hätt’ ich in meiner Jungvolkschar haben sollen! Dreimal über die Kletterwand, und dann stillgestanden und nichts gerührt als die Augen im Kopf.» Er verpaßt ihm eine kräftige Backpfeife und gleich noch eine zweite. «Damit du nicht schief wirst.»
Doch da ist der Spuk auch schon vorbei. Ein Polizist erscheint in der Tür. «Die Bombe ist entschärft.»
«Ein Loblied auf den Sprengmeister», sagt Omi.
Wir kehren in die Häuser zurück. In unserem Garten regen sich die Meisen noch immer über Oskar auf, der es nicht geschafft hat, das Netz durchzunagen, und den Eisenstab rauf und runter rutscht.
Nichts hat sich verändert. Alles hat sich verändert. Ob auch unter unserem Rasen Tote liegen? Und wir trampeln drauf rum?
«Kann man heute noch mit Abendbrot rechnen?» fragt Papi.
Unser Haus gehört zu den wenigen, die in dieser Gegend den Krieg bis auf ein paar Kratzer überlebt haben. Es steht am Rande eines ehemaligen Parks. Der Schock von damals scheint ihm heute noch in den Knochen zu sitzen. Wenn ein Flugzeug darüber-donnert, zittert es vom Keller bis zum Dachboden.
«Irgendwas stimmt mit den Grundmauern nicht«, behauptet Mutti.
Papi hatte schon ein Auge auf diesen ollen Schuppen geworfen, als es hier nur Gärten mit Lauben gab. So wohnte auch unsere Nachbarin Frau Kulack Anfang der sechziger Jahre, als sie Papi kennenlernte, noch bei ihrer Schwester und war nur an den Wochenenden in ihrem Gärtchen zugange. Sie hatte damals einen Obst- und Gemüsestand auf dem Wochenmarkt. Ihr ist Papi aufgefallen, wie er nach Marktschluß die Abfälle der Gemüsehändler nach Genießbarem durchsuchte.
Andrea schüttelt sich, als Papi davon erzählt. »Also wirklich, Papi!«
Das ärgert ihn. »Wir waren eben noch nicht so verwöhnt wie ihr.«
»Wie sich die Zeiten ändern», sagt Mutti. «Wer mäkelt denn jetzt dauernd am Essen rum?»
«Aber hör mal, Edith, der Wechsel von Tante Anni, den ich fürs Studium bekam, war ja nun wirklich mehr als knapp. Er reichte gerade für ein möbliertes Zimmer mit Ofenheizung und Etagenklo.»
«Du willst nur wieder bedauert werden. Schließlich gab’s im Gegensatz zu heute ’ne Menge guter Jobs. Wie hieß eigentlich diese etwas merkwürdige Dame, der du den Umzug machtest? Da hast du doch so viel verdient, daß du davon unsere Verlobungsringe kaufen konntest.»
«Um mal wieder auf Frau Kulack zurückzukommen …» sagt Papi. Als die ihn da so in den Abfällen herumstochern sah, hat sie gleich an ihre beiden gefallenen Jungens denken müssen. Sie hat Papi angesprochen und dann ein bißchen unter ihre Fittiche genommen. Im Sommer durfte er in ihrer Laube hausen, und Papi hat ihr dafür die Buchführung gemacht. Noch heute trauert er diesen Zeiten nach.
«Vor allem der Laube», sagt Mutti.
«Ach ja», seufzt Papi. «Rundrum nur Natur und dann diese himmlische Ruhe!»
«Den Krach, den du da mit deinen Kumpels gemacht hast, konnte man bis zur Straßenbahn hören», sagt Mutti.
