Die Walküre - Kein Drama nach Richard Wagner - Anno Stock - E-Book

Die Walküre - Kein Drama nach Richard Wagner E-Book

Anno Stock

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Beschreibung

Eine verbotene Liebe. Ein verzweifelter Gott. Ein Opfer, das die Welt verändern wird.Siegmund ist ein Geächteter, gehetzt und heimatlos, bis er in einer Sturmnacht Zuflucht in einem fremden Haus findet. Dort begegnet er Sieglinde – und erkennt in ihr die Schwester, die er vor Jahren verloren glaubte. Ihre Liebe entflammt gegen alle Gesetze, und mit dem Schwert Nothung, das von Götterhand für ihn bestimmt war, scheint ihnen die Freiheit zum Greifen nah.Doch Wotan, der Allvater, ist in einem unlösbaren Konflikt gefangen: Als Vater liebt er Siegmund, als Herrscher muss er die Gesetze wahren, die er selbst schuf. Seine Tochter Brünnhilde, tapferste der Walküren, steht vor einer unmöglichen Wahl: Gehorsam gegenüber ihrem Vater oder Treue zu ihrem Gewissen.In dieser epischen Neuerzählung von Wagners "Walküre" entfaltet sich ein zeitloses Drama über die Macht der Liebe, die Fesseln der Pflicht und den Preis der Freiheit. Eine Geschichte von Helden und Göttern, von Opfer und Hoffnung – und von einem ungeborenen Kind, das vielleicht die Welt erlösen kann.

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Seitenzahl: 278

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Walküre - Kein Drama nach Richard Wagner

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Table of Contents

Kapitel 1: Die Flucht

Kapitel 2: Hundings Halle

Kapitel 3: Das Gastrecht

Kapitel 4: Der Eschenbaum

Kapitel 5: Nothung

Kapitel 6: Brünnhildes Auftrag

Kapitel 7: Frickas Zorn

Kapitel 8: Die Fesseln des Gesetzes

Kapitel 9: Der gebrochene Gott

Kapitel 10: Die Schwestern

Kapitel 11: Todesankündigung

Kapitel 12: Der Kampf

Kapitel 13: Siegmunds Tod

Kapitel 14: Die Flucht

Kapitel 15: Walküren in Angst

Kapitel 16: Des Vaters Wut

Kapitel 17: Die Rechtfertigung

Kapitel 18: Der Feuerzauber

Epilog: Morgenröte

Nachwort

Impressum neobooks

Table of Contents

Die Walküre – kein Drama nach Richard Wagner

Ein historischer Roman

Anno Stock

Erster Teil: Sturmesnacht und verbotene Liebe

Kapitel 1: Die Flucht

Der Sturm heulte durch die uralten Wälder, als wäre der Himmel selbst in Raserei geraten. Blitze zuckten zwischen den knorrigen Eichen hindurch und verwandelten die Nacht für Augenblicke in grelles, gespenstisches Tageslicht. Der Donner rollte über die Wipfel hinweg wie das Grollen eines zürnenden Gottes, und der Regen peitschte mit solcher Gewalt herab, dass selbst das dichteste Blätterdach keinen Schutz mehr bot.

Siegmund stolperte durch das Unterholz, die Arme schützend vor das Gesicht gehoben. Seine Tunika hing in Fetzen an seinem Körper, durchnässt und besudelt mit Schlamm und Blut – seinem eigenen und dem seiner Feinde. Dornen hatten tiefe Risse in seine Haut gerissen, und jeder Atemzug brannte wie Feuer in seiner Brust. Wie lange er schon lief, wusste er nicht mehr. Die Zeit hatte sich aufgelöst in einen endlosen Albtraum aus Schmerz, Erschöpfung und blindem Überlebenswillen.

Hinter ihm, irgendwo in der tosenden Finsternis, waren sie. Die Männer Hundings, seiner Sippe, seiner Feinde. Er hörte ihre Rufe nicht mehr über dem Sturm, aber er wusste, dass sie kommen würden. Sie würden nicht ruhen, bis sie ihn gefunden hatten. Bis sie Vergeltung geübt hatten für das, was er getan hatte.

Siegmund erinnerte sich kaum noch an die Einzelheiten des Gefechts. Es war alles so schnell gegangen, so wild und wirr. Er hatte eine Frau verteidigt – eine junge Frau, die gegen ihren Willen verheiratet werden sollte, die um Hilfe geschrien hatte. Er hatte nicht anders können. Etwas in ihm, ein ehernes Gesetz seines Wesens, hatte ihm keine Wahl gelassen. Und so hatte er sein Schwert gezogen und sich den Brüdern der Braut entgegengestellt.

Das Schwert. Siegmund griff instinktiv an seine Seite und spürte nur die leere Scheide. Irgendwo im Kampfgetümmel hatte er es verloren, als die Übermacht ihn überwältigt und er hatte fliehen müssen, um nicht erschlagen zu werden. Auch der Speer war fort, und der Schild lag irgendwo zerschmettert im Wald. Waffenlos war er nun, ein gejagtes Tier in einem feindseligen Land.

Ein besonders heftiger Donnerschlag ließ die Erde erbeben. Siegmund stolperte, fing sich an einem Baumstamm, dessen Rinde unter seinen Fingern glitschig vom Regen war. Seine Beine zitterten vor Erschöpfung. Wie viele Tage war es her, seit er zuletzt geschlafen hatte? Seit er zuletzt gegessen hatte? Er wusste es nicht mehr.

