Der Landpostbote Zwinkerer und andere Erzählungen - Adam Scharrer - E-Book
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Der Landpostbote Zwinkerer und andere Erzählungen E-Book

Adam Scharrer

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Beschreibung

Der Krieg ist allgegenwärtig – nicht nur an der Front, sondern auch in den Dörfern und Stuben der einfachen Leute. Landpostbote Zwinkerer bringt nicht nur Briefe, sondern auch Schicksale. Er kennt die Sorgen der Bauern, die um ihr Land kämpfen, der Mütter, die auf Nachrichten ihrer Söhne hoffen, der Heimkehrer, die gebrochen zurückkehren. Mit wachem Blick und feinem Gespür wird er zum stillen Chronisten einer Zeit, in der Menschen zwischen Anpassung, Angst und leiser Gegenwehr ihren Weg suchen. Adam Scharrer erzählt in diesen eindringlichen Erzählungen vom alltäglichen Überlebenskampf im Dritten Reich und während des Zweiten Weltkriegs. Seine Geschichten sind bewegende Momentaufnahmen einer Gesellschaft, die zwischen Propaganda und Wahrheit, Pflicht und Gewissen zerrissen ist. Doch selbst in den dunkelsten Tagen keimt Widerstand – in Mut, in Trotz, in kleinen Gesten der Menschlichkeit. Ein literarisches Mahnmal, das Geschichte lebendig macht und uns daran erinnert, wie nah Verzweiflung und Hoffnung beieinanderliegen.

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Seitenzahl: 209

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Adam Scharrer

Der Landpostbote Zwinkerer und andere Erzählungen

ISBN 978-3-68912-441-07 (E–Book)

Das Buch erschien 1944 im Verlag für Fremdsprachige Literatur, Moskau.

Das Titelbild wurde mit der KI erstellt.

© 2025 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

DER MANN, DER SICH DURCH SCHWEIGEN RETTEN WOLLTE

Der Soldat Rambach schreckte aus einem unruhigen Schlaf auf, obwohl er noch eine bleierne Müdigkeit in allen Gliedern spürte. Diese sonderbare schwere Müdigkeit hatte ihn schon am Abend befallen und sie war anders als sonst. Niederdrückend und von einer nervösen Unruhe war sie, und der Schlaf hatte sie nicht vertreiben können. Wie ein verbissener Zweikampf zwischen Unruhe und Schlaf war es; quälende Träume und die Erinnerungen der letzten Monate hatten sich zu einem spukhaft schrecklichen Tanz vereinigt und Rambach so lange attackiert, bis er nun endlich aufrecht saß und ins Dunkle starrte.

Aber nun war er ganz wach und außer Zweifel, wo er sich befand. Rechts von ihm lag Kehlmann, zusammengekauert wie ein Igel, das Gesicht zur Brust geneigt, die Decke über den Kopf gezogen, als wolle er sich auch im Schlaf möglichst absondern. Rambach wusste von Kehlmann nur, dass dieser Kupferschmied war. Er war sehr wortkarg, obwohl er offensichtlich über viele Dinge seine eigene Meinung hatte. Als die deutschen Truppen auf dem Vormarsch mit schonungsloser Grausamkeit gegen die zurückgebliebene Zivilbevölkerung vorgingen, war nie ein Wort der Billigung über seine Lippen gekommen. Einmal trug er seine Abscheu wohl gar zu offen zur Schau, denn ein betrunkener Unteroffizier hatte ihn angerempelt und gesagt: „Nun, warum ziehst du so eine Fresse? Tun dir wohl leid, diese bolschewistischen Verbrecher?“ Da gab ihm Kehlmann zur Antwort: „Entschuldigen, Unteroffizier – ich habe die Nachricht erhalten, dass meine Mutter in Osnabrück durch englische Fliegerbomben getötet worden ist.“

