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Schon seit Monaten reitet Lance Finnegan auf der Fährte jener Banditen, die bei einem Postkutschenüberfall seinen jüngeren Bruder ermordet haben, als er endlich nach Potters Ferry gelangt. Er hatte geglaubt, hier am Cimarron eine Handelsstation oder ein Frachtwagencamp vorzufinden. Tatsächlich aber findet er eine Stadt vor, die Hunderten von Büffeljägermannschaften als Stützpunkt dient. Die Hoffnung, in diesem Gewimmel zwei Banditen ausfindig zu machen, zerrinnt. Finnegan ist am Ende, ausgehungert und ohne einen Cent in der Tasche.
Das Angebot, sich einer Büffeljägermannschaft anzuschließen, kommt ihm wie gerufen. Der Jagdboss ist eine zwielichtige Gestalt, aber er zahlt besser als jeder andere. Neun Männer und ein Mädchen fahren mit ihrem Wagen ins Indianerland, hinunter an den Washita River, wo die gigantischen Büffelherden stehen und das große Massaker bereits in vollem Gange ist. Noch werden die Gegensätze innerhalb der Mannschaft übertüncht von der Gier der Männer nach raschem Reichtum, doch schon bald werden sie zu einer tödlichen Auseinandersetzung führen ...
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
DIE BISON-MANNSCHAFT
Vorschau
Impressum
DIE BISON-MANNSCHAFT
Schon seit Monaten reitet Lance Finnegan auf der Fährte jener Banditen, die bei einem Postkutschenüberfall seinen jüngeren Bruder ermordet haben, als er endlich nach Potters Ferry gelangt. Er hatte geglaubt, hier am Cimarron eine Handelsstation oder ein Frachtwagencamp vorzufinden. Tatsächlich aber findet er eine Stadt vor, die Hunderten von Büffeljägermannschaften als Stützpunkt dient. Die Hoffnung, in diesem Gewimmel zwei Banditen ausfindig zu machen, zerrinnt. Finnegan ist am Ende, ausgehungert und ohne einen Cent in der Tasche.
Das Angebot, sich einer Büffeljägermannschaft anzuschließen, kommt ihm wie gerufen. Der Jagdboss ist eine zwielichtige Gestalt, aber er zahlt besser als jeder andere. Neun Männer und ein Mädchen fahren mit ihrem Wagen ins Indianerland, hinunter an den Washita River, wo die gigantischen Büffelherden stehen und das große Massaker bereits in vollem Gange ist. Noch werden die Gegensätze innerhalb der Mannschaft übertüncht von der Gier der Männer nach raschem Reichtum, doch schon bald werden sie zu einer tödlichen Auseinandersetzung führen ...
Vor Lance Finnegan lag Potters Ferry, ein Versorgungsstützpunkt aller Wagentrails und Büffeljägermannschaften, die von hier aus nach Süden zogen. Er hatte sich die Niederlassung als eine Art Frachtstation vorgestellt. Was er jetzt vor sich sah, war ein Heerlager, eine für die Verhältnisse der Grenze geradezu unvorstellbare Ansammlung von Menschen. Zwischen den großen Lagerhäusern und den Barackenzelten von Potters Ferry zeigte sich ein ameisenhaftes Gewimmel. Sicherlich war die berühmte Stecknadel in einem Heuhaufen leichter zu finden als Jesse Ringo und King Farholm unter all diesen Menschen. Fast ein halbes Jahr ritt Finnegan nun schon auf der Fährte dieser beiden Desperados und hatte dabei all seine Reserven — sowohl finanziell wie auch körperlich — restlos erschöpft.
Lance Finnegan entstammte einer Farmerfamilie aus Illinois. Schon mit zwölf Jahren war er hinter dem Pflug gegangen und hatte seinem Vater geholfen, das Letzte aus der viel zu geringen Ackerfläche herauszuholen. Als er dreizehn war, starb seine Mutter. Ein halbes Jahr später hatten sie die kleine Farm verkauft und waren nach Westen über den Missouri gegangen. Zweimal hatten sie versucht, eine neue Heimstatt zu gründen und Wurzeln zu schlagen, und zweimal waren sie von großmächtigen Burschen vertrieben worden — sein Vater, sein jüngerer Bruder Boyd und er. Als sie dann zum dritten Mal weiterzogen, hatte ihre ganze Habe aus einem morschen Wagen mit Hausrat, dem Ackergerät, zwei klapprigen Gäulen und einer Milchkuh bestanden.
