Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 2 - Wolfgang Nein - E-Book

Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 2 E-Book

Wolfgang Nein

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Beschreibung

Das Leben ist schön und schwer zugleich. Im Allgemeinen leben wir wie selbstverständlich vor uns hin. Gelegentlich fordert uns das Leben aber dazu heraus, einmal grundsätzlich nachzudenken über uns selbst, über unser menschliches Miteinander, über die Höhen und Tiefen, über Gut und Böse, über den Sinn von allem überhaupt. Die Predigten dieses Buches verbinden unser Nachdenken mit dem früherer Generationen, der biblischen insbesondere. Dies mag helfen, persönliche Antworten für das eigene Leben zu finden.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Respekt vor dem Menschen

21. Januar 2007

3. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 4,5-14

Krippe und Kreuz

28. Januar 2007

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Johannes 12,34-36

Barmherzig kritisch

4. Februar 2007

Septuagesimae

(3. Sonntag vor der Passionszeit)

Matthäus 9,9-13

Einmal reicht nicht

11. Februar 2007

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

Jesaja 55,10-12a

Brot fürs Herz

18. März 2007

Laetare

(4. Sonntag der Passionszeit)

Johannes 6,47-51

Tropfen auf fruchtbaren Boden

1. April 2007

Palmsonntag

(6. Sonntag der Passionszeit)

Dank an Ehrenamtliche

Johannes 4,5-14

„Ich bin das Brot“

5. April 2007

Gründonnerstag

Matthäus 26,26

Die Liebe ist nicht totzukriegen

8. April 2007

Ostersonntag

Johannes 20,11-18

Es war nicht der Gärtner

9. April 2007

Ostermontag

Familiengottesdienst

Johannes 20,11-18

Speise fürs Herz

14. April 2007

Samstag vor Quasimodogeniti

Konfirmandenabendmahl

Markus 14,22-24

Das Sein persönlich nehmen

13. Mai 2007

Rogate

(5. Sonntag nach Ostern)

1. Timotheus 2,1-6a

Abschied mit Auftrag

17. Mai 2007

Himmelfahrt

Johannes 17,20-26

Jesus Christus auslegen

20. Mai 2007

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Johannes 14,15-19

Wenn der Geist leibhaftig wird

28. Mai 2007

Pfingstmontag

Johannes 4,24

Ehebruch

1. Juli 2007

4. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 8,3-11

Mit Konflikten bekennen

8. Juli 2007

5. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 14,25-33

Ende der Strafe Gottes

29. Juli 2007

8. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 9,1-7

„Du bist ein Schatz!“

5. August 2007

9. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 13,44-46

Wohnort Gottes

12. August 2007

10. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 4,19-26

Die liebende Prostituierte

19. August 2007

11. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 7,36-50

Dennoch: Die Liebe!

28. Oktober 2007

21. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 15,9-12 (13-17

Unverbesserlich, aber nicht aufgegeben

4. November 2007

22. Sonntag nach Trinitatis

Micha 6,6-8

Geduld

9. Dezember 2007

2. Advent

Offenbarung 3,7-13

Süße Last der Liebe

16. Dezember 2007

3. Advent

Offenbarung 3,1-6

Der Allmächtige als Kind

25. Dezember 2007

1. Weihnachtstag

Johannes 1,14a

Das Geheimnis wird Mensch

6. Januar 2008

Epiphanias

2. Korinther 4,3-6

Ist Gott (un)gerecht?

20. Januar 2008

Septuagesimae

(3. Sonntag vor der Passionszeit)

Römer 9,14-24

Ein offenes Herz für gute Worte

27. Januar 2008

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

Apostelgeschichte 16,9-15

Fasten?

3. Februar 2008

Estomihi

(Sonntag vor der Passionszeit)

Jesaja 58,1-9a

Glauben - auf den Sinn vertrauen

17. Februar 2008

Reminiszere

(2. Sonntag der Passionszeit)

Hebräer 11,8-10

Entschieden glauben - maßvoll handeln

24. Februar 2008

Okuli

(3. Sonntag der Passionszeit)

1. Könige 19,1-8(9-13a

Befreit zur Umkehr

20. März 2008

Gründonnerstag

Matthäus 26,26-28

Die Liebe ist stärker als der Tod

23. März 2008

Ostersonntag

Markus 16,1-8

Eine unglaubliche Geschichte

24. März 2008

Ostermontag

Familiengottesdienst

Lukas 24,1-35

Wir sind Schafe und Hirten zugleich

6. April 2008

Misericordias Domini

(2. Sonntag nach Ostern)

Hebräer 13,20-21

Für uns gegeben –

Teilen, was wir sind und glauben

26. April 2008

Samstag vor Rogate

Konfirmandenabendmahl

Lukas 22,19-20

Die Grundfragen sind geblieben

1. Mai 2008

Himmelfahrt

Goldene Konfirmation

Psalm 103,2

„Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“

4. Mai 2008

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Römer 8,26-30

Sprache der Liebe

11. Mai 2008

Pfingstsonntag

Johannes 4,19-26

Verschieden und verbunden

1. Juni 2008

2. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 4,5

20 Jahre Uyole – St. Markus

15. Juni 2008

4. Sonntag nach Trinitatis

Gäste aus Uyole

Epheser 4,5

Stärkung auf dem mühsamen Weg

6. Juli 2008

7. Sonntag nach Trinitatis

2. Mose 16,2-3.11-18

Vorher - nachher

13. Juli 2008

8. Sonntag nach Trinitatis

Römer 6,19-23

Unser Glaube - unser Leben

10. August 2008

12. Sonntag nach Trinitatis

1. Korinther 3,9-15

Wort und Tat

17. August 2008

13. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 6,1-7

Markus, Christus, Johannes

24. August 2008

14. Sonntag nach Trinitatis

Kirchenfenster

Schöpfer und Geschöpf

31. August 2008

15. Sonntag nach Trinitatis

1. Mose 2,4b-9.15

Christ sein und Christ werden

14. September 2008

17. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 4,1-6

Dank dem Geheimnis des Seins

5. Oktober 2008

Erntedank

Hebräer 13,15-16

Herz und Hirn

31. Oktober 2008

Reformationstag

Römer 3,21-28

Wird es immer Kriege geben?