Der Blitz, der dem Donner gefolgt war, hatte ihm für einen Moment die Umgebung erhellt. Und in diesem Moment hatte Siegmund etwas gesehen – dort, zwischen den Bäumen, kaum hundert Schritte entfernt: ein Licht. Ein warmes, gelbes Licht, das durch die Dunkelheit schimmerte wie ein Stern in bodenlosen Schwärzen.

Ein Haus. Es musste ein Haus sein.

Neue Kraft durchströmte seine erschöpften Glieder. Siegmund zwang sich, weiterzugehen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Äste schlugen ihm ins Gesicht, Wurzeln versuchten ihn zu Fall zu bringen, aber er kämpfte sich voran, den Blick starr auf jenes ferne Licht gerichtet, das ihm Hoffnung verhieß – Hoffnung auf Schutz, auf Wärme, auf ein Ende dieser endlosen Flucht.

Als er die Lichtung erreichte, auf der das Gebäude stand, wäre er beinahe in die Knie gesunken vor Erleichterung. Es war tatsächlich ein Haus, eine große Halle nach germanischer Art, mit hohem Giebeldach und mächtigen Holzbalken. Rauch stieg aus der Dachöffnung empor und wurde vom Sturm sofort zerrissen. Durch die Ritzen der schweren Holztür drang das Licht, das er gesehen hatte.

Siegmund schwankte auf die Tür zu. Seine Hände waren so steif vor Kälte, dass er sie kaum bewegen konnte. Mit letzter Kraft stemmte er sich gegen das Holz, und zu seiner unendlichen Erleichterung gab die Tür nach. Er taumelte in den Innenraum und hörte, wie die Tür hinter ihm mit einem dumpfen Schlag ins Schloss fiel, den Sturm draußen sperrend.

Die plötzliche Stille war überwältigend. Nur das Knistern eines Feuers war zu hören, und das ferne, gedämpfte Heulen des Windes, der um die Holzwände strich. Siegmund stand schwankend, das Wasser von seinem Körper auf den gestampften Lehmboden tropfend. Seine Augen, an die Dunkelheit der Nacht gewöhnt, wurden von der Helligkeit des Raumes geblendet.

In der Mitte der Halle brannte ein großes Feuer in einer rechteckigen Grube, die von Steinen eingefasst war. Der Rauch zog durch die Öffnung im Dach ab, doch genug blieb, um der Luft einen würzigen, harzigen Geruch zu verleihen. Die Wände waren mit Waffen geschmückt – Schwerter, Speere, Schilde –, und von den Balken hingen Jagdtrophäen: Hirschgeweihe, Wildschweinkiefer, die ausgestopften Köpfe von Bären und Wölfen.

Doch das alles nahm Siegmund nur am Rande wahr. Sein Blick wurde unwiderstehlich zu der gewaltigen Esche gezogen, die im Zentrum des Raumes stand. Es war kein gewöhnlicher Baum – nein, es war ein Naturwunder, ein Zeugnis uralter Zeiten. Der Stamm, so dick, dass drei Männer ihn kaum hätten umfassen können, ragte durch die Halle empor und verschwand in der Dunkelheit unter dem Dach. Seine Wurzeln durchbrachen den Boden und breiteten sich wie schlafende Schlangen unter den Füßen der Bewohner aus. Seine Äste schoben sich durch die Holzkonstruktion des Daches, als wäre das Haus um den Baum herum gebaut worden – was zweifellos der Fall war.

Es war heilig, dieser Baum. Siegmund spürte es in seinen Knochen. Hier wohnte noch ein Hauch jener alten Macht, die einst die Welt erfüllt hatte, bevor die Menschen sie Stück für Stück zurückgedrängt hatten. Hier war ein Ort, an dem die Grenze zwischen den Welten dünn war.

Seine Beine gaben nach. Er konnte nicht mehr stehen. Mit einem keuchenden Atemzug sank Siegmund auf die Knie, dann auf die Seite. Der Boden war hart und kalt, aber im Vergleich zu der Hölle, aus der er gekommen war, fühlte er sich an wie das weichste Lager. Seine Augen fielen zu, seine Glieder wurden schwer.

Er registrierte kaum noch, dass sich irgendwo im Schatten etwas bewegte. Schritte näherten sich, leise, vorsichtig. Eine Gestalt trat ins Licht des Feuers – eine Frau, jung, mit langem, goldblondem Haar, das lose über ihre Schultern fiel. Sie trug ein einfaches, aber sauber gewebtes Kleid aus ungefärbter Wolle, und in ihren Augen lag ein Ausdruck von Überraschung und... war es Mitgefühl?

"Bei allen Göttern", hörte Siegmund sie flüstern, ihre Stimme sanft wie Sommernacht. "Was ist geschehen?"

Er versuchte zu antworten, seine Lippen zu bewegen, aber kein Laut kam heraus. Die Erschöpfung war übermächtig, unwiderstehlich. Die Dunkelheit, die ihn die ganze Nacht über verfolgt hatte, holte ihn endlich ein, und diesmal gab es kein Entkommen mehr.

Das Letzte, was Siegmund wahrnahm, bevor das Bewusstsein von ihm wich, war das Gefühl kühler Hände, die sein Gesicht berührten, und der Duft nach Kräutern und Honig, der von der Frau ausging – ein Duft, der so fremd und doch so seltsam vertraut war, als hätte er ihn schon einmal gekannt, in einem anderen Leben, in einer anderen Zeit.