Zu diesem Zeitpunkt war Lance Finnegan sechzehn Jahre alt. Sie hatten den Versprechungen eines skrupellosen Landagenten geglaubt und im westlichen Teil von Nebraska einen neuen Versuch gewagt. Sein Vater, schon mit fünfundvierzig Jahren ein verbrauchter, gebeugter Mann, hatte darin seine letzte Chance gesehen. Er hatte standgehalten, als sich wieder dieselben Schwierigkeiten ergaben wie die beiden Male zuvor. Und dann, als er mit der Schrotflinte in der Hand ein paar wilden Burschen entgegentrat, die ein Rinderrudel quer durch sein Maisfeld trieben, war er getötet worden. Lance Finnegan und sein drei Jahre jüngerer Bruder wurden zu Waisen.
Für die erste Zeit hatte Boyd bei einer Nachbarfamilie Aufnahme gefunden — ein entwurzelter, aufsässiger und widerborstiger Junge mit einem fanatischen Stolz, der jeden Erziehungsversuch zum Scheitern brachte. Obgleich man Lance nach dem Tod seines Vaters in Frieden ließ, war es ihm nicht gelungen, die Siedlerstelle allein zu bewirtschaften. In der Stadt hatte er einen Job im Mietstall gefunden und auch in der dazugehörigen Schmiede gearbeitet. Innerhalb eines Jahres war er fast vier Zoll gewachsen. Aus einem mageren, schlaksigen Jungen war ein zäher und sehniger Mann geworden, dessen Hagerkeit leicht über seine Körperkraft hinwegtäuschte.
Dann wurde Lance Finnegan Weidereiter. Mit achtzehn Jahren bezog er vollen Lohn, und mit neunzehn Jahren kämpfte er in einer Fehde gegen jene Männer, die ihm und seiner Familie zum Schicksal geworden waren, und tötete einen von ihnen. Nachdem er seinem Rancher bei der Aufklärung von Brandfälschungen und Viehdiebstählen weitere wertvolle Dienste geleistet hatte, stieg er mit zweiundzwanzig Jahren zum Bestman einer Weidecrew auf und bezog einen Spitzenlohn. Seine Chancen, im Wettbewerb mit zwei anderen Bestleuten schließlich der Nachfolger des alten Ranchvormanns zu werden, standen glänzend.
Boyd hatte inzwischen die Schule besucht und später eine Beschäftigung als Clerk bei der Bank gefunden. Er war intelligent und ehrgeizig. Wenn ihm etwas im Wege stand, dann waren es seine Empfindlichkeit und sein närrischer Stolz. Er glaubte, jeder sähe in ihm noch immer den verwaisten, abgerissenen Jungen aus einer heruntergekommenen Familie von Schollenbrechern.
Die Ursache für Boyds Entlassung war nichts weiter als eine beiläufige Rüge wegen irgendeiner Belanglosigkeit. Erst die Art, wie Boyd darauf reagierte, machte sie zu einer Affäre. Er fand Beschäftigung bei einem Anwalt. Die ganze dumme Geschichte hätte vergessen sein können; in Boyd Finnegan jedoch hatte sie einen Stachel hinterlassen, der ihn womöglich noch reizbarer machte. Er hatte immer wieder Schwierigkeiten. Schließlich ging er nach Lincoln, in die Hauptstadt des Territoriums, obgleich Lance ihn mit allen Mitteln zu halten versuchte.
Boyds Briefe kamen selten, und er äußerte sich kaum über die Dinge, welche seinen besorgten Bruder am meisten interessiert hätten. Eines Tages erhielt Lance Finnegan dann die Benachrichtigung der Overland Mail. Boyd hatte als Transportbegleiter bei der Gesellschaft gearbeitet und war bei einem Postkutschenüberfall getötet worden. Es gab Beweise dafür, dass der Überfall von der gefürchteten Ringo-Bande verübt worden war, die sich in jener Zeit auf dem alten Oregon-Trail herumtrieb.