16. November 2008

Volkstrauertag

Micha 4,3

Leben, Leiden, Lieben

23. November 2008

Totensonntag

Offenbarung 21,4

Kleine Schritte zum großen Ziel

7. Dezember 2008

2. Advent

Lukas 21,25-33

Zart und gewaltig

21. Dezember 2008

4. Advent

Lukas 1,39-56

Das Heil kommt aus der Provinz

25. Dezember 2008

1. Weihnachtstag

Lukas 1,15-20

Ohne Gottvertrauen geht es nicht

31. Dezember 2008

Jahresschluss

Römer 8,31b

Bibelstellen

Vorwort

Meine geistigen und geistlichen Erzeugnisse habe ich alle aufbewahrt. Im vorliegenden Band sind alle Predigten der Jahre 2007 – 2008 abgedruckt. Ich habe sie alle in der evangelischlutherischen Kirchengemeinde St. Markus in Hamburg-Hoheluft gehalten, in der ich bis zu meinem Eintritt in den Ruhestand 2010 dreißig Jahre lang als Gemeindepastor tätig gewesen war.

Die vorliegenden Predigten sind nicht ausgewählt nach dem Motto „The best of“. Sie sind hier vollständig und mit nur minimalen Korrekturen wiedergegeben.

Die Zusammenstellung der Predigten in Buchform ist für mich eines meiner Ruhestandsprojekte. Mir persönlich gibt dieses Projekt noch einmal Einblick in mein eigenes Denken und Reden und Glauben. Es fordert mich auch dazu heraus, mir grundsätzliche Gedanken über das theologische Denken und Reden zu machen.

Was glaube ich eigentlich und wie sage ich weiter, was mir in meinem Glauben wichtig ist? Diese persönliche Formulierung wähle ich bewusst. Es gibt unterschiedliche Theologien - auch bereits in den biblischen Texten. Jeder Einzelne steht unausweichlich vor der Aufgabe, sich eigene Gedanken über das zu machen, was uns durch die Bibel an Inhalten überliefert ist, und sich persönlich zu entscheiden, was ihm daraus für sein Leben besonders wichtig ist.

Jeder von uns hat – irgendwie - seinen Glauben, aber wie genau? Sich das einmal systematisch klarzumachen, ist eine Aufgabe eigener Art. Für mich persönlich ist die Beschäftigung mit den gesammelten Predigten eine Möglichkeit der Klärung im Nachherein. Ob daraus jemals eine systematische Darstellung wird, bleibt abzuwarten. Ein reizvolles Projekt wäre es.

Dieses Buch ist also ein weiterer kleiner Schritt auf einem längeren Weg. Viel Freude beim Lesen.

Wolfgang Nein, Juni 2016

Respekt vor dem Menschen

21. Januar 2007

3. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 4,5-14

Wie kann ich das empfangen, was Jesus Christus zu geben hat? Muss ich dazu, so war vor 2000 Jahren die Frage, als die Kirche noch im Werden war, muss ich dazu Jude sein wie Jesus selbst? Oder, wenn ich keiner bin, muss ich erst einmal Jude werden und all die religiösen Vorschriften der Juden beachten?

Oder – auf heute bezogen: Muss ich, wie manche meinen und manche von den heute Interessierten verlangen, Mitglied der Kirche sein oder werden, in den Gottesdienst gehen, das tägliche Tischgebet sprechen und andere religiöse Formen beachten, um Christ sein zu können?

Wie kann ich das empfangen, was Jesus Christus zu geben hat?

Die Geschichte in unserem Predigttext schildert eine Frau von damals, die keine Jüdin war und folglich auch die jüdischen religiösen Vorschriften nicht beachtete. Die Frau war eine Samariterin. Sie gehörte einer Volksgruppe an, die von den Juden als Heiden, mindestens als halbe Heiden, betrachtet wurde.

Jesus bietet ihr an, was er zu geben hat - voraussetzungslos, bedingungslos. Sie braucht nichts Anderes zu tun, als ihn zu bitten. Er gibt es ihr.

Er bietet ihr Wasser an.

Wasser ist in dieser Geschichte das anschauliche Bild für das, was Jesus zu geben hat. Sein Wasser ist anders als das Wasser aus dem Brunnen, um das er die Frau bittet: „Gib mir zu trinken!“ Das Wasser aus dem Brunnen stillt den Durst nur für kurze Zeit. Das Wasser, das Jesus anzubieten hat, stillt den Durst ein für alle Mal.

Was für Wasser ist das? Wofür ist das Wasser Jesu ein Bild?

Es geht um das Leben. Ohne Wasser kein Leben. Unser Leib kommt nur wenige Tage ohne Wasser aus. Nach wenigen Tagen ohne Wasser verdursten wir.

Jesus meint aber nicht das leibliche Leben, das Funktionieren des Körpers. Er spricht vom ewigen Leben, von dem Leben, das nicht an die Verfallszeit des Leibes gebunden ist. Er meint das Leben im Sinne einer Qualität. So, wie wir manchmal sagen: „Das ist doch kein Leben!“, wenn es uns irgendwie schlecht geht und die Erwartungen nicht erfüllt sind, die wir mit dem Leben im Sinne einer gewissen Qualität verbinden.

Mit dem Wasser bietet Jesus der Samariterin zeichenhaft Lebensqualität an. Wir können uns jetzt fragen: „Worin besteht die Lebensqualität, die er zu geben hat?“

Der kleinen Geschichte, die ich vorgelesen habe, können wir ganz konkret drei Merkmale entnehmen, die die Lebensqualität ausmachen. Sie lassen sich zusammenfassen mit den Worten: Anerkennung der menschlichen Würde – in dreifacher Weise: Jesus respektiert die Frau, er respektiert die Nichtjüdin und er respektiert die Sünderin.

Er respektiert die Frau. Das würden wir aus dieser Geschichte vielleicht nicht so ohne Weiteres herauslesen. Aber in der damaligen patriarchalischen Gesellschaft, in der die Frau eine untergeordnete Rolle spielte - auch in religiöser Hinsicht - war es sehr bemerkenswert, dass Jesus sich hier gerade einer Frau religiös offenbart.

Er respektiert die Frau und er respektiert die Nichtjüdin. Darüber ist sie selbst sehr erstaunt: „Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritische Frau?“ Denn, so fügt der Text hinzu, die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern.

Und Jesus respektiert die „Sünderin“. „Sünderin“ sage ich jetzt mit Anführungszeichen. Im weiteren Verlauf unserer Geschichte stellt sich heraus, dass die Frau fünf Männer gehabt hat. Jesus weiß das. Er sagt: „Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“ Sie pflegt eine nichteheliche Beziehung. Das war zur Zeit Jesu verwerflich, wie natürlich auch zu manch anderen Zeiten andernorts.

Also noch einmal: Jesus wendet sich in dieser Geschichte ganz menschlich direkt einer Person zu, der er sich als jüdischer Mann in dieser Weise eigentlich nicht hätte zuwenden dürfen, weil diese Person aus der Perspektive der religiösen Vorstellungen, in denen Jesus groß geworden war, mit einem dreifachen Makel behaftet ist: Sie ist eine Frau, sie ist eine Nichtjüdin, sie lebt in einer verwerflichen Beziehung.