Dann verschlang ihn die Schwärze.

Wie lange er bewusstlos gelegen hatte, vermochte Siegmund nicht zu sagen. Als er die Augen aufschlug, fühlte sich sein Kopf an, als wäre er mit Blei gefüllt. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte, und sein Mund war so trocken, als hätte er Sand geschluckt. Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke der Halle, wo die Balken im flackernden Schein des Feuers tanzende Schatten warfen.

Das Feuer. Es brannte noch, also konnte nicht allzu viel Zeit vergangen sein. Der Sturm tobte noch immer draußen, das hörte er am Heulen des Windes und am Prasseln des Regens gegen die Holzwände. Aber hier drinnen war es warm, behaglich fast.

Siegmund richtete sich vorsichtig auf. Sein Kopf drehte sich, und für einen Moment drohte die Schwärze ihn erneut zu überwältigen, aber er atmete tief durch und zwang sich, bei Bewusstsein zu bleiben. Als sein Blick klarer wurde, sah er, dass jemand sich um ihn gekümmert hatte. Seine zerfetzte, nasse Tunika war entfernt worden, und an ihrer Stelle lag eine Decke aus weichem Schaffell über ihm. Jemand hatte auch die schlimmsten Wunden an seinen Armen und Beinen gereinigt und mit Leinen verbunden.

"Ihr seid wach."

Die Stimme ließ ihn herumfahren. Die Frau, die er vor seinem Zusammenbruch gesehen hatte, stand am Rand des Feuerscheins. Im vollen Licht konnte er sie nun besser erkennen, und was er sah, ließ sein Herz einen unregelmäßigen Schlag tun.

Sie war von außergewöhnlicher Schönheit, doch es war nicht die kalte, unerreichbare Schönheit einer Göttin, wie die Skalden sie besangen. Nein, ihre Schönheit war warm und lebendig. Ihr langes, goldenes Haar umrahmte ein Gesicht mit feinen, ebenmäßigen Zügen – hohe Wangenknochen, eine gerade Nase, ein Mund, der zum Lächeln geschaffen schien, obwohl er jetzt ernst und besorgt war. Doch es waren ihre Augen, die Siegmund gefangen nahmen. Sie waren von einem tiefen Blau, dem Blau eines Gebirgssees im Sommer, und in ihnen lag eine Traurigkeit, die so tief ging, dass sie schmerzte, sie anzusehen.

"Ich... danke Euch", brachte Siegmund mit rauer Stimme hervor. "Ihr habt mir das Leben gerettet."

Die Frau trat näher und kniete sich neben ihn. In ihren Händen hielt sie einen Trinkbecher aus Ton, gefüllt mit Wasser. "Trinkt", sagte sie leise. "Ihr seid völlig erschöpft."

Siegmund nahm den Becher mit zitternden Händen entgegen und trank gierig. Das Wasser war kühl und frisch, das beste, das er je geschmeckt hatte. Es rann seine ausgetrocknete Kehle hinunter wie flüssiges Leben selbst.

"Langsam", mahnte die Frau sanft. "Nicht zu schnell, sonst wird Euch übel."

Er gehorchte und zwang sich, langsamer zu trinken. Als der Becher leer war, reichte sie ihm einen zweiten, und dann einen dritten. Erst als sein Durst gestillt war, lehnte er sich zurück und sah sie wieder an.

"Wie heißt Ihr?", fragte er.

Einen Moment lang zögerte sie, als wäre selbst diese einfache Frage gefährlich. Dann antwortete sie: "Sieglinde. Ich bin die Herrin dieses Hauses."

Sieglinde. Der Name passte zu ihr – edel, klangvoll, schön.

"Ich bin Siegmund", erwiderte er. "Ein Wanderer ohne Heim, ohne Sippe. Ich bitte um Euer Gastrecht, edle Frau, nur für diese Nacht. Im Morgengrauen werde ich weiterziehen."

"Ihr seid verletzt", sagte Sieglinde. Ihre Augen musterten die Verbände an seinen Armen, die bereits an einigen Stellen rot gefärbt waren von frischem Blut. "Ihr seid geflohen, nicht wahr? Vor Feinden?"

Siegmund nickte langsam. "Ich habe mich in einen Streit eingemischt, der nicht der meine war. Oder vielleicht war er es doch – ich weiß es nicht mehr. Ich sah Unrecht geschehen und konnte nicht anders, als einzugreifen. Nun jagen mich die Männer der beleidigten Sippe. Sie werden nicht ruhen, bis sie mich getötet haben."

"Und Eure Waffen?"

"Verloren im Kampf." Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. "Ich bin wehrlos."

Sieglinde senkte den Blick. "Das tut mir leid. In diesem Land herrscht ein raues Gesetz. Blutrache wird schwerer gewogen als Gerechtigkeit."

"Das habe ich gelernt", murmelte Siegmund. Ein trockenes, freudloses Lachen entfuhr ihm. "Mein ganzes Leben lang habe ich es gelernt. Überall, wo ich hinkam, brachte ich Zwietracht. Ich suchte Freunde und fand Feinde. Ich suchte Glück und fand nur Leid. Es ist, als läge ein Fluch auf mir."

Er schwieg, überrascht von seiner eigenen Offenheit. Was brachte ihn dazu, dieser fremden Frau solche Dinge anzuvertrauen? Vielleicht war es die Erschöpfung, die seine Zunge löste. Oder vielleicht war es etwas in ihrem Blick, eine Traurigkeit, die der seinen verwandt schien.