Lance Finnegans Selbstvorwürfe kannten keine Grenzen. Er, der bei seinem jüngeren Bruder die Stelle des Vaters hätte vertreten sollen, hatte versagt. Er tarnte den Aufruhr seiner Gefühle hinter einer nüchternen Leidenschaftslosigkeit. Aber er kehrte der Ranch, die ihm beinahe zur zweiten Heimat geworden war, den Rücken und nahm mit erbarmungsloser Verbissenheit die Verfolgung des Rudels auf.
Die Bande bestand aus den Brüdern Jesse und Slim Ringo sowie dem gefürchteten Revolvermann King Farholm. Früher einmal hatten ihr noch ein paar weitere Desperados angehört, die sich dann aus irgendeinem Grund mit ihrem Anführer entzweiten. Also blieben nur drei Namen, die Lance Finnegan unauslöschlich in sein Gedächtnis prägte.
Nach sieben Wochen aufreibender Jagd hatte er Glück und stellte die Brüder Ringo in Leavenworth in Kansas. Bei dieser Gelegenheit erfuhren die Banditen, wer ihnen da überhaupt auf den Fersen war. Auf dem dunklen Hof einer Frachtstation kam es zum Kampf. Zum ersten Mal sah Lance Finnegan die Mörder seines Bruders vor sich, wenigstens die Brüder Ringo. Die Desperados nahmen ihn offenbar nicht ernst. Innerhalb weniger Sekunden stellte sich dann aber heraus, dass sie diesen »lausigen Cowpuncher« unterschätzt hatten. Das Ergebnis war schrecklich genug: Slim Ringo blieb auf der Strecke, während Jesse, der eigentliche Kopf des Rudels, verwundet in die Dunkelheit entkam.
Aber auch Lance Finnegan hatte seinen Blutzoll zu entrichten. Mit einem durchschossenen Schenkel und einem Streifschuss an der Hüfte musste er die Verfolgungsjagd für einige Wochen unterbrechen; Zeit genug also für Jesse Ringo und King Farholm, ihre Fährte auszulöschen. Dass Lance Finnegan sie dennoch wiederfand, war mehr oder weniger einem glücklichen Umstand zuzuschreiben. Kreuz und quer durch drei Staaten hetzte er rastlos die beiden Überlebenden und kam doch immer um einige Tage zu spät. Nun ritt er nach Potters Ferry hinein, wo Jesse Ringo und King Farholm nach seiner Schätzung vor knapp einer Woche angekommen sein mussten.
Er war abgemagert und hohlwangig, in seinem Gürtel gab es drei neue Löcher, und die verschossene Buschjacke schlotterte ihm um den Oberkörper. Am schlimmsten jedoch war, dass sich seine Barschaft auf ganze achtzig Cents beschränkte. Wenn Jesse Ringo und King Farholm ihm wieder einmal durch die Lappen gegangen waren, dann musste er die Verfolgung aufgeben — oder doch wenigstens für einige Zeit unterbrechen, um sich mit einer möglichst einträglichen Arbeit neues Kapital zu verschaffen.
Vorsichtig lenkte Lance Finnegan sein abgekämpftes Pferd durch die Menge und wich zwei Heuwagen aus, die aus einer Seitengasse kamen. Das Bild der Grenze hätte sich ihm nicht bunter und vielfältiger präsentieren können als in diesem Camp. Dann bekam er auch zwei Frauen zu Gesicht, die in ihren einfachen Kattunkleidern eilig dahinschritten und die Köpfe mit den Schutenhüten gesenkt hielten, um nicht den vielen neugierigen Männerblicken standhalten zu müssen. Ganz anders war es vor dem nächsten Saloon. Die grellgeschminkten Flitterladies in der Tür taten alles, um die Männerblicke auf sich zu ziehen, und der Lärm aus dem Lokal ließ darauf schließen, dass die Nacht hier schon vor Sonnenuntergang begann.