Jesus setzt sich über alle Vorbehalte hinweg. Er begegnet der Samariterin vorbehaltlos und respektiert sie damit als Mensch in der Art, wie sie ist.

Wenn wir uns jetzt noch einmal fragen: Wofür ist das Wasser ein Zeichen? Was hat Jesus zu geben?, dann können wir jetzt antworten: Er bietet Lebensqualität an in Form menschlicher Anerkennung - und zwar voraussetzungslos. Er akzeptiert den Menschen als Geschöpf Gottes unabhängig von den religiösen und kulturellen Unterschiedlichkeiten und Schranken und unabhängig von der moralischen Einstufung des Menschen.

Was das Letzte anbetrifft, so bedeutet dies natürlich nicht, dass Jesus Rechtsbruch und Schuld nicht ernst nehmen würde. Aber er würde sich auch noch einem Schwerverbrecher menschlich zuwenden und ihm als Geschöpf Gottes mit Respekt begegnen. Diese Grundhaltung ist auch in unsere Rechtsordnung eingeflossen.

Es gibt Untaten, die sind als solche offensichtlich und nicht wegzudiskutieren. Es gibt aber auch Unrecht, das kulturell und zeitbedingt als solches, als Unrecht, betrachtet wird. Vielleicht erinnern Sie sich noch z. B. an den Kuppelparagraphen, der diejenigen bestrafte, die ihre Wohnung einem nichtverheirateten Paar zur Verfügung stellten. Dieser Paragraph ist 1969 abgeschafft worden.

In einem gewissen Umfang sind rechtliche Regelungen und gesellschaftliche Normen mit ihrer Definition von Unrecht sehr zeitbedingt. Im Nachherein stellen sich manchmal eher die Regeln und Normen selbst als Unrecht dar. Denken wir z. B. an die Stellung des unehelichen Kindes. Wie schlecht waren noch vor wenigen Jahrzehnten unehelich geborene Kinder und deren Mütter angesehen! Im Nachherein möchte man sich des ihnen angetanen Unrechts schämen.

Wieviel Unrecht ist auch in unserer Gesellschaft den Frauen angetan worden - durch diskriminierende Regelungen und Gesetze zum Beispiel! Auf diesem Gebiet ist auch jetzt noch, auch in unserem Land, Handlungsbedarf. Es gibt z. B. immer noch etliche Beispiele dafür, wie Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt werden als Männer.

Was nun das Miteinander von Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Herkunft anbetrifft, so ließen sich auch diesbezüglich etliche Bespiele für die zahlreichen Probleme nennen.

Für Jesus kommt es in unserer kleinen biblischen Geschichte nur auf eines an: Vor ihm steht ein Mensch. Und diesem Menschen begegnet er menschlich, nämlich in der Mensch gewordenen Gestalt desjenigen, der diesen Menschen vor ihm geschaffen hat.

Gott, der Schöpfer, steht vor der Frau. Er steht vor ihr in der Gestalt Jesus Christus und sagt zu ihr: „Ich habe dich geschaffen, als Frau. Du wirst von den Männern gering geachtet. Aber du bist ein wunderbares Geschöpf. Du bist aus Samarien. Von den Juden wirst du gering geachtet. Aber ich achte dich. Du lebst in einer unehelichen Beziehung. Von der Gesellschaft wirst du verurteilt. Aber ich stehe zu dir.

„Ich weiß“, so sagt er weiter, „dass dich all diese Geringschätzung belastet. Aber ich sage dir. Du bist und bleibst mein geliebtes Geschöpf - als Frau und als Samariterin, und auch dann noch, wenn du dich schuldig gemacht hast.

Wenn du meinen Beistand willst, dann sag es mir. Du wirst dann merken: Mein Angebot wird dir helfen und dich frei machen von dem, was dich bedrückt.“

Das hat Jesus in dieser kleinen Geschichte nicht wirklich gesagt, aber das hat er gemeint, als er ihr anbot, ihn um das Wasser des wahren Lebens zu bitten.

Jesus Christus macht uns allen im Namen Gottes ein sehr existentielles Angebot - jenseits von Gesetz und Recht und allen gesellschaftlichen Konventionen. Es geht ihm um unser Menschsein, um unser Sein als Geschöpfe Gottes. Als solchen spricht er uns die Annahme und Liebe Gottes zu.

Alles Weitere ist nachrangig, nicht bedeutungslos, aber nachrangig. Die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche, der Gottesdienstbesuch, die Bibellese, das Gebet - das alles hat seinen Sinn, seine Bedeutung und kann sehr hilfreich sein.

Aber das Erste und Wichtigste ist: Wir sind voraussetzungslos angenommen, wie diese Frau aus Samarien.

Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: „Wie kann ich das empfangen, was Jesus Christus zu geben hat?“ Antwort: „Ich brauche ihn nur darum zu bitten.“

Um ihn bitten zu können, müssen wir allerdings wissen, zumindest eine Ahnung davon haben, was er uns Hilfreiches anzubieten hat. Von daher ist es mindestens nützlich und hilfreich, sich auf die biblischen und kirchlichen Überlieferungen einzulassen, mal in der Bibel zu lesen, sich mal eine Predigt anzuhören, sich etwas in einem Gesprächskreis erzählen zu lassen und sich auf diejenigen einzulassen, die etwas von ihm vermitteln können.

Das sind alles nützliche Maßnahmen, um überhaupt dahin zu kommen, etwas von dem empfangen zu wollen, was Jesus Christus uns anzubieten hat. Er selbst macht uns keine Auflagen.

Er bietet uns - voraussetzungslos und bedingungslos - das Wasser des wahren Lebens an, die liebevolle Annahme Gottes, unseres Schöpfers. Wir brauchen ihn nur darum zu bitten.

Möge die Liebe Gottes uns stärken für ein Leben in Freude und Dankbarkeit und Menschlichkeit.

Krippe und Kreuz

28. Januar 2007

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Johannes 12,34-36

Über dem Kirchenportal hängt der Stern - immer noch. Vielleicht hat sich der eine oder andere von Ihnen insgeheim schon gefragt: „Was soll das? Weihnachten ist doch längst vorbei!“

Eine Dame aus unserer Gemeinde sagte aber - ganz von sich aus: „Ich finde es gut, dass der Weihnachtsstern da noch hängt.“ Ich konnte ihr nur zustimmen. Allerdings muss ich zugeben: Es steckt keine tiefe Absicht dahinter, dass der Stern noch nicht abgenommen ist. Das hat einfach arbeitsorganisatorische Gründe. Aber wir können das jetzt als höhere Fügung betrachten. Denn es macht theologisch Sinn, dass der Stern heute noch über dem Kircheneingang leuchtet - wenigstens heute noch. Denn heute ist der letzte Sonntag nach Epiphanias, dem Fest des Lichtes, dem Fest der Erscheinung Gottes auf Erden in der Gestalt dieses wunderbaren Menschen Jesus Christus.