Rambach hatte diese Äußerung zufällig gehört und dann erfahren, dass sie nicht der Wahrheit entsprach. Kehlmann hatte den Unteroffizier nur verblüffen wollen, und das war ihm gelungen. Aber diese Antwort war Rambach trotzdem oder gerade deswegen so lebendig im Gedächtnis geblieben. Und auch jetzt war sie ihm gegenwärtig, als Kehlmann sich auf die andere Seite drehte. Gleichsam wie ein Motto war sie in seinem Hirn haftengeblieben und überschattete alle andern Erlebnisse: den immer neuen Einsatz frischer Reserven und deren Vernichtung durch die russische Gegenwehr, die brennenden Städte und Dörfer, die peitschende deutsche Propaganda, die die Einnahme von Moskau und die Zerschlagung der russischen Armeen in allernächster Zeit prophezeit hatte. Dann war plötzlich Schnee gefallen, strenge Kälte war eingetreten und das Regiment hatte in einem Dorf westlich von Kaluga Quartier bezogen; angeblich sollte es in Reserve bleiben. Die Berichte des Oberkommandos der Wehrmacht wussten trotz krampfhafter Bemühungen bei der Herauskehrung deutscher Heldentaten keine Fortschritte in der Richtung auf Moskau zu melden. Das Thermometer war auf dreißig Grad unter Null gesunken und die Straßen waren tief verschneit, die Zufuhr von Material aller Art stockte, weil die Lastkraftwagen nur mit großen Schwierigkeiten durch den Schnee kamen und das synthetische Benzin in der großen Kälte zu kleinen Kristallen erstarrte, anderer Treibstoff aber in ausreichender Menge nicht vorhanden war. Lebensmittel und warme Wintersachen waren rar, und der Abgang an Kranken wuchs beträchtlich; in der Hauptsache waren es Frostschäden und Erkältungskrankheiten, die der Truppe zu schaffen machten.

Rambach, mit seinen dreiundvierzig Jahren, war nun eineinhalb Jahre an der Front. Er hatte für November, spätestens Dezember auf Heimaturlaub gehofft, um seine in Hamburg wohnhafte Familie besuchen zu können. Aber an Urlaub war vorerst nicht zu denken und Rambach empfand ein Grauen vor dem kommenden Tag. Die Kompanie war mit dem Ausbau ihrer Stellungen beschäftigt; eine Arbeit, die wegen der Kälte und der körperlichen Anstrengungen Missstimmungen hervorrief und die Soldaten in dem Verdacht bestärkte, dass es vorerst vorbei war mit dem Vormarsch und ihnen nun ein schrecklich langer Winter bevorstehe. Was bis dahin wohl sein würde? … Der Teufel mochte das wissen.

Diese Antwort gab sich Rambach selbst, und er sagte sie laut in die Nacht hinein, so dass sein Nebenmann sie hören konnte. Pfannschmied hieß der, ein noch junger Mensch, auch aus Hamburg, Tischler von Beruf wie Rambach, und der Zufall wollte, dass sie, die beide bei der Firma Blohm & Voß in einer Abteilung gearbeitet hatten, nun auch hier an der Ostfront in dieselbe Kompanie gekommen waren.

„Was weiß der Teufel?“, fragte Pfannschmied den neben ihm sitzenden Rambach, und dieser war erst gar nicht willens, eine Antwort zu geben. Aber der herausfordernde Ton, den Rambach so gut an diesem Pfannschmied kannte, erinnerte ihn in aufdringlicher Weise an eine andere Frage, die Pfannschmied einige Wochen vorher in einem andern russischen Dorf an Rambach gestellt hatte. Ein Mann hatte dort an einem Galgen gehangen, ein großer, hagerer, alter Mann mit schwarzem Bart, steif gefroren, schauerlich anzusehen. Und am Nachmittag, als die Kompanie Quartiere bezog, hatte Pfannschmied Rambach gefragt: „Hast du den Bolschewisten hängen sehen? Ist das nicht zum Totlachen?“ – „Zum Lachen ist das meiner Ansicht nach gar nicht!“, hatte Rambach geantwortet und dann hartnäckig geschwiegen. Auch jetzt schwieg er. Da fragte Pfannschmied weiter: „Warum schläfst du nicht? Du spinnst wohl?“

Und diese weitere Frage, die recht vieldeutig und verfänglich klang, war voll offener Feindseligkeit, einer Feindseligkeit, die noch von der Firma Blohm & Voß her zwischen Rambach und Pfannschmied wucherte und stets offen in Erscheinung trat, wenn Rambach und Pfannschmied zu einer beruflichen Arbeit kommandiert wurden. Rambach hatte nämlich bei Blohm & Voß als Meister gearbeitet, und er war ein erfahrener Tischler. Vor dem Krieg hatte er ein eigenes Geschäft besessen, aber damit war es immer weiter abwärts gegangen. Er war überschuldet, aber für Kredite an Handwerksmeister hatte der Nazistaat wenig übrig, und darum hatte Rambach den schon früher in Erwägung gezogenen Plan verfolgt, in einem großen Werk als Abteilungsleiter unterzukommen. Als die deutsche Rüstungsindustrie mit Volldampf zu arbeiten begann, war ihm das dann bei der Firma Blohm & Voß gelungen. Er hatte sein Geschäft aufgegeben, aber Wohnung und Werkstatt gerettet und in seiner freien Zeit noch manche Arbeit auf eigene Rechnung erledigen können. Zufrieden war er mit seinem Schicksal nicht, aber er hoffte irgendwie auf bessere Zeiten und wollte dann wieder von vorn anfangen. Seiner politischen Auffassung nach gehörte er zu den Demokraten, die im Alten wurzeln und den Fortschritt nur an ihrer eigenen Existenz messen. Er lehnte daher auch alle linksgerichteten Bestrebungen ab, von denen er eine Bedrohung der Verhältnisse befürchtete, aus denen er gekommen war. Er unterhielt auch fast gar keine persönlichen Beziehungen; die Jahre nach 1933 waren für ihn einsame Jahre gewesen. Er hatte sich völlig seinem Beruf gewidmet und die Firma war mit ihm zufrieden gewesen.

