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Lustspiele, Komödien, Tragödien, Dramen – viele klassische Werke sind für die meisten Menschen heute Bücher mit sieben Siegeln. Insbesondere die altertümliche Sprache und der sprachliche Aufbau als Bühnenstück lassen nicht nur Schülerinnen und Schüler verzweifeln. Die Reihe "Kein Drama" bringt alte Klassiker in Prosa neu heraus. So werden sie endlich für jede und jeden verständlich. Dabei handelt es sich stets um Übersetzungen, die sich inhaltlich dicht an der Vorlage orientieren.
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Seitenzahl: 73
Veröffentlichungsjahr: 2025
Der alte König und seine fatale Entscheidung
Der Thronsaal des britischen Königspalastes war an diesem Morgen erfüllt von einer Spannung, die man fast greifen konnte. Kent lehnte sich zu Gloucester und senkte die Stimme. "Ich dachte immer, der König bevorzugt Albany gegenüber Cornwall."
Gloucester zuckte mit den Schultern, während sein Blick über die versammelten Höflinge wanderte. "Das dachten wir alle. Aber schau dir die Aufteilung des Reiches an – die Anteile sind so perfekt ausbalanciert, dass selbst der genaueste Blick keinen Unterschied erkennen könnte."
Kent musterte den jungen Mann an Gloucesters Seite. "Ist das nicht dein Sohn?"
Ein verlegenes Lächeln huschte über Gloucesters Gesicht. "Die Last seiner Erziehung fiel auf mich", sagte er und räusperte sich. "Ich habe schon so oft zugegeben, dass er mein Sohn ist, dass ich nicht mehr erröten kann."
"Ich verstehe nicht ganz", murmelte Kent verwirrt.
Gloucester lachte leise. "Seine Mutter verstand es sehr gut. Sie bekam davon eine gewisse... Rundung. Und am Ende stellte sich heraus, dass sie einen Sohn in der Wiege hatte, bevor sie einen Ehemann im Bett hatte." Er zwinkerte Kent zu. "Riechst du den Skandal?"
Kent betrachtete den jungen Edmund mit neuen Augen. "Das Ergebnis dieses Fehlers ist so beeindruckend, dass ich mir wünschte, er wäre öfter passiert."
"Ich habe auch einen legitimen Sohn", fügte Gloucester hinzu, "Edgar, ein paar Jahre älter, aber mir nicht lieber als dieser hier. Auch wenn Edmund etwas unverschämt auf die Welt kam, bevor man nach ihm verlangte – seine Mutter war schön, es ging lustig zu bei seiner Zeugung, und der Bastard muss anerkannt werden." Er wandte sich an Edmund. "Kennst du diesen Edelmann?"
Edmund schüttelte den Kopf. "Nein, Vater."
"Das ist Lord Kent. Erinnere dich an ihn als meinen geschätzten Freund."
Edmund verneigte sich leicht. "Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen."
"Du gefällst mir", erwiderte Kent warmherzig. "Wir sollten uns besser kennenlernen."
"Ich werde mich bemühen, Eure Wertschätzung zu verdienen", antwortete Edmund mit einem Lächeln, das nicht ganz seine Augen erreichte.
"Er war neun Jahre im Ausland", erklärte Gloucester, "und soll noch länger fortbleiben."
Das Dröhnen von Trompeten unterbrach ihre Unterhaltung. Die schweren Eichentüren schwangen auf, und König Lear betrat den Saal, gefolgt von den Herzögen Cornwall und Albany, seinen drei Töchtern und einem beeindruckenden Gefolge.
Der alte König – achtzig Jahre und darüber – bewegte sich mit der Autorität eines Mannes, der sein ganzes Leben lang absolute Macht ausgeübt hatte. Sein weißer Bart war sorgfältig gepflegt, seine Augen noch immer scharf, auch wenn sich in letzter Zeit manchmal ein seltsames Flackern darin zeigte.