Heute ist der letzte Sonntag nach Epiphanias. Der nächste Sonntag trägt bereits den Namen „Dritter Sonntag vor der Passionszeit", der Zeit, in der wir das Leiden Christi bedenken. „So schnell kann das gehen“, möchte man sagen. Freud und Leid liegen nahe beieinander. Der heutige Sonntag macht es uns zur Aufgabe, beides gleichzeitig zu bedenken: Die Krippe und das Kreuz, das Kreuz über der Krippe. Der heutige Predigttext deutet bereits - etwas verschlüsselt - auf das baldige Ende des irdischen Wirkens Jesu, des Christus, hin.

Das Weihnachtslicht erschien in der Dunkelheit. Das ist in unseren Breiten, wo es zu Weihnachten draußen dunkel ist, besonders sinnfällig. Die Natur unterstützt auf diese Weise die Weihnachtsbotschaft. Seitdem wird es draußen heller. Das passt auch theologisch zur Gegenwart Gottes in Jesus Christus. Aber nun wird es draußen weiter heller und heller - theologisch dagegen wird es dunkler und dunkler, denn mit zunehmender Intensität werden wir mit dem Leiden Christi befasst, bis dann zu Ostern das Licht des Frühlings und das Auferstehungslicht zusammenkommen und sich das irdische und das himmlische Licht vereinen.

Es beginnt jetzt also eine Phase, in der Natur und Theologie, Licht und Dunkel, Freud und Leid überkreuz liegen, quasi gegeneinander verlaufen - allerdings mit der Perspektive, dass am Ende alles gut werden wird.

Vergleichen können wir das vielleicht mit einer Zeit der Krankenbehandlung. Wenn wir krank sind und wir uns für einige Wochen und Monate einer vielleicht schmerzhaften Behandlung unterziehen müssen, dann ist das eine Zeit des Leidens. Wenn wir danach aber wieder gesund sind, können wir sagen: Das Leiden hatte seinen Sinn. Durch dieses Tal mussten wir hindurch, um das Leben wieder in seiner ganzen Fülle und Schönheit genießen zu können.

So ähnlich wird es Studenten ergehen, die wochenlang an einer Hausarbeit sitzen, sich den Kopf zermürben, das Freizeitprogramm auf ein Minimum reduzieren - und auch ein gutes Maß an Leid durchmachen. Aber der Tag, an dem sie die Hausarbeit dann endlich abgeben, ist wie ein kleines Osterfest: Nach den Wochen der leidvollen Entbehrung können sie das Leben endlich wieder leben in seiner ganzen Fülle.

Dies sind nicht nur Bilder. Dies sind Beispiele aus dem wahren Leben. Diese Beispiele können wir aber als Bilder nehmen, um anschaulich zu machen, was sich nun theologisch, kirchenjahreszeitlich vollzieht.

Wir können uns fragen: Was hat es mit Licht und Dunkelheit auf sich? Was bedeutet diese Kombination von Krippe und Kreuz? Und vielleicht fragt einer sogar ärgerlich: „Warum wird uns die Weihnachtsfreude so schnell wieder verdorben?“

Es hat alles seinen guten Sinn.

Es geht um unser Sein, um unsere Existenz als Menschen in diesen wenigen Jahrzehnten, die wir auf diesem Erdball verbringen dürfen. Es geht um die Frage, wie wir mit dem Leben zurechtkommen können, das uns geschenkt und zugleich ungefragt aufgetragen ist. Es geht um die Frage, wie wir uns selbst sehen, wie wir mit uns selbst und miteinander umgehen können, wie wir der Aufgabe des Lebens, dem Auftraggeber, dem Schöpfer allen Seins, gerecht werden können.

Das sind religiöse Fragen, existentielle Grundfragen. Sie werden in den verschiedenen Religionen unterschiedlich beantwortet. Und die unterschiedliche Beantwortung führte und führt bedauerlicherweise zu Auseinandersetzungen unter den Vertretern der Religionen.

Daraus folgte auch ein Teil des Leidens Jesu. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Antworten auf die grundlegenden existentiellen Fragen auch Auswirkungen haben auf die praktische Lebensgestaltung bis hin zur Gestaltung des gesellschaftlichen und weltweiten Miteinanders. Die Auswirkungen sind also nicht nur religiöser Art im engeren Sinne, sondern auch im weiteren Sinne kultureller, wirtschaftlicher und politischer Natur. Von daher mobilisiert jede religiöse Einstellung auch eine Menge zustimmender und ablehnender Kräfte auf diversen Gebieten des Lebens.

Das Matthäusevangelium berichtet davon, dass das in Bethlehem geborene Kind den König des Landes beunruhigte und dieser versuchte, den möglichen Konkurrenten gewaltsam aus dem Weg zu schaffen. Pilatus sah sich später vor das Problem gestellt, die aufgewühlten Massen und die aufgebrachten religiösen Führer mit einer diplomatischen Entscheidung zur Ruhe zu bringen.

Bei dem, was uns die Religionen anzubieten haben, geht es zu einem wesentlichen Teil um das ethische Problem.

Es geht um den Tatbestand, dass der Mensch nicht nur gut ist, sondern einiges an Bösem in sich trägt und nach außen trägt. Wenn im Einzelnen auch strittig sein mag, was gut und was böse ist, so gibt es doch genug Beispiele, an denen die Frage ganz klar zu beantworten ist. Gestern haben wir der Opfer des Holocaust gedacht. Was da im Dritten Reich geschehen ist, war undiskutierbar böse.

Die Frage ist: Wie weit ist das Böse in jedem Menschen vorhanden? Wie lässt sich das Böse im Menschen zügeln? Ist der Mensch besserungsfähig? Wie ist ggf. mit der Unverbesserlichkeit des Menschen umzugehen? Wer hat das Recht, über den Menschen zu urteilen?

Es gibt hinsichtlich der Beantwortung dieser Fragen Unterschiede zwischen der alttestamentlichen, jüdischen Religion und dem, was dann Jesus Christus neu eingebracht hat.

Was Jesus Christus zu seiner Zeit in seinem Lebensumfeld vorfand, spiegeln die neutestamentlichen Texte. Die religiösen, von Mose aus göttlicher Hand empfangenen Gebote, die Auslegung der Gebote durch die Pharisäer und Schriftgelehrten und die feierliche Darbietung der Gebote im Kult spielten im Umgang mit dem Bösen im Menschen eine wesentliche Rolle. Der Mensch unterstand den Geboten und dem Urteil derer, die sich für die Auslegung und Anwendung und Durchsetzung der Gebote verantwortlich wussten. Die jüdische Religion war, so sagen es manche verkürzt, zu einem guten Teil eine Gesetzesreligion.