Sieglinde erhob sich und ging zum Feuer. Sie nahm einen Krug, der am Rand der Feuerstelle stand, und füllte einen neuen Becher. Als sie zurückkam, roch Siegmund den würzigen Duft von Met.

"Trinkt", sagte sie. "Das wird Euch Kraft geben."

Der Met war süß und stark, und sofort durchströmte eine wohltuende Wärme Siegmunds Körper. Er trank langsam, genussvoll, und betrachtete dabei die Frau vor ihm. Sie hatte sich auf einem niedrigen Schemel niedergelassen und blickte ins Feuer, ihr schönes Gesicht von den Flammen erhellt.

"Ihr versteht, was ich meine, nicht wahr?", sagte Siegmund leise. "Dieses Gefühl, fehl am Platz zu sein. Als gehörte man nirgendwohin."

Sieglinde wandte ihm langsam den Kopf zu. In ihren Augen schimmerten Tränen, die sie nicht vergoss. "Ja", flüsterte sie. "Ich verstehe es nur zu gut."

Ein Moment der Stille entstand zwischen ihnen, aber es war keine unangenehme Stille. Es war, als hätten sie ohne Worte mehr gesagt, als Reden hätte ausdrücken können.

Dann hörte Siegmund es – das ferne Geräusch von Hufen. Pferde, mehrere, die sich dem Haus näherten. Sieglinde sprang auf, ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren.

"Mein Gemahl", sagte sie mit tonloser Stimme. "Hunding kehrt zurück."

Siegmund versuchte aufzustehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Er war noch zu schwach, zu erschöpft. "Dann muss ich fort", keuchte er. "Ich darf Euch nicht in Gefahr bringen."

"Nein." Sieglindes Stimme war fest, obwohl ihre Hände zitterten. "Ihr könnt nicht gehen. Der Sturm tobt noch immer, und Ihr würdet in Eurem Zustand keine hundert Schritte weit kommen. Außerdem..." Sie zögerte, dann fuhr sie mit leiser, aber bestimmter Stimme fort: "Ihr habt um Gastrecht gebeten, und ich habe es Euch gewährt. Das ist heilig. Nicht einmal Hunding wird es wagen, dieses Recht zu brechen."

"Aber wenn er mich erkennt—"

"Dann werden wir sehen, was geschieht."

Die Tür wurde aufgerissen. Kalter Wind und Regen peitschten herein, und mit ihnen kam ein Mann, der den Türrahmen fast vollständig ausfüllte. Hunding war von gewaltiger Statur, breite Schultern unter einem nassen Bärenfell, ein Gesicht wie aus Stein gehauen, mit tiefen Furchen und einem langen, dunklen Bart. Seine Augen, klein und misstrauisch, musterten zunächst seine Frau, dann den Fremden am Boden.

Hinter ihm traten zwei weitere Männer ein, ebenso groß und grimmig, offenbar seine Brüder oder Gefolgsleute. Sie alle trugen Waffen – Schwerter, Äxte, Speere.

"Was", donnerte Hunding mit einer Stimme wie ein Felsrutsch, "hat das zu bedeuten?"

Sieglinde trat vor, den Kopf erhoben, trotz der Angst, die Siegmund in ihren Augen sehen konnte. "Ein Wanderer hat Schutz vor dem Sturm gesucht, mein Gemahl. Ich habe ihm Gastrecht gewährt, wie es die Sitte gebietet."

Hundings Blick bohrte sich in Siegmund. Lange Sekunden verstrichen, in denen nur das Knistern des Feuers und das Heulen des Windes zu hören waren. Dann, langsam, löste sich die Anspannung in Hundings massivem Körper ein wenig.

"Gastrecht", wiederholte er. Seine Stimme war etwas leiser, aber nicht weniger bedrohlich. "So sei es. Kein Mann unter meinem Dach bricht das heilige Gesetz der Gastfreundschaft."

Er trat näher, und Siegmund konnte den Geruch von Schweiß, Pferd und Waffen an ihm riechen. Hundings Augen verengten sich.

"Aber wer seid Ihr, Fremder? Woher kommt Ihr? Und warum seid Ihr in einem solchen Zustand?"

Siegmund zwang sich, dem Blick standzuhalten. Er mochte waffenlos und geschwächt sein, aber er war kein Feigling. "Mein Name ist Siegmund. Ich bin ein heimatloser Wanderer. Das Unglück verfolgt mich, wohin ich auch gehe."

"Das sehe ich." Hunding ließ sich auf seinem hohen Stuhl am Ende der Halle nieder. Seine Männer stellten sich hinter ihm auf, die Hände auf ihren Waffen. "Sprecht weiter. Was für ein Unglück hat Euch an meine Schwelle getrieben?"

Und so, während der Sturm draußen tobte und das Feuer zwischen ihnen flackerte, begann Siegmund zu erzählen. Er erzählte von seinem Leben, von den endlosen Wanderjahren, von den Kämpfen und Verlusten. Und Hunding hörte zu, sein steinernes Gesicht undurchdringlich, während Sieglinde im Schatten stand und jedes Wort mit angehaltenem Atem verfolgte.

Die Nacht war noch lang, und das Schicksal hatte gerade erst begonnen, sein grausames Spiel zu spielen.