Aber in dieser Zeit wurde ein Geist herangezüchtet, der unentwegt auf Krieg zusteuerte, und die sich häufenden Aufträge bei der Firma Blohm & Voß lagen ganz in dieser Linie. Als dann die deutsche Armee in Polen einbrach, hätte Rambach sich am liebsten ganz von allem zurückgezogen, wie seinerzeit, da er noch als recht junger Mann den Entschluss fasste, von seinem Gesellenlohn jeden Pfennig zu sparen, den er nicht unbedingt zu seinem bescheidenen Lebensunterhalt benötigte, um sich auf diese Weise ein eigenes Geschäft zu gründen. Er hatte sich eine kleine Werkstatt mit Einrichtung in hartnäckiger Weise erhungert. Der Sprung vom Lohnarbeiter zum selbstständigen Handwerksmeister war ihm nicht leicht geworden, aber er war ihm gelungen.

Nun suchte Rambach wieder auszuspringen, aber er sah keine Möglichkeit für einen Sprung aus seiner Lage. Selbst das Lavieren wurde immer schwerer. Als Abteilungsmeister hatte er im Betrieb den vorlauten SA-Burschen gegenüber eine gewisse Distanz wahren können, wobei ihm auch die Tatsache zugute kam, dass die lautesten Schreier in ihrem Beruf größtenteils die Untüchtigsten waren. Er hatte sich gerne auf seine Weise an ihnen gerächt, aber als er dann selbst Soldat werden musste, waren Burschen solcher Art sehr oft seine Vorgesetzten, und er hatte einfach zu gehorchen und zu schweigen.

Mit der Zeit hatte jedoch dieses Schweigen ein gewisses Eigenleben bekommen und war zu einer allgemeinen Erscheinung geworden. Als fast ganz Europa durch die deutschen Siege in eine Hungerwüste verwandelt, die deutschen Heere jedoch im russischen Winter steckengeblieben waren, breitete sich dieses Schweigen wie eine Seuche auch an der Ostfront aus, und auch eine Charakterisierung für diese Schweiger war bereits vorhanden. „Spinner“ wurden sie genannt und man hatte sie im Verdacht, dass sie nur auf eine Gelegenheit warteten, aus dem schier ausweglosen Schlamassel irgendwie herauszukommen.

Rambach verstand daher sehr wohl, worauf Pfannschmied abzielte, als dieser fragte: „Du spinnst wohl?“, und er fühlte sich gewissermaßen auf frischer Tat ertappt. Doch bei weiterer Überlegung schien es ihm, als hätte er mit seiner Frage: „Das weiß vielleicht der Teufel?“ nichts Fassbares gesagt. Er hatte Fieber, das spürte er, die Frage konnte sich also sehr wohl auf seine Krankheit beziehen. Aber nun erst spürte er auch bis ins Innerste, wie er diesen Pfannschmied hasste, diesen vierundzwanzigjährigen Lümmel, der sich einen Tischler nannte und noch nicht einmal einen einwandfreien Fensterrahmen zustande brachte; der nicht nur wegen Mangel an Erfahrung ein Pfuscher war, sondern überhaupt ein völlig unzuverlässiger und unernster Mensch, der sich ausgezeichnet aufs Plündern, Lügen, auf Gesinnungsheuchelei und Angeberei verstand, ein von Grund aus roher Patron. ,Dieser Bursche soll sich ja nicht einbilden, dass er mich ins Bockshorn jagen kann', sagte sich Rambach und besann sich darauf, dass der Hauptmann seine Berufsarbeit schon zu würdigen wusste und sich auch bereits günstig über sie geäußert hatte, ohne Pfannschmied dabei zu erwähnen, und deswegen fühlte sich Rambach stark genug, um nach einiger Zeit in aller Ruhe und mit allem Nachdruck zu antworten: „Mich kannst du am Arsch lecken!“