Diesem Teil der jüdischen Religion hat Jesus Christus den Boden entzogen. Als Sohn Gottes, als der er von einigen damals angesehen wurde, stellte er sich über Mose, der das Gesetz ja nur empfangen hatte. Als Sohn Gottes verkündete Jesus Christus nun das Wort Gottes, das dem mosaischen Gesetz vorausgeht und übergeordnet ist und die eigentliche Quelle der Gesetze ist. Jesus nimmt sich das Recht, das Wesen der Gesetze zu formulieren: Er formuliert sie in ihrem ganzen umfassenden Gehalt - in der Bergpredigt: „Ich aber sage euch...“ Und er fasst alle Gebote zusammen im Doppelgebot der Liebe: „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst.“

Jesus Christus stellt sich im Namen Gottes über die Gesetze und greift damit massiv ein in den Arbeitsbereich der Gesetzesverwalter, der Schriftgelehrten, Pharisäer und Hohenpriester. Der Widerstand ist von daher nachvollziehbar. Sie stellten Jesus nach und versuchten, ihn auszuschalten. Das machte die eine Seite seines Leidens aus: die Verfolgungssituation, in die Jesus durch seine abweichenden und - wie manche meinten - anmaßenden religiösen Anschauungen und Ansprüche geraten war.

Die andere Seite seines Leidens war aber theologische Absicht. Jesus Christus hat, um es vorweg verkürzt zu sagen, bewusst um unseretwillen gelitten, stellvertretend als Zeichen der vergebenden Liebe Gottes zu seinem Geschöpf Mensch. Er hat die Gnade Gottes verkündet und hat sie unter Einsatz seines Leibes und Lebens gewährt.

Vergleichen wir das einmal mit dem, was auch in unserem Staat im Rechtswesen nur der höchsten Autorität vorbehalten ist: Gnade walten zu lassen für jemanden, der zu einer langen Strafe verurteilt worden ist. Das darf nur der Bundespräsident, das Staatsoberhaupt.

Jesus Christ verkündet die Gnade Gottes, er verkündet sie jedoch nicht nur, er nimmt die Strafe des Begnadigten auf sich. Das wäre so, als wenn der Bundespräsident selbst z. B. für fünf Jahre ins Gefängnis gehen würde für jemanden, den er begnadigt und dem er die fünf letzten Jahre seiner Strafe erlassen hat.

Der Bundespräsident geht nicht stellvertretend ins Gefängnis. Jesus Christus aber nimmt die Strafe stellvertretend auf sich, um so ein deutliches überzeugendes Zeichen zu setzen. Das ist die Botschaft des Kreuzes. Das ist der theologische Hintergrund des Leidens Christi. Es verbindet sich mit dem Leiden, das ihm aus der Verfolgungssituation durch diejenigen zugefügt worden ist, die ihm nicht zubilligen wollten, an der Stelle des Höchsten die Gnade, die göttliche Gnade zu gewähren.

Der Weg von der Krippe zum Kreuz ist der Weg aus der vom Weihnachtsstern erleuchteten Nacht von Bethlehem heraus - durch die Schattenseiten des Lebens und die finstere Nacht der menschlichen Schuld hindurch - ins Licht des neuen Lebens hinein, empfangen aus der Gnade Gottes.

So ist Jesus Christus selbst für uns zum Licht des Lebens geworden: als die leibhaftige vergebende Liebe Gottes, die Gnade, die Chance zur Umkehr, das Geschenk eines lebenslangen neuen Anfangs.

Barmherzig kritisch

4. Februar 2007

Septuagesimae

(3. Sonntag vor der Passionszeit)

Matthäus 9,9-13

Beim ersten Lesen dieses Textes fiel mir der Titel eines Liedes von Franz Josef Degenhardt ein - Sie werden ihn vielleicht kennen: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“. Der Titel ist schon fast sprichwörtlich geworden. Er enthält eine soziale Kritik von „denen da oben“ gegenüber „denen da unten“. Im Lied ist diese Kritik ironisch gemeint und richtet sich in Wirklichkeit von „denen da unten“ gegen „die da oben“. Degenhardt hat mit seinem Lied Partei ergriffen für „die da unten“. Er war stets eine umstrittene Persönlichkeit. Das ist bei denen, die gesellschaftliche Kritik üben, eine wohl unausweichliche Folge.

Spiel nicht mit den „Schmuddelkindern“ - die „Schmuddelkinder“ müssten eigentlich in Anführungszeichen gesetzt werden. Denn „Schmuddelkinder“ sind sie nur aus einer bestimmten Perspektive - eben von oben her betrachtet.

So verhält es sich auch mit den Zöllnern und Sündern. Sünder sind die Betreffenden nur aus einer bestimmten Perspektive - aus der Sicht nämlich der gehobenen religiösen gesellschaftlichen Schicht: der Pharisäer und Schriftgelehrten und Hohenpriester. Auch wenn Jesus hier von den Kranken spricht, meint er dies ironisch.

Es ist an dieser Stelle vielleicht einmal wichtig, vorsorglich darauf hinzuweisen, dass wir die biblischen Äußerungen über die Pharisäer, Schriftgelehrten und Hohenpriester nicht als historisch korrekte Bewertungen dieser gesellschaftlichen Akteure jener Zeit verstehen dürfen. Gerade die Pharisäer, die ja auch in unserem Text ausdrücklich erwähnt werden, sind im Neuen Testament sehr einseitig negativ dargestellt worden als diejenigen, die übermäßig streng die Einhaltung der religiösen Gesetze forderten, ohne diese selbst in der geforderten Weise einzuhalten. Der Pharisäer ist durch die sehr einseitige Kritik der neutestamentlichen Texte zu einem Inbegriff des Heuchlers geworden - bis hin zu dem Getränk mit eben diesem Namen, dem Kaffee, in dem ein kräftiger Schuss Rum enthalten ist, der obendrauf aber ein Häubchen Schlagsahne hat, wodurch der Duft des Rums verdeckt werden soll, damit keiner merkt, was in Wirklichkeit im Kaffee verborgen ist.

Wenn wir jetzt einen Pharisäer aus der Zeit des Neuen Testaments unter uns hätten, würde der ganz bestimmt sehr erbost sein über diese, wie er das zu Recht empfinden würde, diskriminierende Art der Beschreibung seiner Gruppe.

Die neutestamentlichen Texte schildern die Pharisäer sehr einseitig negativ. Diskriminierend ist wohl der richtige Ausdruck. Nicht nur die Pharisäer kommen in diesen Texten so schlecht weg, sondern überhaupt die Gegner Jesu.