Der Saloon hatte einen Gehsteig, auf dem vier Männer eine eifrig debattierende Gruppe bildeten. Lance Finnegan griff an seinen Hutrand.
»Hallo, Gentlemen! Kann mir jemand von Ihnen sagen, ob es in diesem Babylon einen Mann des Gesetzes gibt und wo ich ihn finde?«
»Es gibt einen US-Marshal in Potters Ferry — Horace Whitney, wenn Sie den meinen, Cowboy«, erwiderte ein ungeschlachter, bärenhafter Mann mit offensichtlichem Widerwillen. »Was wollen Sie denn von ihm?«
»Ich bin hier mit Freunden verabredet — Jesse Ringo und King Farholm, — und ich weiß nicht, wo ich mit der Suche anfangen soll. Sie haben die Namen nicht zufällig in den letzten Tagen gehört, Mister?«
Der Mann kniff die Augen zusammen und wechselte einen Blick mit seinen Begleitern, aber er zeigte sich interessiert, als er antwortete:
»Nein, nicht in den letzten Tagen, Freund ...«
Lance Finnegan stutzte. »Aber früher schon einmal?«
»Kann sein«, versetzte der andere achselzuckend. »Die Welt ist voller Namen, nicht wahr? — Was ist das für eine Sorte von Freunden, nach denen man sich beim Marshal erkundigt, anstatt in den Hotels zu suchen?«
Ohne Finnegans Zutun verhärtete sich seine Miene.
»Das werde ich ihnen selbst sagen, wenn ich sie treffe.«
Einer der anderen, ein schlanker Bursche mit dunklen Augen und fahlbrauner Haut, nickte verständnisinnig und sagte dann mit einer samtenen Stimme, die an das Schnurren einer Raubkatze erinnerte:
»Ich wette, ich kenne die Sprache, in der Sie mit Ihren Freunden reden wollen, Mister. Sie klingt ziemlich abgehackt und verbreitet einen Geruch von Pulverdampf, stimmt es?«
»Wo finde ich denn nun den Marshal?«, fragte Finnegan unbewegt, so als ob er die Frage gar nicht gehört hätte.
»Dahinten in der Seitengasse«, erklärte ein anderer Mann mit zynischem Grinsen. »Horace Whitney haust in dem Anbau eines Lagerschuppens.«
Der untersetzte, rotgesichtige Mann mit dem krausen grauen Haar saß auf einem Stuhl neben einem wackligen Tisch. Die Hosenbeine hatte er bis zur haarigen Wade hochgekrempelt, und seine Füße standen in einer alten Blechschüssel mit Wasser. Wachsam blickte er Lance Finnegan in vorgebeugter Haltung entgegen. Dann entspannte sich sein Gesicht, und er schnaufte erleichtert:
»Na endlich! Seit einer halben Stunde warte ich auf jemanden, der mir das Handtuch vom Bett herüberreicht. — Blödsinnig, was?«
Ohne mit der Wimper zu zucken, ging Finnegan zu der alten Bettstelle in der Ecke und griff nach dem Handtuch. Er warf es dem Mann zu und beobachtete, wie jener umständlich seine Füße abtrocknete.
»Sie sind der Staatenmarshal von Potters Ferry?«, fragte Finnegan.
Umständlich fuhr sein Gesprächspartner in die Stiefel. Man gewann den Eindruck, dass er es darauf anlegte, Behäbigkeit vorzutäuschen.
»Horace Whitney, Deputy Marshal der Vereinigten Staaten. Zu dienen, Mister«, gab der Mann zurück. »Mit wem habe ich die Ehre?«
»Finnegan — Lance Finnegan ist mein Name.«
»Und weiter? Was führt Sie zu mir, Mister?«
»Ich suche zwei Männer — Jesse Ringo und King Farholm«, entgegnete Finnegan. »Vielleicht haben Sie die Namen schon einmal gehört?«
Der Marshal stemmte die Fäuste auf die Tischplatte und legte theatralisch den Kopf zurück. Aus schmalen Augen starrte er seinen Besucher an.