Kapitel 2: Hundings Halle

Die Spannung in der Halle war so greifbar, dass man sie hätte schneiden können wie ein Stück Brot. Siegmund saß, in die Decke gehüllt, am Feuer und spürte die Blicke der drei Männer auf sich ruhen wie schwere Gewichte. Hunding hatte sich in seinem hochlehnigen Stuhl zurückgelehnt, eine Hand auf der Armlehne, die andere auf dem massiven Schwertknauf an seiner Seite. Seine Gefährten standen wie Wachposten hinter ihm, ihre Gesichter zur Regungslosigkeit erstarrt.

Sieglinde hatte sich zurückgezogen, wie es sich für eine Frau in Gegenwart ihres Gemahls und dessen Kriegern geziemte. Sie stand im Schatten nahe der Vorratskammer, doch Siegmund konnte fühlen, wie ihre Augen auf ihm ruhten. Jedes Mal, wenn er in ihre Richtung blickte, traf sein Blick den ihren, und jedes Mal durchfuhr ihn ein seltsames Gefühl – als würde ein Blitz durch seine Brust fahren, als würde etwas lange Verschlossenes in ihm aufbrechen.

"Also", begann Hunding mit seiner tiefen, rollenden Stimme, "ein heimatloser Wanderer. Das ist eine Geschichte, die ich schon oft gehört habe. Meist erzählen sie die Männer, die vor dem Gesetz fliehen, vor der Blutrache, vor den Folgen ihrer eigenen Taten." Er beugte sich vor, seine kleinen Augen zu Schlitzen verengt. "Welche Art von Mann seid Ihr, Siegmund? Ein Dieb? Ein Mörder? Ein Verräter?"

"Keines von diesen", antwortete Siegmund ruhig, obwohl sein Herz gegen seine Rippen hämmerte. "Ich bin ein Mann, der für das Recht kämpfte und dafür mit Unrecht belohnt wurde. Ein Mann, der Freunde suchte und Feinde fand. Ein Mann, dem das Schicksal keine Ruhe gönnt."

Hunding schnaubte. "Schöne Worte. Aber Worte sind wie Nebel – sie verhüllen mehr, als sie zeigen. Sprecht klarer, Fremder. Woher kommt Ihr? Wer war Euer Vater? Welche Sippe trägt Euren Namen?"

Siegmund zögerte. Die Wahrheit über seine Herkunft war kompliziert, verwischt von Jahren der Wanderschaft und des Leids. Aber er hatte um Gastrecht gebeten, und das bedeutete, dass er ehrlich antworten musste. Die Lüge würde das heilige Band zwischen Gast und Gastgeber zerbrechen.

"Mein Vater", begann er langsam, "nannte sich Wolfe. Er war ein Krieger, ein Mann von großer Stärke und Mut. Doch sein wahres Wesen kannte ich nie ganz. Es war, als trüge er eine Maske, als verberge sich hinter seinen Augen etwas Größeres, Wilderes als ein gewöhnlicher Mensch."

"Wolfe." Hunding rollte den Namen auf seiner Zunge. "Ein seltsamer Name. Wolf. Als wäre er mehr Tier als Mann."

"Vielleicht war er das", sagte Siegmund leise. "Er lebte mehr im Wald als unter Menschen. Er lehrte mich, mit Schwert und Speer zu kämpfen, lehrte mich, die Sprache der Tiere zu verstehen, die Zeichen des Wetters zu lesen. Wir lebten zu dritt – er, ich und meine Zwillingsschwester."

Bei diesen Worten sah er, wie Sieglinde einen Schritt aus dem Schatten trat, ihre Hand an die Brust gedrückt. Ihr Gesicht war bleich geworden.

"Eine Schwester", murmelte Hunding. "Und wo ist sie jetzt?"

Schmerz durchzuckte Siegmunds Herz wie ein Messer. "Verloren. Geraubt. Ich weiß nicht, wo sie ist, ob sie noch lebt oder längst tot." Seine Stimme wurde rau. "Es war an dem Tag, als unser Haus niederbrannte."

"Erzählt", befahl Hunding. Es war kein höfliches Bitten mehr, sondern ein Befehl.

Siegmund starrte ins Feuer. Die Flammen tanzten vor seinen Augen und verwandelten sich in Erinnerungen, in Bilder einer Vergangenheit, die er nie hatte vergessen können, so sehr er es auch versucht hatte.

"Ich war noch ein Knabe, vielleicht zehn Winter alt", begann er. "Mein Vater war auf die Jagd gegangen, weit in die tiefen Wälder hinein. Er war tagelang fort. Meine Schwester und ich blieben allein in unserer Hütte am Waldrand. Wir fürchteten uns nicht – wir kannten den Wald, er war unser Zuhause. Aber an jenem Tag..."

Er brach ab, schluckte schwer. Die Erinnerungen waren so lebendig, als wäre es gestern gewesen.

"An jenem Tag kamen die Männer. Ich weiß nicht, welche Sippe sie angehörten, welcher Stamm. Sie trugen schwarze Bärenfelle und hatten Gesichter wie gehärtetes Leder. Sie sprachen von Rache, von altem Blut, das gesühnt werden müsse. Sie sagten, mein Vater habe einen der Ihren erschlagen, und nun würden sie es ihm heimzahlen."

"Und?", drängte Hunding.

"Sie steckten unsere Hütte in Brand. Ich versuchte zu kämpfen, obwohl ich nur ein Knabe war, aber sie schlugen mich nieder. Als ich wieder zu mir kam, war alles vorbei. Das Haus war niedergebrannt, nur noch rauchende Trümmer. Meine Mutter – ich wusste nicht einmal, dass sie da gewesen war, ich hatte sie nie gekannt, aber ihr Leichnam lag in der Asche. Und meine Schwester..." Seine Stimme brach. "Sie war fort. Verschleppt. Ich fand Spuren im Wald, Zeichen eines Kampfes, aber die Spur verlor sich."