Dann war es wieder still im Unterstand, so still, dass man die Schnarchtöne der einzelnen Soldaten voneinander unterscheiden konnte, und man hörte das Knirschen des gefrorenen Schnees unter den Sohlen des draußen patrouillierenden Postens. Pfannschmied sagte nur noch gehässig: „Reg dich nur nicht auf, Kamerad!“ Aber vielleicht hörte auch er nun schon schärfer auf das heftige Maschinengewehrfeuer der linken Nachbarkompanie und die dumpfen Einschläge der Granaten und Minen und darauf die hellknallenden Geschütze russischer Panzer – und dann hämmerten die Maschinengewehre im eigenen Abschnitt los.

Hätten die Russen nur in der erwarteten Richtung angegriffen, wäre zur Verteidigung wohl alles in Ordnung gewesen, aber die Kompanie wurde schon nach kurzem Kampf von links her durch Flankenfeuer gefasst und die telefonische Verbindung mit der Nachbarkompanie und dem Bataillonsstab riss ab. Das alles war zuerst ganz unbegreiflich. Wenn ein Durchbruch erfolgt war, musste ja die erste Stellung bereits überrannt sein. Aber bald war kein Zweifel mehr darüber, dass dies so war. Vorgeschobene Artillerie und Panzer, in Hast beladene Kraftwagen kamen zurück und fuhren ohne Aufenthalt weiter. Das Flankenfeuer der russischen Feldartillerie und der Granatwerfer wurde dichter und hatte offenbar die Absperrung der einzigen Rückzugsstraße zum Zweck. Als nun auch die Kompanie Befehl zum Rückzug erhielt, war die Panik vollkommen.

Wo sich ein Wagen in Bewegung setzte, war er rasch überfüllt, und da einige wegen Frostschäden oder Treibstoffmangel nicht betriebsfähig waren, gestaltete sich der Rückzug der Kompanie zu einer hastigen Flucht. Rambach war kaum fähig, sich auf den Füßen zu halten. Die schneidende Kälte hatte ihn mit so verbissener Gewalt erfasst, dass er kaum zu atmen vermochte und nur ganz verschwommen wahrnahm, was um ihn vorging. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: nicht zurückbleiben, nicht erfrieren! Er warf deshalb sein Gewehr weg und versuchte einige Male, auf vorbeifahrende Geschütze oder Transportwagen zu klettern, die stoppen mussten, weil die vor ihnen steckengebliebenen Fahrzeuge die Straße versperrten. Aber diese Versuche misslangen. Die auf dem Rückzug befindlichen Soldaten verteidigten ihren Platz rücksichtslos, um nur mitzukommen. Wie von magischer Kraft getrieben, torkelte Rambach zu Fuß weiter, immer in Angst, von hinten überfahren oder von einer der ringsum krepierenden russischen Granaten getroffen zu werden, die die hart gefrorene Erde unter dem Schnee aufrissen und diesen in riesigen Fontänen hochwirbelten. Von einer dieser Schneefontänen wurde Rambach erfasst und mit solcher Gewalt zu Boden geworfen, dass nur ein stechender Schmerz in der linken Schulter ihn wieder zum Bewusstsein brachte. Er war von einem der hochgeschleuderten, hart gefrorenen Erdbrocken getroffen worden, und als er sich aus dem Schnee gewühlt und erhoben hatte, wurde ihm so übel, dass er erbrechen musste. Der singende Wind peitschte Schneewehen über ihn hinweg. Fast schon ohne Kraft und Besinnung stolperte er über einen steifgefrorenen Soldaten und sah, dass dieser offenbar vom Raupenband eines flüchtenden Panzers erfasst und schrecklich verstümmelt worden war.

Eine Stimme sagte plötzlich: „Rambach, bist du’s?“ Rambach wusste sofort, dass es Kehlmann war. – „Ja, Kamerad“, antwortete er und spürte dabei, wie eine Schneewehe sich um ihn auftürmte. Unter Aufbietung aller Kräfte schrie er gegen den Sturm an: „Ich kann nicht mehr weiter, Kehlmann! … Ich bin verloren!“ – „Vielleicht geht es doch noch?“, sagte Kehlmann in ermutigendem Ton und half Rambach aus der Schneewehe. „Wir müssen irgendwo unterkommen, sonst sind wir beide verloren.“ Dann sagte er noch, dass sie in der Nähe der Endstation einer Feldeisenbahn sein müssten und dass dort einige Unterkünfte seien. „Vielleicht finden wir sie. Sie müssen hier links sein, wo der Wald beginnt … Ich hab’ noch etwas Zwieback bei mir und auch Streichhölzer.“

