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Lustspiele, Komödien, Tragödien, Dramen – viele großartige Bühnenstücke sind den meisten Menschen heute allenfalls vom Namen her geläufig. Insbesondere die altertümliche Sprache und der sprachliche Aufbau für die Bühne lassen nicht nur Schülerinnen und Schüler verzweifeln. Die Reihe "Kein Drama" bringt alte Werke in Prosa neu heraus. So werden sie endlich für jede und jeden verständlich.
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Seitenzahl: 64
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Gericht am Ufer der Schelde
Die Morgensonne warf lange Schatten über die Wiese am Ufer der Schelde. Der Fluss schlängelte sich träge durch die Landschaft, verschwand hinter einer Baumgruppe und tauchte erst in der Ferne wieder auf. Es war ein friedlicher Ort nahe Antwerpen, doch an diesem Tag lag eine elektrisierende Spannung in der Luft.
Unter der mächtigen alten Eiche – der Gerichtseiche, wie sie seit Generationen genannt wurde – hatte König Heinrich Platz genommen. Um ihn herum standen seine treuen sächsischen und thüringischen Grafen, Adelige und Soldaten, die sein Heer bildeten. Ihnen gegenüber hatten sich die brabantischen Edlen versammelt, angeführt von Friedrich von Telramund, einem Mann von imposanter Statur und finsterem Blick. An seiner Seite stand Ortrud, eine Frau von kalter Schönheit, deren Augen unergründlich waren wie ein tiefer Brunnen.
Zwischen den beiden Gruppen lag ein offener Kreis – die Arena, in der gleich über Leben und Tod entschieden werden sollte.
Der königliche Herold trat mit vier Hornbläsern in die Mitte. Die Hörner erklangen, ihr Ruf hallte über die Wiese und verkündete den Beginn des Gerichts.
"Hört mich an, ihr Grafen, Edlen und freien Männer von Brabant!", rief der Herold mit durchdringender Stimme. "Heinrich, König der Deutschen, ist in eure Stadt gekommen, um nach dem Recht des Reiches zu richten. Schwört ihr, seinem Urteil Frieden und Gehorsam zu gewähren?"
Die Brabanter antworteten wie aus einem Mund: "Wir schwören Frieden und Gehorsam! Willkommen, willkommen, König, in Brabant!"
König Heinrich erhob sich. Er war ein Mann in den besten Jahren, dessen Gesicht von den Sorgen der Herrschaft gezeichnet war, aber auch von einer tiefen Weisheit zeugte.
"Gott grüße euch, ihr guten Männer von Brabant", begann er, und seine Stimme trug sowohl Autorität als auch aufrichtige Sorge. "Glaubt nicht, dass ich diese weite Reise aus Langeweile unternommen habe. Ich bin gekommen, um euch an die große Not des Reiches zu erinnern."
Er machte eine Pause und ließ seinen Blick über die Versammelten schweifen.
"Muss ich euch wirklich erst von den Katastrophen erzählen, die unser deutsches Land so oft aus dem Osten heimgesucht haben? In den entferntesten Grenzgebieten mussten Frauen und Kinder beten: 'Herr Gott, bewahre uns vor der Wut der Ungarn!' Als Oberhaupt des Reiches war es meine Pflicht, dieser wilden Schmach ein Ende zu setzen."
Seine Stimme wurde fester, stolzer: "Durch harten Kampf erkaufte ich uns neun Jahre Frieden. Diese Zeit nutzte ich, um das Reich zu stärken. Ich ließ befestigte Städte und Burgen bauen, trainierte unsere Heere für den Widerstand. Doch nun ist diese Frist abgelaufen. Der Tribut wurde verweigert, und unsere Feinde rüsten sich mit wilden Drohungen. Die Zeit ist gekommen, die Ehre des Reiches zu verteidigen!"
Er hob die Faust: "Ob Ost oder West – das gilt für alle gleich! Jedes deutsche Land soll seine Kampfscharen stellen. Dann wird niemand mehr das Deutsche Reich verhöhnen!"
"Vorwärts! Mit Gottes Hilfe für die Ehre des Deutschen Reiches!", riefen die Sachsen und Thüringer begeistert.
Der König setzte sich wieder, doch sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich, als er zu den Brabantern sprach:
"Wenn ich nun zu euch komme, um euch zum Heeresdienst nach Mainz zu rufen, muss ich mit Schmerz und Kummer feststellen, dass ihr ohne Fürsten in Zwietracht lebt. Ich höre von Verwirrung und wilden Fehden." Er richtete seinen Blick auf einen Mann in der vordersten Reihe. "Darum rufe ich dich, Friedrich von Telramund! Ich kenne dich als einen Mann von höchster Tugend. Sprich jetzt, damit ich den Grund dieser Wirren verstehe."
Friedrich trat vor. Er war ein Mann von beeindruckender Erscheinung, dessen Gesicht von Stolz und – wie es schien – gerechtem Zorn geprägt war.
"Ich danke dir, König, dass du gekommen bist, um Recht zu sprechen", begann er mit fester Stimme. "Ich werde die Wahrheit sagen, denn Untreue ist mir fremd."