«Tatsächlich? Jetzt wird mir auch klar, warum du so oft ganz überraschend bei mir aufgekreuzt bist. Du wolltest mich kontrollieren, ob ich fleißig lerne und nicht vom Pfad der Tugend abweiche. Warum mußte ich mich auch ausgerechnet in so einen Moralapostel wie dich verlieben? Aber schuld daran ist nur Tante Anni. Die wollte unbedingt, daß ich dich kennenlerne, weil sie mit deiner Großmutter im gleichen Internat gewesen ist und viel auf dem Gut deiner Großeltern in Schlesien war.»
«Adel zu Adel.» Andrea grinst.
Mutti ist beleidigt. «Warum bist du dann dauernd bei mir aufgetaucht? Ich hatte dich nicht darum gebeten.»
«Deine Wirtin hatte schon einen Fernseher», sagt Papi, «und war wie ich ein Fußballfan.» Papi kommt mal wieder so richtig in Fahrt mit seinen Geschichten. «Als ich eure Mutter zum erstenmal sah – das muß so 63 gewesen sein – mit einem Rock bis zu den Waden und einem ausgeleierten Pullover, hab ich gedacht, die zieht sich auch nur an, um ihre Blößen zu bedecken und sich vor Kälte zu schützen.»
Mutti schnappt jetzt richtig ein. «Teure Sachen konnte ich mir eben nicht leisten. Omi hatte sowieso Mühe mit ihrer kleinen Rente als Kriegerwitwe, mir die Ausbildung zur Krankengymnastin zu ermöglichen.»
Papi lacht und legt den Arm um sie: «Wer will denn jetzt bedauert werden? Dafür bist du ja auch später um so flotter geworden, liebe Edith, und hast die arme Tante Anni mit deinen Hot pants furchtbar erschreckt.»
Nach dem Jurastudium kam dann über Papi ganz unerwartet das große Geld. Er erbte nämlich von einer Tante einen schönen Batzen. «Und da geht er hin und kauft diese Bruchbude hier!» Noch heute kann Mutti nur den Kopf darüber schütteln.
«Viel Zeit blieb mir ja nicht», verteidigt sich Papi. «Andrea war bereits unterwegs, und Haus und Grundstück waren sehr preiswert.»
«Nicht preiswert genug für so viel Scheußlichkeit.»
«Immerhin hat es mal einer Chinesin gehört – aus kaiserlichem Geblüt, wie ihr wißt.»
«Ach, Papi», sagt Andrea.
Das Haus sieht wirklich ziemlich ulkig aus. Wie eine Pagode, findet Mutti. Inzwischen hat Papi soviel an-, um- und ausgebaut, daß es immer mehr Ähnlichkeit mit Anna-Sofies selbstgebastelten Nähkästchen kriegt. Sie klebt sie aus leeren Streichholzschachteln zusammen und verschenkt sie mit Vorliebe zu Weihnachten.
Das Haus ist nicht sehr groß, innen total verwinkelt und hat mehr Ecken als Zimmer. Überall gibt es Stufen und Treppchen, über die man stolpert – besonders im Dunkeln.
«Denkt daran, daß wir Energie sparen müssen», mahnt Papi, wenn wir uns beklagen, daß er nur 25-Watt-Birnen im Flur duldet. Und Mutti, die gerade mal wieder der Länge nach hingefallen ist, reibt sich das Schienbein und murmelt: «Ja, ja, du großer Architekt. Aber sieh dich vor! Die Scheidungswelle rollt.»
Unser schmaler Garten mit dem großen Ahornbaum liegt direkt an einem Wanderweg, der durch die Siedlung führt. Daher bleiben die Spaziergänger oft staunend vor unserem Haus stehen und rätseln herum, was für ein Stil es wohl sein könnte. Jugendstil? Neubau? Gründerjahre? Papi, der gern im Garten wühlt, mischt sich dann in die Unterhaltung und ruft über den Zaun: «Gründerjahre! Hier habe ich meine Familie gegründet.» Wir schämen uns über ihn. Die Leute gehen schnell weiter und murmeln sich zu: «Auf jeden Fall ist es ziemlich scheußlich.»