»Sie brauchen mir nicht zu sagen, wer Jesse Ringo und King Farholm sind, Freund. Sie sind der Mann, der in Leavenworth Slim Ringo erschoss, Jesse Ringos jüngeren Bruder, nicht wahr?«
»Sie sind gut informiert, Marshal.«
»Dafür werde ich bezahlt.«
»Dann wissen Sie auch, warum ich hinter diesen beiden Schuften her bin?«
»Ich nehme an, dass Sie es mir gleich sagen werden.«
Finnegan nickte. »Die Ringo-Bande hat bei einem Postkutschenüberfall in der Nähe von Lincoln meinen Bruder umgebracht.«
»Dafür haben Sie Ringos Bruder erschossen«, versetzte Horace Whitney unbeeindruckt. »Die Rechnung geht auf. Sie sind quitt.«
»Ist das alles, was Sie mir sagen können, Mister?«
»Was erwarten Sie eigentlich von mir, Finnegan?«, entgegnete er sarkastisch. »Dass ich Sie jetzt auf Tritt und Schritt begleite, bis Sie mir diese Burschen zeigen können, damit ich sie einsperre?«
»Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass es ziemlich hart werden könnte, falls ich Jesse Ringo oder King Farholm in diesem Camp begegnen sollte.«
Der Marshal grinste auf ziemlich niederträchtige Weise.
»Schön, Sie haben mich also gewarnt. — Und jetzt hören Sie mir einmal zu, Finnegan: Wenn ich mir jeden Mann in Potters Ferry vornehmen wollte, gegen den es einen Steckbrief gibt oder der irgendetwas auf dem Kerbholz hat, dann würde ich damit das Camp zur Hälfte entvölkern.«
Der gallebittere Geschmack in Finnegans Mund blieb nicht ohne Auswirkung auf seine Miene. Er verzog höhnisch den Mund, als er erwiderte:
»Und deshalb drücken Sie lieber beide Augen zu?«
»Falsch«, sagte Horace Whitney trocken. »Die Zusammenhänge liegen anders. Haben Sie schon einmal vom siebenunddreißigsten Breitengrad gehört?«
»Ich glaube, er bildet die nördliche Grenze des Indianerterritoriums«, gab Finnegan verwirrt und etwas unsicher zurück.
»Eben«, bestätigte der Marshal trocken. »Die Flussschleife des Cimarron aber, in der Potters Ferry liegt, befindet sich bereits südlich davon. Das hier ist Indianerland, Finnegan, und deshalb hat kein Staatenmarshal in diesem Camp etwas zu suchen. Haben Sie draußen an meinem Prachtschloss ein Schild gesehen? Oder sehen Sie ein Silberschild an meiner Jacke? Nein? Dann wissen Sie jetzt vielleicht, warum das so ist. Ich bin überhaupt nicht da, Finnegan! Ich bin nichts weiter als eine Attrappe oder eine Vogelscheuche, wenn Sie so wollen. Allein durch meine Anwesenheit soll ich die rauen Burschen hier im Zaum halten. Aber das ist auch alles. Und es wird sich erst ändern, wenn meine Vollmachten erweitert werden. Bis dahin aber werden sich die Krähen auf Kopf und Schultern der Vogelscheuche setzen, weil sie sich von ihrer Harmlosigkeit überzeugt haben, und sie werden anfangen — nun, Sie wissen schon, was ich meine, Mr. Lance Finnegan. Bestimmt hat auch Ihnen schon mal ein Vogel etwas auf die Jacke fallen lassen, nicht wahr?«
»Was würden Sie mir raten?«, fragte Lance Finnegan mit belegter Stimme.
Unmerklich schüttelte der Marshal den Kopf.
»Auf der anderen Seite des Flusses beginnen einige Zehntausend Quadratmeilen gesetzlosen Landes. Ich nehme an, Jesse Ringo und King Farholm wissen, dass Sie ihnen auf den Fersen sind, Finnegan. Die beiden müssten Narren sein, wenn sie diese Chance nicht nutzten.«
»Und wenn ich ihnen nun weiter folgte?«, fragte Finnegan gepresst.