Er holte tief Luft, als müsse er sich für das Kommende wappnen.
"Als der Herzog von Brabant im Sterben lag, vertraute er mir seine beiden Kinder an: Elsa, die Jungfrau, und Gottfried, den Knaben. Mit aller Treue kümmerte ich mich um den Jungen. Sein Leben war der kostbarste Schatz meiner Ehre."
Seine Stimme wurde dunkler, schmerzerfüllt: "Ermesse also, mein König, meinen grimmigen Schmerz, als mir dieser Schatz geraubt wurde! Eines Tages führte Elsa den Knaben zu einem Spaziergang in den Wald – doch sie kehrte allein zurück."
Ein Raunen ging durch die Menge. Friedrich fuhr fort:
"Mit gespielter Sorge fragte sie nach ihrem Bruder. Sie behauptete, sie hätten sich zufällig getrennt und sie habe seine Spur verloren. Alle Bemühungen, den Verlorenen zu finden, blieben erfolglos. Als ich Elsa mit Nachdruck befragte, da verriet ihr bleiches Zittern und Beben das Eingeständnis einer grässlichen Schuld."
Er machte eine dramatische Pause.
"Entsetzen packte mich angesichts dieses Mädchens. Das Recht auf ihre Hand, das mir ihr Vater gewährt hatte, gab ich bereitwillig auf und nahm mir eine Frau, die mir besser gefiel."
Er deutete auf Ortrud, die sich vor dem König verneigte: "Ortrud, die Nachfahrin Radbods, des Friesenfürsten."
Mit feierlichen Schritten trat Friedrich einige Schritte vor und erhob seine Stimme zur formellen Anklage:
"Nun erhebe ich Klage gegen Elsa von Brabant! Ich beschuldige sie des Brudermordes! Dieses Land aber beanspruche ich rechtmäßig für mich, da ich der nächste Blutsverwandte des Herzogs bin und meine Frau aus dem Geschlecht stammt, das einst über diese Lande herrschte. Du hast die Anklage gehört, König! Richte gerecht!"
Die Männer murmelten erschüttert durcheinander: "Welch schwere Schuld wirft Telramund ihr vor! Mit Grauen höre ich diese Anklage!"
König Heinrich, sichtlich erschüttert von der Schwere der Beschuldigung, fragte: "Welch furchtbare Anklage sprichst du aus! Wie wäre eine solch große Schuld möglich?"
Friedrich antwortete mit unerschütterlicher Überzeugung: "Oh Herr, sie ist ein verträumtes, eitles Mädchen, das meine Hand hochmütig zurückwies. Ich klage sie der heimlichen Buhlerei an! Sie glaubte wohl, wenn sie ihren Bruder los wäre, könnte sie als Herrin von Brabant rechtmäßig die Hand des vom Vater bestimmten Mannes zurückweisen und offen ihrem geheimen Liebhaber nachgehen."
Der König hob die Hand und unterbrach Friedrichs leidenschaftliche Worte mit einer ernsten Geste: "Ruft die Angeklagte herbei! Das Gericht soll nun beginnen! Gott gebe mir Weisheit!"
Der Herold schritt feierlich in die Mitte: "Soll hier nach Recht und Gesetz Gericht gehalten werden?"
König Heinrich hängte mit großer Feierlichkeit seinen Schild an die Eiche: "Dieser Schild soll mich nicht schützen, bis ich streng und mild gerichtet habe!"
Alle Männer zogen ihre Schwerter. Die Sachsen und Thüringer stießen sie vor sich in die Erde, die Brabanter legten sie flach vor sich nieder.
"Unsere Schwerter sollen nicht in die Scheide zurückkehren, bis durch das Urteil Recht gesprochen wurde!", riefen sie gemeinsam.
Der Herold verkündete: "Wo ihr des Königs Schild seht, dort wird nun durch Urteil Recht gesprochen! Darum rufe ich klagend laut und deutlich: Elsa, erscheine hier vor Gericht!"
Eine Gestalt in schlichtem weißem Gewand trat aus dem Hintergrund hervor. Elsa von Brabant. Sie verweilte einen Moment, als sammle sie all ihren Mut, dann schritt sie langsam und mit großer Scheu zur Mitte des Gerichtskreises. Einige ebenfalls weiß gekleidete Frauen folgten ihr, blieben aber respektvoll am Rand des Kreises stehen.
Die Männer flüsterten: "Seht, da kommt sie, die schwer Beschuldigte! Wie kann jemand, der so hell und rein erscheint, einer solchen Tat schuldig sein? Wer sie so schwer anklagt, muss seiner Sache sehr sicher sein!"
König Heinrich fragte mit väterlicher Stimme: "Bist du Elsa von Brabant?"
Elsa neigte bejahend das Haupt.
"Erkennst du mich als deinen Richter an?"
Sie wandte ihr Gesicht dem König zu, blickte ihm in die Augen und nickte mit einer Geste voller Vertrauen.
"Ist dir die Klage bekannt, die hier schwer gegen dich erhoben wird?"
Als Elsa Friedrich und Ortrud erblickte, zuckte sie zusammen. Traurig senkte sie den Kopf und nickte.
"Was entgegnest du der Klage?"