Antigone - Kein Drama - Anno Stock - E-Book

Antigone - Kein Drama E-Book

Anno Stock

0,0
6,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Vorwort. Lustspiele, Komödien, Tragödien, Dramen – viele klassische Werke sind für die meisten Menschen heute Bücher mit sieben Siegeln. Insbesondere die altertümliche Sprache und der sprachliche Aufbau als Bühnenstück lassen nicht nur Schülerinnen und Schüler verzweifeln. Die Reihe "Kein Drama" bringt alte Klassiker in Prosa neu heraus. So werden sie endlich für jede und jeden verständlich. Inhaltlich bleiben die Neufassungen stets dicht am Original. Daher sind teilweise Begriffe enthalten, die heute gemeinhin als diskriminierend wahrgenommen werden. Auch die Struktur ist jeweils abhängig von der genutzten Vorlage – daher sind missverständliche Passagen unvermeidlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 47

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PROLOG: Die Stadt der Toten

Der Morgen kam nicht sanft nach Theben.

Er kroch über die Stadtmauern wie ein verwundetes Tier, färbte den Himmel in krankes Orange und Rot, als hätte er sich an dem Blut verschluckt, das gestern noch die Erde vor den Toren getränkt hatte. Der Gestank von verbranntem Fleisch hing noch immer in der Luft – süßlich, falsch, wie verdorbener Honig. Die Krähen kreisten bereits, schwarze Punkte gegen das fahle Licht, geduldig wartend.

Antigone stand auf dem Dach des Palastes und beobachtete, wie die Stadt erwachte. Oder das, was von ihr übrig war. Unten in den Gassen begannen die ersten Karren zu rollen, beladen mit Toten. Die glücklichen Toten. Die, die eine Familie hatten, die sie beanspruchte. Die, die gewaschen und gesalbt werden würden, denen man eine Münze unter die Zunge legen würde für Charon, den Fährmann.

Ihr Bruder Eteokles würde heute Mittag begraben werden. Mit allen Ehren. Mit Weihrauch und Myrrhe, mit den Klageliedern der bezahlten Trauerfrauen, deren Stimmen sich wie Messer durch die Stille schneiden würden. Der Held von Theben. Der Retter. Der gute Sohn.

Und Polynikes?

Ihre Finger krallten sich in den rauen Stein der Brüstung. Irgendwo da draußen, jenseits der Mauern, lag er. Ihr anderer Bruder. Der Verräter, wie sie ihn jetzt nannten. Als ob ein Wort alles auslöschen könnte, was er gewesen war. Als ob ein Wort die Jahre ihrer gemeinsamen Kindheit zunichtemachen könnte, die Nächte, in denen sie zu dritt unter einer Decke gekauert hatten, während ihr Vater – der verfluchte, blinde König Ödipus – durch die Gänge irrte und Dinge schrie, die Kinder nicht hören sollten.

Verräter.

Das Wort schmeckte nach Asche in ihrem Mund.

KAPITEL 1: Schwestern

Die Sonne stand bereits eine Handbreit über dem Horizont, als Antigone ihre Schwester fand. Ismene saß im Innenhof des Frauenquartiers, umgeben von Dienerinnen, die schweigend Leinen für die Bestattung falteten. Weißes Leinen für Eteokles. Nur für Eteokles.

"Lass uns allein", sagte Antigone. Ihre Stimme schnitt durch die morgendliche Stille wie ein Schwert durch Seide.

Die Dienerinnen sahen zu Ismene, warteten auf deren Nicken, bevor sie sich erhoben und davonhuschten wie erschreckte Tauben. Antigone wartete, bis ihre Schritte verklungen waren.

"Du siehst schrecklich aus", sagte Ismene leise. "Hast du überhaupt geschlafen?"

"Wie kann ich schlafen?" Antigone ließ sich neben ihrer Schwester auf die Steinbank fallen. Der Marmor war noch kühl von der Nacht. "Wie kannst du schlafen?"