"Gloucester", befahl Lear, "geh und leiste den Prinzen von Frankreich und Burgund Gesellschaft."
"Sofort, mein König." Gloucester eilte davon.
Lear ließ sich auf seinem Thron nieder und blickte über die Versammlung. "Nun ist es Zeit, unser geheimes Vorhaben zu enthüllen." Er winkte einem Diener. "Gebt mir die Landkarte."
Ein großes Pergament wurde vor ihm ausgebreitet. Lears knochige Finger fuhren über die eingezeichneten Grenzen. "Wisst, dass wir unser Königreich in drei Teile geteilt haben. Es ist unsere feste Absicht, unser Alter von allen Regierungssorgen zu befreien und sie jüngeren Schultern aufzubürden, während wir unbelastet dem Tod entgegenkriechen."
Ein Raunen ging durch den Saal. Gonerill und Regan tauschten einen schnellen Blick, während Cordelia, die Jüngste, ihren Vater mit besorgten Augen betrachtete.
"Unser Sohn von Cornwall", fuhr Lear fort, "und ihr, nicht weniger geliebter Sohn von Albany – wir haben beschlossen, in dieser Stunde die Mitgift unserer Töchter bekannt zu geben, damit allem künftigen Streit vorgebeugt werde."
Er erhob sich, seine Stimme wurde lauter. "Die Prinzen von Frankreich und Burgund, beide Bewerber um unsere jüngste Tochter, haben lange an unserem Hof geweilt. Sie sollen heute ihre Antwort erhalten."
Der König wandte sich seinen Töchtern zu, und etwas Seltsames, fast Kindliches trat in seine Miene. "Sagt mir, meine Töchter – da wir uns nun der obersten Gewalt entledigen wollen – welche von euch liebt uns am meisten? Damit wir unsere Großzügigkeit dort walten lassen, wo sie am meisten verdient ist."
Gonerill trat vor, ihre rotbraunen Haare glänzten im Licht der hohen Fenster. Sie war die Älteste, verheiratet mit dem Herzog von Albany, einer Frau, die gelernt hatte, Worte wie Waffen zu führen.
"Vater", begann sie mit einer Stimme wie Honig, "ich liebe dich mehr als Worte es ausdrücken können. Mehr als Augenlicht, Raum und Freiheit. Mehr als alles, was kostbar und selten ist. Nicht weniger als Leben, Gesundheit, Schönheit und Ehre. So sehr, wie jemals ein Kind geliebt hat oder ein Vater geliebt zu werden verdient. Mit einer Liebe, die den Atem arm und die Sprache unzulänglich macht."
Cordelia stand im Schatten einer Säule und flüsterte zu sich selbst: "Was soll ich tun? Lieben und schweigen."
Lear strahlte über Gonerills Worte. Er deutete auf die Karte. "Von dieser Linie bis zu jener, mit schattigen Wäldern und fruchtbaren Ebenen, mit reichen Flüssen und weiten Wiesen – all das gehört dir und Albanys Nachkommen für immer."
Er wandte sich an seine zweite Tochter. "Was sagt unsere Regan, Cornwalls Gemahlin?"
Regan, dunkelhaarig und mit scharfen Gesichtszügen, trat vor. "Ich bin aus demselben Metall gemacht wie meine Schwester und schätze mein Herz nach dem Wert des ihren. Sie hat meine Gefühle perfekt ausgedrückt – nur darin fällt sie zu kurz, dass ich mich als Feindin aller anderen Freuden erkläre. Deine Liebe allein macht meine Glückseligkeit aus."
Cordelia biss sich auf die Lippe. "Arme Cordelia", murmelte sie. "Und doch nicht arm, denn ich bin sicher, dass meine Liebe gewichtiger ist als ihre Zungen."
"Dir und den Deinen", verkündete Lear feierlich, "gehört dieser prächtige dritte Teil unseres Königreichs, nicht geringer an Größe, Wert und Schönheit als Gonerills Anteil."