»Meinetwegen bringen Sie die beiden hierher zurück. Ich könnte dafür sorgen, dass sie nach Fort Dodge geschafft und dort vor Gericht gestellt werden.«
Er zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr: »Aber besser wäre, Sie würden das alles vergessen, Freund. Der Weg ins Büffelland könnte für Sie leicht zu einem Trail in die Hölle werden.«
»Ich weiß«, gab Finnegan tonlos zurück. »Aber vergessen kann ich trotzdem nicht. — Vielen Dank für die Aufklärung, Whitney.«
✰✰✰
Einen Moment lang war Lance Finnegan unschlüssig, welche Richtung er einschlagen sollte. Es hatte wenig Sinn, mit achtzig Cents in der Tasche zu einem Mietstall zu reiten oder einen der Saloons an der Hauptstraße aufzusuchen. Draußen am Fluss hingegen fand wenigstens das Pferd eine saftige Weide. Außerdem war Essenszeit und somit nicht ausgeschlossen, dass sich in einem der Büffeljäger- und Wagencamps eine gastfreundliche Seele eines ausgehungerten Reiters erbarmte. Im Rinderland wäre das eine Selbstverständlichkeit gewesen.
In diesem Moment tauchte in der Dämmerung eine Gestalt vor ihm auf und kam ihm entgegen. Er erkannte in dem schwergewichtigen Mann den Wortführer jener Gruppe, die er vor dem Saloon angesprochen hatte.
»Da sind Sie ja!«, schnaufte der andere. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie sich bei Whitney eine Weile aufhalten würden. — Sie haben nichts erreicht, wie?«
Sein gewollt anteilnahmsvoller Tonfall ging Lance Finnegan irgendwie gegen den Strich.
»Wie man es nimmt«, wich er aus.
Ein grollendes Lachen kam aus der Kehle des Mannes.
»Schon gut, Cowboy. Ich erwarte ja nicht, dass Sie mir alles auf die Nase binden, obgleich ...« Er brach ab und räusperte sich. Dann fügte er mit einem schlauen Grinsen hinzu: »Obgleich mir da vorhin etwas eingefallen ist, was Sie bestimmt interessieren würde. Deshalb bin ich Ihnen auch nachgekommen. Sagten Sie nicht, dass Sie einen Mann namens Jesse Ringo suchen?«
Lance Finnegans jähe Anspannung schloss jede andere Überlegung aus.
»Sie wissen etwas von ihm?«
»Ich sagte ja schon, dass mir der Name irgendwie bekannt vorkam. Jetzt ist es mir wieder eingefallen. Ich hörte den Namen im Store, als ich Giftpulver für die Häute einkaufte. Soweit ich mich erinnere, handelte es sich um einen ziemlich großen Mann, vielleicht noch zwei Zoll größer als Sie. Er hatte eine Tätowierung auf einem Handrücken und das Gesicht eines Lämmergeiers.«
»Das ist Jesse Ringo«, seufzte Lance Finnegan mit einem scharfen Atemzug. »Von der Tätowierung weiß ich nichts, aber sonst hätten Sie ihn nicht besser beschreiben können.«
Der Mann kniff das linke Auge zusammen.
»Dann muss das zwischen Ihnen eine merkwürdige Freundschaft sein, Mister. Was ist mit dem anderen, diesem King Farholm? Vielleicht könnte ich ihn nach einer Beschreibung erkennen.«
»Ich habe ihn nie gesehen«, versetzte Finnegan verdrossen. »Von ihm weiß ich nur den Namen.«
Verständnisinnig nickte der andere ihm zu.
»Also hatte Joe Bluebell recht. Sie haben eine Rechnung zu begleichen, nicht wahr?«
»Kann sein«, bestätigte Lance Finnegan unwillig. »Aber zurück zu Jesse Ringo. Hält er sich noch in Potters Ferry auf?«
»Darüber spricht es sich besser bei einem Drink. Was halten Sie davon?«
Finnegan zögerte.
»Knapp bei Kasse, wie? Nun, Sie brauchen nicht zu meinen, dass Jake Marvin auf einen spendierten Drink aus ist. Sie sind eingeladen, Freund. Wie war noch gleich Ihr Name?«
»Lance Finnegan.«
Jake Marvin stutzte und blickte rasch auf, soweit sich das in der zunehmenden Dämmerung erkennen ließ.