Stille senkte sich über die Halle. Selbst das Feuer schien leiser zu knistern. Siegmund zwang sich, weiterzusprechen.

"Als mein Vater zurückkehrte, war er wie von Sinnen vor Wut und Schmerz. Wir suchten nach ihr, durchkämmten die Wälder, befragten jeden, den wir trafen. Aber sie war verschwunden, als hätte die Erde sie verschluckt. Und mein Vater... er veränderte sich. Der Zorn fraß ihn von innen auf. Er wurde härter, wilder. Wir lebten fortan wie gehetzte Tiere, immer auf der Flucht, immer im Kampf."

"Warum auf der Flucht?", fragte Hunding mit scharfer Stimme. "Wenn Euer Vater unschuldig war—"

"Unschuldig?" Siegmund lachte bitter. "Was ist Unschuld in einer Welt, wo Blut mit Blut bezahlt wird? Mein Vater hatte gekämpft, hatte getötet, das war wahr. Aber er hatte es getan, um Recht zu schaffen, um Schwache zu schützen. Doch die Sippen, deren Männer er erschlagen hatte, sahen das anders. Für sie war er nur ein Mörder, den man zur Strecke bringen musste."

Er seufzte tief. "So lebten wir jahrelang. Kämpften, flohen, kämpften wieder. Mein Vater lehrte mich alles, was ein Krieger wissen muss. Er schmiedete mir eine Rüstung aus erbeutetem Eisen, gab mir Schwert und Speer. Wir wurden zu einer Legende in den Wäldern – die Wölflinge, nannten uns die Leute. Gefürchtet und gehasst."

"Und dann?", fragte Hunding. In seiner Stimme lag etwas Neues – war es Neugier? Oder Misstrauen?

"Dann verlor ich auch ihn", sagte Siegmund leise. "Es war nach einem besonders harten Winter. Wir wurden in einen Hinterhalt gelockt, umzingelt von einer ganzen Kriegerschar. Wir kämpften Seite an Seite, mein Vater und ich, wie wir es so oft getan hatten. Aber diesmal war die Übermacht zu groß. In der Hitze des Gefechts wurden wir getrennt. Ich suchte ihn, rief seinen Namen, aber er antwortete nicht. Als der Kampf vorbei war, als unsere Feinde sich zurückzogen, fand ich nur noch seine Waffen im Schnee. Sein Schild war zerschmettert, sein Helm zerbrochen. Aber von ihm selbst keine Spur."

"Tot also", stellte Hunding fest.

"Ich weiß es nicht." Siegmund hob den Kopf und sah den großen Mann direkt an. "Ich fand keinen Leichnam. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Manche würden sagen, er sei zu den Göttern eingegangen. Andere, dass er nur tief in die Wälder geflohen ist und dort noch heute als Wolf durch die Dunkelheit streift."

Ein seltsamer Ausdruck huschte über Hundings Gesicht – war es Furcht? Aber es verschwand so schnell, dass Siegmund sich nicht sicher sein konnte.

"Und Ihr?", fragte Hunding. "Was tatet Ihr danach?"

"Ich wanderte", antwortete Siegmund. "Allein nun, ohne Vater, ohne Schwester, ohne Sippe. Ich versuchte, irgendwo Fuß zu fassen, ein neues Leben zu beginnen. Ich bot meine Dienste als Krieger an, als Jäger, als Schmied. Aber überall stieß ich auf Misstrauen. Der Name Wölfling eilte mir voraus. Und wenn nicht der Name, dann war es etwas anderes – eine Eigenschaft an mir, die die Menschen abstieß. Es war, als trüge ich ein Mal auf der Stirn, unsichtbar und doch deutlich für jeden zu sehen: Dieser Mann gehört nicht zu uns."

Er lehnte sich zurück, erschöpft von der langen Erzählung. "So lebte ich jahrelang. Von Ort zu Ort ziehend, nirgends willkommen, überall fremd. Ich suchte das Recht und fand nur Unrecht. Ich bot Freundschaft an und bekam Feindschaft zurück. Es ist, als wäre ich verdammt, ewig zu wandern, ohne je ein Heim zu finden."

Stille. Hunding betrachtete ihn lange, sein schweres Gesicht nachdenklich. Dann sagte er: "Eine traurige Geschichte. Aber sie erklärt nicht, warum Ihr heute, an diesem Tag, vor dem Sturm zu meiner Halle geflohen seid. Was ist heute geschehen?"

Siegmund zögerte. Dies war der gefährliche Teil. Aber wieder – er konnte nicht lügen.

"Ich kam durch ein Dorf am Fluss", sagte er langsam. "Dort sah ich eine junge Frau, die von ihren Brüdern zu einem Mann geschleppt wurde, den sie nicht wollte. Sie schrie, sie wehrte sich, aber niemand half ihr. Die Dorfleute sahen weg. Es war ein abgekartetes Spiel – die Sippen hatten die Ehe arrangiert, und das Mädchen hatte keine Wahl."

"So ist die Sitte", sagte Hunding mit harter Stimme. "Die Sippe entscheidet, wen eine Frau heiratet. Das war schon immer so."