Das Auftreten Jesu war sehr konfliktreich. Und Jesus ist am Ende gewaltsam zu Tode gekommen. Da haben sich die verschiedenen neutestamentlichen Autoren im Rückblick in Erklärungen versucht. Diese dürfen wir wirklich nicht als historisch korrekt verstehen - sonst würden wir uns in antijüdische Vorurteile hineinreißen lassen mit möglichen Folgen, wie sie historisch vielfach belegt sind und wie wir sie auch in unserem Land vor gar nicht langer Zeit in dramatischster Weise erlebt haben.

Das neutestamentliche Reden über die Pharisäer und überhaupt über die Gegner Jesu sollten wir mit Vorsicht betrachten. Diese Warnung muss immer wieder ausgesprochen werden.

Es ist andererseits so, dass das Wirken Jesu, wie bereits gesagt, sehr konfliktträchtig gewesen ist. Für unsere Theologie ist das Leiden Jesu und seine Kreuzigung theologisch von grundlegender Bedeutung. Wir können diese Konflikte nicht einfach streichen. Aber - und das ist eben ganz wichtig - wir müssen von der wirklichen historischen Situation in einem gewissen Maß absehen und nach dem theologischen Gehalt der Konflikt- und Leidensgeschichte Jesu in seiner wesentlichen, grundlegenden Bedeutung fragen.

Wir könnten z. B. fragen: Die Pharisäer - sind das nicht wir? Wir - mit zumindest einem Anteil unserer Wesensart. Müssen nicht wir uns die Kritik Jesu zuziehen? Sind nicht wir diejenigen, die sich mit einem manchmal problematischen Maß an Selbstgerechtigkeit gelegentlich über die anderen erheben und andere abqualifizieren? Was sagen wir denn manchmal z. B. über Arbeitslose? Was sagen wir manchmal über Ausländer? Wie reden wir über Menschen anderer religiöser Zugehörigkeit? Wie reden wir über Arme, über die Länder, in denen Armut herrscht? Wie reden wir über Obdachlose? Wie reden wir über „die Reichen“? Wie reden wir über Menschen mit Behinderungen? Wie reden wir über Straffälliggewordene? Wie reden wir als Männer über Frauen, als Frauen über Männer? Wie reden wir über Vorgesetzte, wie reden wir über Mitarbeiter?

Es geht um das Thema Vorurteile, um die Klassifizierung von Menschen, von Gruppen; es geht um das Thema Selbstgerechtigkeit. Es geht darum, dass sich die einen über die anderen erheben.

Es geht nicht darum, Kritik zu unterdrücken. Es geht nicht darum, dass wir nicht bestimmte Menschen, bestimmte Gruppen, bestimmte Vorgänge kritisch sehen dürften. Wir dürfen durchaus kritisch sein. Gelegentlich sollen und müssen wir auch Kritik üben. Aber es kommt schon sehr auf die Art der Kritik an. Was Jesus einfordert, ist das zur Kritik hinzugehörende Maß an Selbstkritik und das zugehörige Maß an Barmherzigkeit.

Kritik, die die Fehler nur bei anderen sieht, ist nicht in Ordnung. Und Kritik, die es darauf abstellt, den anderen klein und kaputt zu machen, ist auch nicht in Ordnung.

Jesus selbst ist sehr kritisch. Unser Text ist ein Beispiel dafür. Er übt seine Kritik hier zunächst nicht verbal, sondern durch ein ungewöhnliches Verhalten, das von einigen - genannt sind hier die Pharisäer - als provokant empfunden wird. Jesus zieht dadurch zunächst einmal die Kritik anderer auf sich selbst.

Er hat nämlich einen Zöllner als Jünger berufen und setzt sich mit „Zöllnern und Sündern“ an einen Tisch und isst mit ihnen. Das fordert die Pharisäer zu der Frage an die Jünger heraus - und die Frage ist nicht informativ, sondern kritisch gemeint: „Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“ Die Pharisäer sind empört. Ihre Frage hätte im Sinne des anfangs zitierten Liedes auch lauten können: „Warum spielt euer Meister mit den Schmuddelkindern?“

Was ist aus der Sicht der Pharisäer so schlimm an den Zöllnern? Zöllner waren wegen ihres Berufes schlecht angesehen, weil sie für die römische Besatzungsmacht arbeiteten. Das war aus politischen Gründen anrüchig. Und da die Römer eine andere Religion hatten, verunreinigten sich die Zöllner - aus religiöser Sicht - durch ihren Kontakt mit ihnen. Außerdem wurde den Zöllnern unterstellt, dass sie mit dem Geld nicht immer ehrlich umgingen. Sie werden im Neuen Testament oft zusammen genannt mit den Sündern. „Zöllner und Sünder“ - das war ein feststehender Begriff für „schlechte Menschen“. Mit denen also setzte sich Jesus an einen Tisch. Das war für die Pharisäer, so schildert es unser Predigtabschnitt, ganz offensichtlich eine Provokation. Sie fragen die Jünger empört: „Was soll das?“

Jesus hat mit seinem Verhalten unausgesprochen faktisch Kritik an bestimmten Einstellungen in der Gesellschaft geübt und zieht damit die Kritik der anderen auf sich.

Wogegen wendet sich Jesus kritisch mit seinem Vorgehen? Er wendet sich dagegen, dass Menschen deklassiert werden, dass sie aus religiösen, aus sozialen, aus politischen, aus moralischen Gründen als Menschen zweiter oder dritter Klasse behandelt werden.

Wir können davon ausgehen, dass Jesus unrechtes und unmoralisches, sündhaftes Verhalten keineswegs billigen wollte - nach dem Motto: Ist doch alles nicht so schlimm. Nein, das nicht. Aber er wandte sich dagegen, Menschen, aus welchen Gründen auch immer, auszugrenzen. Wenn mit Menschen etwas nicht in Ordnung war, wenn an ihnen etwas zu kritisieren war, dann sah er es als seine Aufgabe an, sich diesen Menschen mit um so mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden und ihnen zu helfen, wieder zurechtzukommen - so, wie ein Arzt sich um heilungsbedürftige Kranke kümmert oder wie sich z. B. eine Lehrkraft um Schüler kümmert, die ja nun mal der Lehre, der kritischen Hinweise auf ihre Fehler und der Erziehung bedürfen.

Was wäre das für eine Gesellschaft, die ihre Kranken ausgrenzt?! Im Dritten Reich ist dies z. B. mit behinderten Menschen geschehen. Was wäre das für eine Gesellschaft, die ihre minderbegabten Kinder und Erwachsenen sozial an den Rand drängt, die Straffälliggewordene sozial ächtet, die Andersdenkende, Andersredende mundtot macht und Andershandelnde und Andersseiende auszuschalten versucht?! Das Leben in einer solchen Gesellschaft wäre wohl in menschlicher Hinsicht überaus unangenehm.