Ich find’s große Klasse. So ein gewöhnliches Haus kann jeder haben. Als ich noch kleiner war, hat mir Papi ganz tolle Sachen über die Chinesin erzählt. Als Kind soll sie noch in China gelebt haben, in einem richtigen Palast mit eigenen Dienerinnen. Die brachten ihr das Frühstück ans Bett und mußten sie in einer Sänfte zum Baden an den Fluß tragen. Andrea, meine älteste Schwester, hat das furchtbar angeödet. «Erzähl mir doch keine Märchen von dieser blöden Chinesin!» Sie hat Papi was ins Ohr geflüstert, und der seufzte tief: «Was habe ich nur für ’ne nüchterne Tochter. Du kommst eben ganz nach deiner Mutter.»
Doch ich konnte gar nicht genug darüber hören. Es waren meine liebsten Gutenachtgeschichten. Papi mußte sie mir wieder und wieder erzählen. Vor allem die Sache mit dem Tigerbaby fand ich unheimlich stark.
Die Mutter der Chinesin war nämlich ganz plötzlich gelähmt und konnte nicht mehr laufen. Keinen einzigen Schritt. Niemand von den Ärzten konnte ihr helfen. Da hat man dann so einen Typ geholt, so einen weisen Mann. Der hat sie gründlich untersucht, den Kopf gewiegt und gesagt: «Da hilft nur eins: Sie muß ein Tigerbaby mit Haut und Haaren essen.»
«Aber wie komme ich zu einem Tigerbaby?» fragte ihr Vater.
«Du mußt zu einem Jäger gehen. Der wird dir helfen.»
Der Jäger kratzte sich nachdenklich am Kopf. «Ein Tigerbaby soll ich für Sie schießen? Das kann lange dauern.»
Tatsächlich mußte sie zwei Jahre warten, bis er ihnen das Tigerbaby ins Haus brachte. Und da gab’s natürlich große Probleme. Worin sollte man so ein Tier kochen? Es mußte also ein Extratopf dafür angefertigt werden.
«Und dann hat sie das Tigerbaby wirklich gegessen?» wollte ich jedesmal schaudernd wissen.
Papi nickte. «Mit Pfeffer und Salz. Der Schwanz schmeckte allerdings etwas ledern.»
«Und dann konnte sie wieder laufen?»
«Wie ein Wiesel. Sogar Ballett hat sie getanzt.»
«Also wirklich, Karl Albrecht!» sagte Mutti.
Auf dem Boden gab’s noch ’ne Menge Sachen von der Chinesin: Paravents mit Vögeln, Bastmatten, Teile eines Teegeschirrs und in einem verstaubten Koffer Seidenhosen und mit Drachen bestickte Jacken, Papierblumen und Fächer.
Ich wollte unbedingt, daß Hänschen Naumann mir eine Sänfte baute. Aber er hat bloß gelacht und sich an die Stirn getippt. «Hast du ’n Schuß?» Ich mußte erst an mein Sparschwein gehen und ihm Groschen für Groschen in seine gierige Kralle legen, bis er endlich dazu bereit war. Sein Freund hat ihm dabei geholfen, aus einem alten Korbstuhl so was Ähnliches zu basteln. Dann hab ich mir eine von den Jacken angezogen und mich durch den Garten tragen lassen. Hänschens Freund ist fast zusammengebrochen und hat immer nur gestöhnt: «Was bist du schwer, Charlotte. Hast du Blei in den Knochen?» Erst die beiden Colas, die ich aus dem Kühlschrank geklaut habe, brachten sie wieder zu Kräften.
Irgendwann bekam ich die Masern und mußte im Bett bleiben. Und weil es stinklangweilig war, erlaubte mir Papi, mich im Wohnzimmer aufs Sofa zu legen. Wir waren beide allein zu Haus. Mutti war mit den anderen unterwegs.