"Mag sein", erwiderte Siegmund, und Zorn flammte in seiner Stimme auf. "Aber ich sah das Mädchen in die Augen, und ich sah ihr Entsetzen, ihre Verzweiflung. Sie war keine Ware, die man verschachern konnte. Sie war ein Mensch mit eigenem Willen, mit eigener Seele. Und ich konnte nicht tatenlos zusehen."

"Also mischtet Ihr Euch ein", sagte Hunding. Es war keine Frage.

"Ja. Ich stellte mich den Brüdern entgegen. Ich forderte sie auf, das Mädchen gehen zu lassen. Sie lachten mich aus, nannten mich einen Narren, einen heimatlosen Hund ohne Ehre. Dann griffen sie an."

"Und Ihr habt sie getötet."

Siegmund senkte den Blick. "Zwei von ihnen. Der dritte floh, um Verstärkung zu holen. Ich wusste, dass ich keine Wahl hatte – ich musste fliehen, oder sie würden mich erschlagen. Das Mädchen – ich weiß nicht, was aus ihr wurde. Ich hoffe, sie konnte entkommen. Aber wahrscheinlich..." Er schüttelte den Kopf. "Wahrscheinlich haben sie sie trotzdem zu der Ehe gezwungen. Oder Schlimmeres."

"Ihr habt zwei Männer getötet", wiederholte Hunding langsam, "um einer fremden Frau zu helfen, die Ihr nicht einmal kanntet."

"Ja."

"Und jetzt wird die Sippe dieser Männer Euch jagen, bis sie Euch gefunden und Rache genommen haben."

"Ja."

Hunding lehnte sich zurück. Sein Gesicht war undurchdringlich wie Granit. "Ihr seid ein Narr, Siegmund Wölfling. Ein edler Narr vielleicht, aber dennoch ein Narr. In dieser Welt überlebt man nicht, indem man sich für Fremde opfert. Man überlebt, indem man seiner Sippe treu bleibt, indem man die alten Gesetze achtet, indem man weiß, wann man kämpfen und wann man wegsehen muss."

"Dann bin ich eben ein Narr", sagte Siegmund leise. "Aber ein Narr, der des Nachts noch schlafen kann."

Einen Moment lang schien etwas in Hundings Augen aufzublitzen – war es Respekt? Verständnis? Aber dann war es wieder verschwunden, erstickt unter der harten Maske des Kriegers.

"Möglich", brummte er. "Aber Ihr werdet nicht lange genug leben, um viele Nächte zu schlafen, fürchte ich." Er erhob sich, eine gewaltige Gestalt im flackernden Feuerschein. "Dennoch habt Ihr um Gastrecht gebeten, und meine Frau hat es Euch gewährt. Dieses Recht ist heilig. Solange Ihr unter meinem Dach seid, solange diese Nacht dauert, seid Ihr sicher. Kein Haar auf Eurem Haupt soll gekrümmt werden."

"Ich danke Euch", sagte Siegmund.

"Dankt mir nicht zu früh." Hundings Stimme wurde noch eine Spur dunkler. "Denn wenn der Morgen kommt, wenn die Sonne über den Bergen aufgeht, endet das Gastrecht. Und dann, Fremder, werdet Ihr gehen müssen. Bewaffnet Euch gut, denn die Männer, die Euch jagen, werden nicht weit sein."

Siegmund nickte. Er hatte nichts anderes erwartet.

Hunding wandte sich an seine Gefährten. "Geht. Seht nach den Pferden, prüft die Waffen. Morgen bei Sonnenaufgang brechen wir auf zur Jagd." Er betonte das letzte Wort so, dass kein Zweifel an seiner Bedeutung bestand.

Die beiden Männer nickten und verließen die Halle. Die schwere Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und der Sturm heulte draußen weiter.

Hunding wandte sich an Sieglinde, die noch immer im Schatten stand, reglos wie eine Statue. "Weib, bereite das Nachtmahl. Unser Gast soll nicht hungrig schlafen gehen. Und bring Met – viel Met. Ein Mann, der morgen vielleicht sterben wird, sollte heute Nacht trinken, soviel er will."

Sieglinde neigte den Kopf. "Wie Ihr wünscht, mein Gemahl." Ihre Stimme war leise, gehorsam, aber Siegmund glaubte, ein leises Zittern darin zu hören.

Sie verschwand in der Vorratskammer, und Siegmund konnte hören, wie sie dort hantierte, Töpfe und Krüge bewegte. Hunding setzte sich wieder auf seinen Stuhl und starrte ins Feuer, in Gedanken versunken.

Die Zeit dehnte sich. Siegmund saß da, gehüllt in die Decke, und versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen. Morgen würde er gehen müssen, ohne Waffen, ohne Schutz. Die Männer, die ihn jagten, würden ihn finden. Und dann würde er sterben.

Seltsamerweise fühlte er keine Angst. Nur eine tiefe, allumfassende Müdigkeit. Er hatte so lange gekämpft, so lange gerungen, immer nach etwas gesucht, das er nie hatte finden können. Vielleicht war es besser so. Vielleicht war der Tod die Erlösung, nach der er sich insgeheim gesehnt hatte.

Und doch... als Sieglinde aus der Vorratskammer zurückkehrte, einen großen Holzteller mit Brot und geräuchertem Fleisch in den Händen, einen Krug Met unter dem Arm, da fühlte er etwas in sich aufflackern. Etwas, das er lange für tot gehalten hatte.

Hoffnung.