Wo Probleme, welcher Art auch immer, in Menschen gesehen werden, da kann die Lösung nicht sein, dass sie an den Rand gedrängt werden, dass sie deklassiert werden, dass sie geächtet werden oder auch nur verachtet werden. Das wäre unmenschlich, unbarmherzig. Wo Probleme im Menschen sind, da ist vielmehr besondere Zuwendung vonnöten, um Probleme auszuräumen oder sie zu verringern.

Jesus begegnet der empörten und kritischen Anfrage an sein Verhalten mit dem Hinweis auf einen Propheten des Alten Testaments, Hosea: „Lernt, was das heißt: Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“ Er ruft seine Kritiker zur Barmherzigkeit auf. Als seine Kritiker betrachtet er nicht nur die Pharisäer, denen die Gesetze so wichtig sind, sondern, wie seine Bezugnahme auf den Opferkult zeigt, auch die Priester des Jerusalemer Tempels.

Jesus wendet sich gegen Ausgrenzungen jeder Art. Er setzt sich für einen menschlichen, barmherzigen, liebevollen Umgang in der Gesellschaft ein. Er setzt sich mit seiner verbalen und faktischen Kritik erheblichen Risiken aus. Seine Gegner bringen ihn schließlich ans Kreuz. Sein Anliegen aber ist lebendig geblieben.

Sein Reden und Handeln ist auch für uns heute noch ein dauerhafter Anstoß, uns immer wieder für eine menschliche Gesellschaft einzusetzen.

Einmal reicht nicht

11. Februar 2007

Sexagesimae

(2. Sonntag vor der Passionszeit)

Jesaja 55,10-12a

„Das habe ich dir doch schon hundertmal gesagt!“ Vielleicht ist Ihnen dieser Satz auch schon des Öfteren über die Lippen gekommen. Für alle, die vor der Aufgabe der Erziehung stehen, ist dieser Seufzer wohl Standard. Man redet sich den Mund fusselig und nichts passiert.

Es sind nicht nur Eltern und Lehrkräfte, die diese frustrierende Erfahrung machen: dass Worte verpuffen können, als wären sie nie gesprochen. Wir alle stehen täglich vor diesem Phänomen: dass wir vieles endlos oft wiederholen müssen. Allerdings sind wir selbst wohl auch nicht besser. Auch wir verhalten uns oft, als wären wir schwerhörig. Es ist ein offenbar allgemein menschliches Phänomen - und zwar ein sehr vielschichtiges, dass manches in das eine Ohr hinein- und aus dem anderen Ohr gleich wieder hinausgeht.

Das Wort - das Wort ist keineswegs kraftlos. Ein paar nette Worte z. B. können einen Menschen aufblühen lassen: „Schön, dass du da bist!“ Das ist Balsam für die Seele. Worte können einen Menschen aber auch fertigmachen: „Hau ab, zieh Leine!“ Das sticht ins Herz.

Ein einzelnes Wort kann sogar über den weiteren Lebensweg entscheiden. Vor Gericht: „Schuldig!“ Ein Wort - und wir müssen die nächsten Jahre im Gefängnis verbringen. Oder einfach das Wörtchen „Ja“ - und wir haben uns entschieden, unseren Lebensweg bis zum Ende mit einem ganz bestimmten Menschen zu gehen - und jemand anderes hat sich für uns entschieden.

Worte können über Leben und Tod entscheiden. Wenn im Bundestag über den Einsatz deutscher Soldaten in einem Krisengebiet entschieden wird, ist das eine Entscheidung auch über Leben und Tod einzelner Soldaten und vieler anderer Menschen.

Das Wort hat eine enorme Kraft. Wenn wir z. B. die Bibel nehmen: Die Worte der Bibel haben die Welt bewegt. Sie haben die Herzen und Hände endlos vieler Menschen bewegt. Aus diesen Worten sind Kirchen geworden, soziale Einrichtungen. Diese Worte haben viel Gutes ausgerichtet, sie haben Frieden gestiftet, aber auch Streit und Kriege ausgelöst.

Worte haben eine gewaltige Macht. Aber sie können auch wirkungslos verpuffen. Manches wird immer wieder und wohl auf ewig wiederholt werden müssen: „Seid lieb zueinander!“ - und schon streiten wir uns weiter, sogar mit Menschen, die wir gernhaben. Jedes Jahr feiern wir Weihnachten: „Friede auf Erden allen Menschen!“ Immer wieder dieselbe Botschaft. Und wir hören sogar hin und lassen uns innerlich sogar anrühren. Und für einen Augenblick ergreifen diese Worte sogar unsere ganze Person, unser Fühlen und Denken und Wollen und Tun. Ein paar friedvolle Momente mag es geben. Aber dann kommt wieder der Alltag mit seiner ganzen Kraft und verdrängt die guten Worte in die Tiefen unserer Seele. Es bedarf des nächsten Weihnachtsfestes, um sie wieder zum Leben zu erwecken.

Das Leben ist Bewegung. Einmal reicht nicht. Einmal frühstücken reicht nicht. Jeden Morgen holen wir wieder das Brot heraus. Und einmal was sagen, reicht eben auch nicht. „Pass schön auf dich auf!“ Bei jedem Abschied sagen wir es wieder.

Auch das, was sich vor 2000 Jahren ereignet hat, zu unseren Gunsten, bedarf der ständigen Aktualisierung: „Jesus Christus für uns gestorben“: ein Geschehen mit einer Aussage, die für uns auf immer gilt, ein für allemal. Aber wir müssen die Worte wiederholen - in Lesungen, in Predigten, in Gesprächen. Wir müssen den Worten Gestalt geben, immer wieder, in liturgischen Feiern, im Abendmahl, in Kunst und Musik.

Worte sind für uns so wichtig wie der Herzschlag. Sie müssen wiederholt werden, ein Leben lang. Keine Worte - kein Leben. Denn wir werden ganz wesentlich über unser Hirn gesteuert. Das braucht die geistige Nahrung wie der Leib die feste Speise. Wir leben nicht vom Brot allein - anders als die Tiere, die fressen und fressen, und das reicht.

Wir brauchen zusätzlich die geistige Nahrung. Aber wir leben auch nicht vom Wort allein. Es reicht nicht, dass unser Hirn mit Worten vollgestopft wird. Die Worte müssen in Taten umgesetzt werden. Der Mensch muss handeln, selbstbestimmt handeln, vom Bewusstsein gesteuert, von seinem eigenen Willen gelenkt: das ist die Chance des Menschen, das macht seine Würde aus, das ist zugleich sein Schicksal, eine manchmal wirklich nicht leichte Aufgabe: immer wieder Entscheidungen fällen zu müssen.