Nun wandte er sich seiner jüngsten Tochter zu, und seine Augen wurden weich. "Nun du, unsere Freude, nicht die Geringste, obgleich die Letzte. Die junge Liebe, um die Frankreich und Burgund werben – was sagst du, um ein noch reicheres Los zu ziehen als deine Schwestern?"
Cordelia trat ins Licht. Sie war kleiner als ihre Schwestern, mit hellem Haar und klaren Augen, die direkt in die ihres Vaters blickten.
"Nichts, Vater."
Die Stille im Saal war ohrenbetäubend.
"Nichts?" Lears Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
"Nichts."
"Aus nichts kann nichts entstehen. Sprich noch einmal."
Cordelia holte tief Luft. "Ich bin unglücklich, dass ich mein Herz nicht auf meine Zunge heben kann. Ich liebe dich, wie es meine Pflicht ist – nicht mehr und nicht weniger."
"Wie?" Lears Gesicht begann sich zu röten. "Wie, Cordelia? Verbessere deine Rede ein wenig, oder du könntest dein Glück verscherzen."
"Mein lieber Vater", sagte Cordelia ruhig, "du hast mich gezeugt, aufgezogen und geliebt. Ich erwidere diese Wohltaten, wie es meine Pflicht gebietet. Ich gehorche dir, liebe und ehre dich. Aber warum haben meine Schwestern Ehemänner, wenn sie behaupten, dich allein zu lieben? Wenn ich heirate, wird der Mann, dem ich meine Hand gebe, die Hälfte meiner Liebe und Treue erhalten. Ich werde niemals wie meine Schwestern heiraten, nur um meinen Vater allein zu lieben."
Das Gesicht des alten Königs wurde weiß, dann purpurrot. Seine Hände begannen zu zittern. "Sprichst du aus deinem Herzen?"
"Ja, Vater."
"So jung und so lieblos?"
"So jung und so aufrichtig."
Die Verwandlung, die nun über Lear kam, war erschreckend anzusehen. Seine Augen wurden wild, seine Stimme donnerte durch den Saal: "So soll deine Aufrichtigkeit deine Mitgift sein! Bei den heiligen Strahlen der Sonne, bei den Geheimnissen der Nacht, bei allen Mächten, durch die wir entstehen und vergehen – ich entsage hiermit aller väterlichen Fürsorge und Blutsverwandtschaft! Von diesem Augenblick an bist du mir eine Fremde. Der barbarische Skythe, der seine eigenen Kinder verspeist, soll meinem Herzen näher sein als du, einst meine Tochter!"
Kent trat hastig vor. "Mein König—"
"Zurück, Kent! Wage dich nicht zwischen den Drachen und seinen Zorn!" Lear wandte sich wieder an Cordelia, sein Gesicht eine Maske des Hasses. "Ich liebte dich am meisten und dachte, meinen Lebensabend in deiner Fürsorge zu verbringen. Fort aus meinen Augen!"
Er wandte sich an die Höflinge. "Ruft die Prinzen von Frankreich und Burgund! Cornwall und Albany, teilt Cordelias Drittel unter euch auf. Lasst ihren Stolz, den sie Aufrichtigkeit nennt, für sie sorgen. Ich verleihe euch beiden meine Macht und alle Vorrechte der Majestät."
Kent konnte nicht länger schweigen. "Königlicher Lear, den ich immer als meinen König geehrt, als Vater geliebt, als Meister befolgt habe—"
"Der Bogen ist gespannt", warnte Lear. "Geh dem Pfeil aus dem Weg."
"Lass ihn mein Herz durchbohren, wenn es sein muss!" rief Kent. "Was willst du tun, alter Mann? Denkst du, die Pflicht wird schweigen, wenn die Macht sich vor der Schmeichelei beugt? Behalte deinen Verstand! Deine jüngste Tochter liebt dich nicht am wenigsten!"
"Bei deinem Leben, Kent, kein Wort mehr!"