Kehlmann, der sein Gewehr bei sich trug, war Rambach beim Gehen behilflich, und diese Hilfsbereitschaft erweckte neue Hoffnung und neue Kräfte in Rambach. Er strengte sich sehr an, dem Kameraden nicht zu sehr zur Last zu fallen, und so erreichten sie den Wald, der einigermaßen vor dem Sturm schützte. Hier waren auch die Wagenspuren noch nicht völlig verweht, nach ihnen konnte Kehlmann sich irgendwie orientieren. Nach qualvollem Suchen gelangten sie schließlich in dem hohen Schnee zu einem der provisorisch erbauten Blockhäuser. Der Sturm hatte das Dach und den Schornstein kahlgefegt, sonst hätten sie die Umrisse dieses Blockhauses wohl kaum bemerkt. Der Zugang war verschneit und verweht. Die Tür ließ sich nur mit Mühe so weit öffnen, dass beide eintreten konnten.

Papier und Konservenbüchsen, Riemenreste und Reste von Schnüren, alles deutete darauf hin, dass das Blockhaus sehr rasch geräumt worden war. Auf einer Holzpritsche lagen zwei zerlegene Strohsäcke und einige Decken, an der Wand baumelte ein Draht, an dem wohl der Telefonhörer gehangen hatte; in der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, um ihn herum einige Stühle und Hocker, und auch ein gusseiserner Ofen war da. „Großartig!“, sagte Kehlmann nach einem flüchtigen Blick in die Runde. „Erfrieren werden wir vorerst nicht.“ Er entledigte sich rasch seines Rucksackes, suchte Streichhölzer hervor und probierte eines. Es brannte. „Gerettet!“, stellte er triumphierend fest. „Von solchen Kleinigkeiten hängt manchmal das Leben ab.“ Rambach hatte sich auf einen der Strohsäcke fallen lassen.

Er war völlig erschöpft, aber doch so voll Erwartung und Spannung, dass er noch wie gelähmt dasaß, als Kehlmann schon die Decken Rambachs auf einem der Strohsäcke ausbreitete. Unheimlich still war es in dieser Hütte, nur vereinzelte Schüsse waren zu hören. „Wenn wir hierbleiben, schnappen uns doch totsicher die Russen“, meinte Rambach mit lächerlicher Besorgnis, denn es war ihm anzusehen, dass er am Ende seiner Kraft und an einen weiteren Marsch seinerseits gar nicht zu denken war.

„Für dich ist es höchste Zeit, dass du dich hinlegst und warm zudeckst, sonst schnappt dich der Teufel“, antwortete Kehlmann. „Und sollten unterdessen die Russen kommen, dann lass sie nur kommen! Die Hauptsache ist doch, dass wir nicht als Gefrierfleisch liegenbleiben. Meinst du nicht auch?“

Rambach erwiderte nichts, aber er gestand sich ein, dass er ohne die Hilfe des Kameraden wahrscheinlich schon irgendwo erfroren läge, und er erschauerte bei dieser Vorstellung. Unterdessen hatte Kehlmann das Lager Rambachs zurechtgemacht und sagte zu ihm: „Zieh die Stiefel aus und leg dich hin, ich werde tüchtig einheizen.“

Aus nördlicher Richtung war immer noch Artilleriefeuer und das Knattern von Maschinengewehren zu hören, aber das Feuer auf der Straße hatte nachgelassen, scheinbar war der Rückzug der deutschen Truppenteile, die sich der Umklammerung der Russen hatten entziehen können, beendet. Nur wenige Streusalven unterbrachen hin und wieder die Stille. Ein Geschoss platzte unweit des Blockhauses, in dem Rambach gerade unter seine Decke kroch und Kehlmann die Trümmer eines Hockers in den brennenden Ofen steckte.