Es kommt schon sehr darauf an, was für Worte uns zur Verfügung stehen. Und dann kommt es auch sehr darauf an, was wir aus diesen Worten machen.

Was für Worte stehen uns zur Verfügung? Das hängt zum einen davon ab, mit welchen Menschen wir zu tun haben - was sie uns sagen: ob sie uns z. B. etwas Nettes sagen, etwas Aufbauendes, etwas Ermutigendes, Weiterführendes, etwas Hilfreiches. Oder ob sie uns mit Worten immer wieder runterreißen.

Wir, die wir hier versammelt sind, wissen etwas von einer ganzen Schatzkiste voller guter Worte. Das ist die Bibel. In diesem Buch steht wirklich so viel Wunderbares. Damit könnte unsere ganze Erde zum Blühen gebracht werden. Da ist aber kein Fastfood drin, das man sich mal eben ganz billig reinziehen könnte. Da ist auch kein Kunstdünger drin, den sich einige am Schreibtisch ausgedacht und im Labor und in einer Versuchsreihe getestet haben und mit wirtschaftlichen Gewinnabsichten auf den Markt bringen.

Die Worte der Bibel sind aus dem Leben erwachsen, in vielen Jahrhunderten. Menschheitserfahrungen haben sich hierin verdichtet und verbunden mit einer Liebe zum Leben und zum Menschen. Es sind Worte über das Werden und Vergehen, über das Leben und über den Menschen.

Gott sprach das schöpferische Wort: „Es werde Licht“ - und es wurde das Licht. Es werde der Himmel, es werde die Erde, es werde die Natur, es werde der Mensch - und es wurden Himmel und Erde, Natur und Mensch. Das wäre zu schön, wenn wir das auch könnten: ein Wort - und es geschieht.

Aber so wörtlich dürfen wir das alles nicht nehmen. Das Werden war ein Milliarden Jahre langer Prozess - und im kleinen Rahmen, in den kleinen menschlichen Dingen dauert eben auch vieles lange. Geduld ist eine ganz wichtige Tugend.

Wichtig und gut für uns und für uns alle ist, dass wir die Worte der Bibel überhaupt ernst nehmen, dass wir sie ernsthaft in unseren Hirnen und Herzen bewegen und wir uns zum Nachdenken und vielleicht zum Umdenken bringen lassen, dass wir uns zur Besinnung, zur inneren Einkehr und Umkehr bringen lassen, dass wir uns trösten, uns verzeihen, uns ermutigen, uns Hoffnung machen lassen und dass wir dann unsererseits Gutes daraus machen - für uns selbst, aber nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Menschen um uns herum und auch für die Menschen weiter weg. Dass die biblischen Worte also Frucht bringen - in uns und durch uns.

Der Predigttext bringt noch etwas zum Ausdruck, was ganz tröstlich ist. „So, wie der Regen vom Himmel fällt“, heißt es da, „und nicht wieder leer zurückkehrt, sondern die Erde befeuchtet und etwas wachsen lässt, so wird es auch mit dem Wort Gottes sein.“ Die Worte Gottes sind nicht vergebens. Auch wenn sie nicht immer gleich Frucht bringen, so kann es doch sein wie in der Wüste, wo im Boden die Samen schlummern. Wenn dann irgendwann mal Regen fällt, dann entfalten sie sich, blühen auf und bringen Frucht. Auch als Eltern kann man diese wundersame Erfahrung machen, dass erst nach Jahren das gar nicht mehr Erwartete geschieht: dass dem Kind gegebene Ratschläge erst bei dem Erwachsengewordenen Früchte tragen.

Das Wort Gottes hat schon Jahrtausende hinter sich. Es hat Phasen gegeben, in denen es von ganzen Generationen kaum gehört worden ist. Dann konnte es plötzlich wieder die Herzen und Hirne und Hände und Füße bewegen. Mir scheint, wir befinden uns wieder zunehmend in einer solchen Phase erhöhter Aufmerksamkeit für das Wort Gottes.

In einer Zeit, in der die technische Entwicklung fast alles möglich zu machen scheint, stellen sich die unbegrenzten Möglichkeiten schon fast als Überforderung dar. Mit Menschen überall in der Welt kann ich kommunizieren, sogar stundenlang und kostenlos und mit einer Identität, die ich mir einfach ausdenke. Ich kann mich in virtuelle Wirklichkeiten - besser gesagt: Unwirklichkeiten - hineinsteigern, in denen es kaum noch Maßstäbe gibt. Die Realität, das echte Leben mit echten Menschen aus Fleisch und Blut wird da wieder zu einer Herausforderung, zu einer hohen Anforderung, für manche auch zu einer Überforderung, zu einem Lernfeld, in dem wir nach wertvollen, hilfreichen Inhalten, nach Lebensorientierung, nach Rat und Halt ganz neu und begierig, vielleicht sogar fast verzweifelt Ausschau halten.

Bei der Suche kommt auch die Bibel wieder in den Blick. Die biblischen Texte haben nicht die eine Antwort auf alles parat. Aber da ist eine Schatzkiste, in der zu stöbern sich lohnt, weil sich das wahre Leben darin verdichtet hat - mit einer Liebe zum Leben und zum Menschen. Da ist nicht Gold und Silber drin, sondern etwas viel Wertvolleres - wie gesagt: die Liebe zum Leben und zum Menschen, göttliche Gaben und eine lohnende, sinnvolle Lebensaufgabe zugleich.

Die Bibel ist gewiss kein leicht zu lesendes und kein leicht zu verstehendes Buch. Aber es enthält Worte des Lebens. Diese Worte wollen gesucht und entdeckt werden. Sie wollen gehört und bedacht werden. Und sie wollen etwas bewegen. Sie wollen unsere Herzen und Hirne bewegen - und unsere Hände und Füße. Sie wollen etwas wachsen lassen und in uns und durch uns Frucht bringen.

Seien wir also bereit als der fruchtbare Boden für die guten Worte Gottes - uns selbst und allen Menschen und der ganzen Schöpfung Gottes zum Wohl.

Brot fürs Herz

18. März 2007

Laetare

(4. Sonntag der Passionszeit)

Johannes 6,47-51

In diesem Gottesdienst feiern wir das Abendmahl. Das passt gut zu unserem Predigttext. Dieser Text fordert uns geradezu dazu auf, über das Abendmahl einmal etwas grundsätzlicher nachzudenken - im Zusammenhang mit dem Leiden und Sterben und Auferstehen Jesu Christi.

Abendmahl - Abendessen - Abendbrot: Wer sich in kirchlichen Dingen nicht auskennt, könnte sich zunächst fragen: Was gibt es denn zu essen?