Ismene senkte den Blick auf ihre Hände, die das weiße Tuch hielten. Ihre Finger waren makellos, die Nägel sauber gefeilt. Antigone sah auf ihre eigenen Hände hinab – zerrissene Nägel, Schmutz darunter von ihrer nächtlichen Wanderung auf den Mauern.

"Ich habe von ihnen geträumt", flüsterte Ismene. "Von beiden. Sie waren wieder Kinder. Sie spielten mit den Holzschwertern, die Vater ihnen geschnitzt hatte, weißt du noch? Bevor... bevor alles..."

"Bevor er erfuhr, dass er seine eigene Mutter geheiratet hatte?" Antigones Lachen war bitter. "Bevor er sich die Augen ausstach? Bevor Mutter sich erhängte? Welches 'Bevor' meinst du genau, Schwester?"

Ismene zuckte zusammen. "Du musst nicht so grausam sein."

"Grausam?" Antigone sprang auf, konnte nicht stillsitzen. Die Wut in ihr war wie ein lebendiges Ding, das sich durch ihre Adern fraß. "Grausam ist, was Kreon tut. Hast du die Verkündung gehört?"

"Ganz Theben hat sie gehört."

"Und? Findest du es richtig?" Antigone packte Ismenes Schultern, zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. "Polynikes soll da draußen verfaulen. Kein Grab. Keine Riten. Seine Seele wird niemals Ruhe finden, wird ewig am Ufer des Styx wandeln, weil niemand ihm die Münze für die Überfahrt gegeben hat."

"Er hat die Stadt angegriffen." Ismenes Stimme war kaum mehr als ein Hauch. "Er hat ein Heer gegen uns geführt."

"Er wollte, was ihm zustand!" Antigone ließ ihre Schwester los, wandte sich ab. "Sie hatten eine Abmachung, Eteokles und er. Jeder ein Jahr auf dem Thron, abwechselnd. Aber als Eteokles' Jahr um war, wollte er nicht abtreten. Er hat den Eid gebrochen, nicht Polynikes."

"Das spielt keine Rolle mehr." Ismene erhob sich, das weiße Tuch fiel zu Boden. "Sie sind beide tot. Und Kreon ist König. Sein Wort ist Gesetz."

"Sein Wort ist Gotteslästerung."

Die Stille, die folgte, war schwer wie Blei. Irgendwo in der Ferne krähte ein Hahn, verspätet und heiser.

"Was hast du vor?" fragte Ismene schließlich. Die Angst in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Antigone drehte sich zu ihr um. Das Morgenlicht fiel durch die Säulen und malte Schatten auf den Boden, dunkle Streifen, die sie beide durchschnitten.

"Ich werde ihn begraben."

"Das kannst du nicht –"

"Ich kann und ich werde." Antigone trat näher, nahm Ismenes Gesicht in ihre Hände. Ihre Schwester war schön, zart wie eine Lilie, mit Augen wie dunkler Honig. Sie war für ein anderes Leben gemacht, ein Leben ohne Flüche und Tragödien. "Komm mit mir. Wir tun es gemeinsam. Für Polynikes. Für unseren Bruder."

Ismene riss sich los. "Bist du wahnsinnig? Kreon hat gesagt, wer es wagt, wird gesteinigt. Öffentlich. Auf dem Marktplatz."

"Dann sterbe ich für etwas, das richtig ist."

"Du stirbst für nichts! Du wirfst dein Leben weg für einen Toten, der nichts mehr davon hat!"

"Er hat alles davon!" Antigone schrie jetzt, konnte sich nicht mehr beherrschen. "Seine Seele –"

"Seine Seele ist fort! Es gibt nur noch Fleisch und Knochen da draußen, Nahrung für die Geier!"

Der Schlag kam, bevor Antigone ihn aufhalten konnte. Ihre Handfläche brannte, und Ismenes Wange färbte sich rot. Beide starrten sich an, erschrocken über die plötzliche Gewalt.

"Verzeih mir", flüsterte Antigone. "Ich... verzeih mir."

Ismene berührte ihre Wange, Tränen sammelten sich in ihren Augen. "Ich kann dir nicht helfen. Ich kann nicht. Ich bin nicht stark wie du."

"Du bist stärker, als du denkst."