„Menschenskind“, stöhnte da Rambach noch einmal auf, „Menschenskind, die halten direkt auf die Rauchfahne!“

„Daran hab’ ich auch schon gedacht“, sagte Kehlmann seelenruhig, „doch bei dem Schneegestöber wird wenig von Rauch zu sehen sein. Ohne Feuer aber erfrieren wir, das ist totsicher.“

Er war offensichtlich erfreut über das lustig knisternde Feuer. Nun füllte er sein Kochgeschirr mit Schnee, stellte es auf den Ofen und untersuchte die Tür von innen. Sie schloss ziemlich dicht und war mit einem stabilen Riegel versehen. Dann verstopfte er die Ritzen an der Tür und an dem kleinen Fenster mit Lappen. Der kleine Ofen wurde rasch rot glühend und die Luft erwärmte sich erstaunlich schnell. Und nun kochte auch schon das aus dem Schnee gewonnene Wasser. Kohlmann brühte Tee auf und reichte Rambach den heißen Trunk, dazu einige Feldzwiebäcke. Rambach trank mit Behagen, aß die Zwiebäcke auf und sagte dann: „Ich danke dir, Kamerad … Ohne dich wär’ ich verloren … Vielleicht kann ich es dir einmal vergelten.“

„Hat nichts zu sagen!“, meinte Kehlmann. „Wie fühlst du dich denn so im Allgemeinen? Du hattest doch wohl die vergangene Nacht schon Temperatur?“

„Ja, letzte Nacht fing das an. Ich hab’ wohl eine Grippe im Balg. Wenn ich jetzt fortgehen sollte, ich glaube, ich könnte nicht mehr auf den Füßen stehen, so bleiern liegt es mir in allen Knochen. Deswegen bin ich doch auf keinen Wagen hinaufgekommen.“

„Hast du besondere Schmerzen?“

„Nein, eigentlich nicht, außer Kopfschmerzen.“

„Da, nimm!“ Kehlmann reichte ihm eine Aspirintablette. „Vielleicht kannst du schwitzen. Hoffentlich hast du dir keine Lungenentzündung aufgehalst, das könnte unangenehm werden.“

„Hoffentlich nicht“, sagte Rambach, und dies klang recht ungläubig.

„Nimm noch eine Tablette“, sagte Kehlmann, „und auch noch einen Becher heißen Tee.“ Dann legte er ihm noch den Mantel über die Decke, kontrollierte den Puls und stellte fest: „Scheinbar ist die Temperatur ziemlich hoch, aber hier bist du nicht schlechter aufgehoben als in einem Feldlazarett.“

Darauf setzte Kehlmann sich an den Tisch, kramte aus seinem Rucksack ein Brot und eine Konservenbüchse mit Fleisch und aß mit großem Appetit. „Du hast aber ganz gut vorgesorgt“, bemerkte Rambach nach einer Weile, „Brot, Fleisch, Zwieback, Tee und Arznei, was hast du denn so alles eingepackt, und wie hast du denn das alles schleppen können hei dem Schneesturm?“

„Man muss auf alle Fälle immer für einige Tage mit dem Nötigsten versorgt sein“, sagte Kehlmann. „Solange der kleine Vorrat reicht, kannst du übrigens mitessen, willst du?“

„Und wenn wir morgen oder gar übermorgen noch hier festsitzen?“, wandte Rambach ein. „Ich hab’ weiter nichts als einen Beutel Zwieback und etwas Tabak.“

„Tabak? Großartig!“ Kehlmann kaute mit beiden Backen, schnitt für Rambach ein Stück Brot ab, belegte es mit Konservenfleisch und reichte es ihm. „Am besten ist, wir packen mal aus, was wir so haben, damit wir eine gewisse Übersicht erhalten.“

Es war nicht viel, was da zum Vorschein kam. Ein Beutel Zwieback, etwa zwei Kilo Brot, ein halbes Päckchen Tabak, ein halbes Päckchen Tee, die Fleischbüchse; Rambach hatte auch noch eine Schachtel mit Bouillonwürfeln. „Wenn wir uns mit zwei Mann keinen Zwang antun, reicht es nicht lange“, meinte Kehlmann treuherzig. „Aber unter Umständen auch eine Woche. Doch vielleicht finden wir hier in der Nähe etwas … In der Eile bleibt manchmal einiges zurück.“

„Vielleicht auch nicht, zumindest nichts Essbares“, sagte Rambach noch, dann lähmte ihn wieder die bleierne Schwere. Von der mit Konservenfleisch belegten Brotschnitte kostete er nur etwas und ließ sie dann liegen. Wie aus einem Traum heraus betrachtete er Kehlmann, der neben dem glühenden Ofen hockte und weiteraß. Es wurde nun bereits dunkel und als Licht hatten sie nur Holzspäne. Rambach musste in der Nacht aufstehen, um seine Notdurft zu verrichten. Kehlmann half ihm aus dem Bett und entzündete einen Lichtspan. „Mach doch das Licht aus, damit können wir uns leicht verraten!“, protestierte Rambach.