Sie stellte das Essen vor ihm ab, füllte ihm einen Becher mit Met. Ihre Hände zitterten leicht, und als ihre Finger die seinen für einen Moment streiften, durchfuhr ihn ein Schauer, der nichts mit der Kälte der Nacht zu tun hatte.

Ihre Blicke trafen sich. In diesem Moment, der nur einen Herzschlag dauerte, sah Siegmund in ihre Seele. Er sah den Schmerz dort, die Einsamkeit, die stumme Verzweiflung. Und er wusste, dass sie das Gleiche in ihm sah.

Sie waren gleich, sie beide. Zwei verlorene Seelen, gefangen in einem Leben, das sie sich nicht ausgesucht hatten, gebunden durch Ketten, die sie nicht zerbrechen konnten.

"Danke", flüsterte er, so leise, dass nur sie es hören konnte.

Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht, so flüchtig wie ein Sonnenstrahl durch Wolken. Dann wandte sie sich ab und kehrte zu ihrem Platz im Schatten zurück.

Hunding hatte die Szene beobachtet. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, aber seine Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen. Er erhob sich abrupt.

"Ich gehe zu Bett", verkündete er. "Wir haben einen langen Tag vor uns morgen. Siegmund, Ihr schlaft hier am Feuer. Sieglinde wird Euch Decken bringen."

Er ging zur Kammer am Ende der Halle, einer kleinen, abgetrennten Ecke, die durch schwere Vorhänge vom Rest des Raumes getrennt war. Bevor er verschwand, warf er seiner Frau einen langen, durchdringenden Blick zu.

"Komm bald nach, Weib. Ich erwarte dich."

"Ja, mein Gemahl."

Hunding verschwand hinter den Vorhängen. Siegmund und Sieglinde waren allein – so allein, wie man in einer Halle sein konnte, in der der Ehemann nur durch einen dünnen Stoff getrennt schlief.

Sieglinde bewegte sich nicht. Sie stand da, die Arme um sich geschlungen, und starrte ins Feuer. Siegmund beobachtete sie, sah, wie die Flammen Schatten auf ihr Gesicht warfen, wie ihre Schultern unter einer Last zitterten, die niemand sehen konnte.

"Sieglinde", flüsterte er.

Sie wandte sich nicht um, aber er sah, wie sie zusammenzuckte, als hätte er sie geschlagen.

"Ihr solltet essen", sagte sie leise. "Und dann schlafen. Ihr braucht Eure Kraft."

"Ich brauche mehr als Kraft", erwiderte er. "Ich brauche Hoffnung. Und die habt Ihr mir gegeben, nur durch Euren Anblick, durch Eure Güte."

Jetzt drehte sie sich zu ihm um. Tränen glitzerten in ihren Augen, ungeweint, aber da.

"Sprecht nicht so", flüsterte sie. "Ihr wisst nicht, was Ihr sagt. Ihr kennt mich nicht."

"Doch", sagte Siegmund mit fester Stimme. "Ich kenne Euch. Ich habe Euch immer gekannt, auch wenn wir uns nie zuvor begegnet sind. Ihr seid das, wonach ich mein ganzes Leben gesucht habe, ohne zu wissen, dass ich es suchte."

Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, das sie kaum unterdrücken konnte. "Hört auf. Bitte."

"Warum? Weil es die Wahrheit ist?"

"Weil es keine Rolle spielt." Ihre Stimme war voller Schmerz. "Morgen werdet Ihr fort sein, und ich werde hier bleiben, in diesem Haus, gefangen wie ein Vogel im Käfig. Das ist mein Schicksal. Das war es immer."

"Dann ändere das Schicksal", flüsterte Siegmund.

Sie starrte ihn an, ihre Augen weit vor Schock. "Wie? Wie soll ich das?"

"Flieh mit mir. Wenn der Morgen kommt, wenn Hunding zur Jagd aufbricht – komm mit mir. Wir werden zusammen fliehen, irgendwohin, wo sie uns nicht finden. Wir werden ein neues Leben beginnen, fernab von all dem Leid und der Einsamkeit."

Für einen Moment sah er Hoffnung in ihren Augen aufblitzen, hell und schön wie ein Stern. Aber dann erlosch sie, erstickt von der Realität.

"Das kann ich nicht", flüsterte sie. "Ich bin sein Weib. Ich gehöre ihm. Das Gesetz—"

"Zur Hölle mit dem Gesetz!", zischte Siegmund, seine Stimme immer noch leise, aber mit einer Intensität, die sie beide erschaudern ließ. "Was ist das Gesetz anderes als eine Kette, die uns bindet? Was ist die Sitte anderes als ein Gefängnis? Ihr habt ein Herz, Sieglinde. Ihr habt einen Willen. Nutzt ihn!"

Sie schüttelte den Kopf, Tränen rollten nun offen über ihre Wangen. "Ihr versteht nicht. Ihr könnt es nicht verstehen."

"Dann erklärt es mir."

Einen Moment lang schien sie zu ringen, als kämpften zwei Seelen in ihr um die Vorherrschaft. Dann, mit gebrochener Stimme, begann sie zu sprechen.

"Ich war noch ein Kind, als sie mich holten. Ich lebte bei meinem Vater, in einem fernen Land, glücklich und frei. Aber dann kamen fremde Männer, Krieger, und sie raubten mich. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht, was aus meinem Vater wurde, aus meiner Familie. Sie brachten mich hierher, an diesen Ort, und verkauften mich an Hunding wie ein Stück Vieh."

Siegmunds Herz zog sich zusammen. "Geraubt", flüsterte er. "Wie meine Schwester."