„Hast du Angst?“, fragte Kehlmann. „Vor wem denn? Die Deutschen haben zu tun, dass sie aus dem Sack herauskommen, in dem sie eingeschnürt sind. Und wenn die Russen kommen, kann das vielleicht unsere Rettung sein. Im andern Falle sind wir verdammt auf gut Glück angewiesen, noch dazu bei deinem Zustand.“

„Ja, das sind wir“, sagte Rambach und schwieg dann. Als er wieder unter seine Decken kroch, spürte er, dass er gefährlich krank war. Kehlmann fuhr fort, Kisten und Hocker zu verfeuern, um den Raum warm zu halten. Von draußen war das Sausen und Pfeifen des Windes und das durchdringende Ächzen der vom Sturm bewegten Bäume zu hören und das Brechen der schneeüberladenen Äste und Kronen.

Diese Sprache des russischen Winters war das einzige, was Rambach in den nächsten drei Tagen wahrnahm. Er lag mit sehr hohem Fieber und nahm von der Anwesenheit Kehlmanns fast keine Notiz. Nur ein Ausruf hin und wieder erinnerte daran, dass in seinen Fieberfantasien Kehlmann eine Rolle spielte: „Nimm mich mit, Kehlmann!“, stöhnte er auf, oder: „Kehlmann, du willst zu den Russen überlaufen, sag’ es mir offen und ehrlich … Warum bist du zurückgeblieben? … Du bist doch gesund und gut auf den Füßen …“ Ja, Soldat Rambach war immer noch auf dem Marsch im Schneesturm und gepeitscht von Todesangst, denn er stöhnte auch manchmal auf: „Nur nicht liegenbleiben … Nur nicht erfrieren …“

Als er schließlich aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, saß Kehlmann mit besorgter Miene an seiner Pritsche, aber diese Besorgnis verflüchtigte sich sofort, als Rambach sagte: „Ich schwitze!“ – „Wirklich?“, fragte Kehlmann und befühlte die Stirn des Kranken. Sie war feucht. „Großartig!“, rief er wieder einmal, und dieses „großartig!“ setzte Rambach immer erneut in Erstaunen. In der Kompanie hatte Rambach dieses Wort nie aus dem Munde Kehlmanns vernommen. Überhaupt hatte der sich dort ganz anders gegeben. Still und schweigsam war er gewesen inmitten seiner Kameraden, wie der einsamste und verlassenste Mensch. Und hier, in der einsamen Schneewüste, war er wie umgewandelt, so voller Unternehmungsgeist und Zuversicht, dass Rambach sofort wieder im Bilde über seine Lage war.

„Wie lange sind wir eigentlich schon hier?“, fragte er.

„Vier Tage.“

„Und wie sieht es aus? Ist von den Unsrigen etwas zu merken? Oder von den Russen?“

„Von den Deutschen vorerst gar nichts“, antwortete Kehlmann. „Und unsere frühere Stellung ist, scheint‘s, von den Russen besetzt. Manchmal sind einige Schüsse zu hören, sonst ist alles um uns still und menschenleer, bis auf ein paar alte Leute, Russen, die von irgendwo hergekommen sind und nicht weit von uns in einem Unterstand an der Feldbahn hausen. Sie sind gewissermaßen unsere Nachbarn.“

„Hast du mit ihnen gesprochen?“

„So gut es geht, ja. Sie waren natürlich zu Tode erschrocken, als plötzlich ein Deutscher vor ihnen auftauchte, aber nun sind sie beruhigt.“

„Wieso beruhigt!?“

„Ich hab’ ihnen gesagt, dass wir den verfluchten Krieg satt haben bis an den Hals und ihn von Anfang an nicht wollten, und dass wir uns für unser eigenes Volk schämen bis auf den Grund unserer Seele für alles, was wir dem russischen Volk angetan haben. Und falls sie eine russische Patrouille treffen, hab’ ich ihnen gesagt, dann sollen sie dieser russischen Patrouille unseren Aufenthalt melden, um Missverständnisse zu vermeiden.“

„Darauf steht Todesstrafe!“, sagte Rambach nach einer Weile, und dies sollte wohl die Einleitung zu einer sehr ernsten Diskussion sein, wenn er nicht durch ein lautes Lachen Kehlmanns, aber auch durch seine körperliche Verfassung daran gehindert worden wäre. „Ich muss auf den Eimer!“, sagte er plötzlich und wollte aus den Decken. Kehlmann hinderte ihn daran. „Willst dich wohl jetzt noch auf den Tod erkälten!“, schimpfte er und brachte eine alte Blechschüssel, die er ihm unterschob. „Du dampfst ja wie ein Braten!“, sagte er. „Genier dich nur nicht, die beiden vergangenen Tage hast du dich auch nicht vor mir geniert.“

„Ach, was ist der Mensch doch für eine hilflose Kreatur!“, philosophierte Rambach in einer Anwandlung von Schamgefühl.

Kehlmann verstand sehr wohl, dass dieser Stoßseufzer auch als Verlegenheitskommentar für die Bemerkung gemeint war: „Darauf steht Todesstrafe!“

Kehlmann frottierte Rambach mit einem Lappen trocken und wendete Matratze und Decken. Dann machte er sich eine Weile am Ofen zu schaffen, kam dann mit einem Töpfchen Reisschleim ans Bett und bemerkte: „Zum Glück hab’ ich Reis aufgetrieben. Ich mach’ dich aber darauf aufmerksam, dass der von den Russen ist. Wegen der Todesstrafe nämlich sag’ ich dir das.“

Rambach löffelte gehorsam den Reisschleim und nach einer Weile antwortete er: „Ich wollte nur sagen, Kamerad Kehlmann, dass wir in eine Falle geraten sind … Wie kommen überdies plötzlich diese Russen hierher? Du sagtest doch, es sind alte Leute.“

„Die Unsrigen haben auf ihrem Rückzug die Dörfer niedergebrannt, jedes einzelne Haus, und dadurch haben sie Menschen und Vieh dem schauerlichen Frost ausgeliefert. Es muss furchtbar gewesen sein. Den alten Leuten sitzt jetzt noch der Schrecken in den Gliedern, und sie sind nur wie durch ein Wunder hier angekommen und untergekrochen, wie wir auch. Auf den Feldbahngeleisen haben sie sich entlanggesucht und das war ihre Rettung. Wie viel unschuldige Menschen aber durch die Schuld der Unsrigen im Frost umgekommen sind, das ist eine andere Sache, Kamerad Rambach.“ Aus dieser Antwort klang eine von Rambach bis dahin unbemerkte Bestimmtheit und Gereiztheit. „Die Unsrigen“ war ein Ausdruck, den Kehlmann sonst nie gebrauchte, wenn er von der deutschen Armee sprach. Er klang anklägerisch und feindselig, und es schien Rambach, als wäre auch er in diese Feindseligkeit mit einbezogen. Und während er noch nach einer Antwort suchte, fuhr Kehlmann fort: „Dass wir in einer Falle sitzen, trifft meiner Ansicht nach nicht ganz zu, wenigstens nicht für mich. Ich habe in einer Falle gesessen, solange ich Zwangssoldat in meiner Kompanie war. Da war nirgends ein Loch, durch das man heraus konnte, und ich fühlte mich trotzdem verantwortlich für jede Schurkerei und jede Schande, die wir auf uns geladen haben. Aber jetzt hoffe ich loszukommen von dieser Mordbrennerei, und ich käme mir vor wie der elendeste Lump auf dieser Welt, wenn ich nicht die erste Gelegenheit dazu benutzte. Und das, was ich empfinde, was ich fühle und denke, das will ich den Russen sagen. Ich will vor mir selber bestehen können und deswegen müssen wir uns offen aussprechen, damit auch zwischen uns Klarheit besteht.“

„Ich hab’ doch auch nicht gewollt, was geschehen ist. Aber im Krieg werden die Menschen eben zu Bestien, hüben und drüben“, sagte Rambach in hilflosem Ton. Ganz verzweifelt und ermattet saß er vor seinem Reisschleim,

„Das sind Redensarten, die zu nichts verpflichten“, antwortete Kehlmann ärgerlich. „Dafür macht man dann am Ende den lieben Gott verantwortlich … oder den Zufall. Auch dafür, dass du jetzt hier bist. Bei mir ist es aber kein Zufall, dass ich hier gelandet bin, sondern Absicht. Und meine weitere Absicht ist dir ja nun bekannt.“ Kehlmann schleppte jetzt Holzknüttel in die Hütte, zersägte sie und hackte sie klein. Rambach schlief ein und schlief die ganze Nacht durch. Als er erwachte, roch die Hütte nach Gebratenem, und neben dem Ofen lag ein grobknochiger Hund, der ihn bei seiner ersten Bewegung drohend anknurrte, sich aber sofort beruhigte, als Kehlmann zur Tür hereinkam und ihn anrief: „Den lass in Ruh, Wolf, der gehört zu uns.“ Der Hund gehorchte sofort, als wäre er schon von jung auf an Kehlmann gewöhnt.