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Vierzigtausend Dollar in Gold befinden sich in den Satteltaschen von Reece Rushmores Packpferd, die gesamte Beute eines Raubüberfalls. Aber die Wölfe sind auf seiner Fährte und lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Länger als eine Woche hetzen sie ihn durch die Wildnis, bis er schließlich auf die Hellgate Ranch flüchtet.
Mitten in der Nacht erreicht Reece Rushmore die Ranch. Doch schon der Anblick von Old Titus macht ihm klar, dass es für ihn keine Umkehr mehr gibt. Er gehört unwiderruflich zu den Verlorenen. Mehr und mehr treibt alles einer Katastrophe entgegen, bis in einem harten Kampf die Entscheidung fällt ...
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
HELLGATE CANYON
Vorschau
Impressum
HELLGATE CANYON
Vierzigtausend Dollar in Gold befinden sich in den Satteltaschen von Reece Rushmores Packpferd, die gesamte Beute eines Raubüberfalls. Aber die Wölfe sind auf seiner Fährte und lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Länger als eine Woche hetzen sie ihn durch die Wildnis, bis er schließlich auf die Hellgate Ranch flüchtet.
Mitten in der Nacht erreicht Reece Rushmore die Ranch. Doch schon der Anblick von Old Titus macht ihm klar, dass es für ihn keine Umkehr mehr gibt. Er gehört unwiderruflich zu den Verlorenen. Mehr und mehr treibt alles einer Katastrophe entgegen, bis in einem harten Kampf die Entscheidung fällt ...
Sie hatten zwischen den Felsen am Rand der Poststraße Stellung bezogen. Lionel Craig und Reece Rushmore kauerten hinter den Büschen und spähten zu Elliot Spinola hinauf, der von seinem Platz aus die weite Biegung der Straße überblicken konnte. Aber der dunkelhaarige Spinola schüttelte den Kopf. Es war noch nicht so weit.
Lionel Craig drehte sich eine Zigarette. Nachdem er schlenkernd das Zündholz gelöscht hatte, blies er den Rauch in die Luft.
Reece Rushmore war der jüngste Mann des Kleeblatts. Er fingerte an seinem Revolver herum und stieß schließlich mit belegter Stimme hervor:
»Wieso bist du eigentlich so sicher, dass es ausgerechnet diese Kutsche ist? Und wenn sich tatsächlich vierzigtausend in Goldstaub in der Kiste befinden, dann haben sie bestimmt zwei bewaffnete Begleiter dabei.«
»Na und?« Lionel Craig kräuselte die Lippen. »Solche Burschen sehen vielleicht gefährlich aus, solange sie nur auf dem Bock zu sitzen brauchen und dabei ihren Schießprügel drohend auf den Schenkel stemmen. Aber sie nehmen verdammt schnell Vernunft an, wenn man ihnen eine scharf geladene Kanone unter die Nase hält. Und außerdem – wenn Spinola im richtigen Augenblick die Felslawine auslöst, dann werden sie genug mit sich selbst zu tun haben und gar nicht an Gegenwehr denken.«
Die Kaltblütigkeit des hochgewachsenen, kräftigen Banditen blieb auf Reece Rushmore nicht ohne Wirkung.
»Yeah«, sagte er zögernd, »sicher hast du recht, Craig.«
»Bestimmt«, versicherte Lionel Craig selbstbewusst. »Nur nicht weich werden, Reece. Die ersten Schritte sind immer die schwersten. Als du in Apache Wells diesen aufgeblasenen Deputy erledigt hast, warst du ganz schön in Form. Also mach nur so weiter, dann wirst du bald zu den ganz großen Nummern im rauen Geschäft gehören.«
Mit einem Schlag war Reece Rushmore bleich geworden und starrte seinen hartgesottenen Kumpan an.
»Ich war betrunken, Craig«, versetzte er schrill. »Ob du es nun glaubst oder nicht, ich wollte mich nicht mit ihm anlegen. Aber ...«
Reece Rushmore hatte sich abgewandt und lauschend den Kopf auf die Seite gelegt. Auch Lionel Craigs Miene spannte sich.
»Yeah«, sagte er nur wenig später und trat seine Zigarette aus, »das muss sie sein. Da – Spinola gibt das Zeichen! Los, zieh dir das Halstuch vors Gesicht!«
Jenseits der Poststraße sah man Elliot Spinola in einer Felsscharte herumklettern. Nachdem er die herannahende Kutsche erblickt hatte, verließ er seinen Beobachtungsposten und begab sich zu einer vorspringenden Ecke der steilen Rinne, hinter der ein großer und einige Dutzend kleiner Felsbrocken aufgetürmt waren. Zusammen ergaben sie eine beachtliche Gesteinsmasse, die nur von dem einen großen Block gehalten wurde. Es genügte, wenn Elliot Spinola diesem mächtigen Felsbrocken einen kräftigen Stoß gab, damit sich die ganze Lawine in Bewegung setzte. In der Rinne würde sie dann noch weiteres Geröll mitreißen und schließlich genau an einer Engstelle die Straße versperren.
Jetzt war bereits das Hufgetrappel des Vierergespanns zu hören. Dann sah Reece Rushmore auch schon den Fahrersitz und das Dach der schwankenden Concord-Kutsche über den Büschen erscheinen. Zwei Männer, der alte, grauhaarige Fahrer und ein bewaffneter Begleiter, saßen auf dem Bock. Plötzlich hatte Reece Rushmore das Gefühl, er müsse schreien und die beiden ahnungslosen Männer warnen. Doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Jetzt – jetzt musste Elliot Spinola die Lawine auslösen.
Im selben Moment hörte er das Knirschen und Prasseln, das schnell zu einem donnernden Getöse anschwoll. Zugleich stieg drüben aus der Rinne eine lange Staubfahne hoch. Bei diesem Anblick konnte Reece Rushmore seinen gellenden Schrei nicht länger zurückhalten und hetzte zu seinem Kumpan hinüber.
»Die Kutsche!«, brüllte er mit überschnappender Stimme. »Jetzt gerät sie genau in den Felssturz hinein!«
Lionel Craig riss den Kopf herum.
»Und wenn schon!«, keuchte er. »Das erleichtert uns doch nur die Arbeit.«
Für Reece Rushmore war es eine jener entscheidenden Sekunden, die das Schicksal eines Mannes bestimmen können. Seine Augen weiteten sich.
»Ihr Schufte!«, stieß er schrill hervor. »Ihr habt mich hinters Licht geführt! Ihr hattet von Anfang an nichts anderes vor.«
»Mach dich nicht lächerlich, du Narr!«, brüllte Lionel Craig ihn an und stieß ihn grob zur Seite. »Los, für Gefühlsduselei haben wir jetzt keine ...«
Seine Worte gingen unter in dem entsetzlichen Lärm, der von der Straße zu ihnen drang. Ein Mann brüllte heiser auf, Pferde wieherten schrill. Dann folgte ein ohrenbetäubendes Krachen. Das Poltern und Prasseln der herabsausenden Steinlawine verebbte.
Erst nach einer Weile hörte man wieder das Schnauben von Pferden und einen sonderbar hohen, klagenden Ton.
Reece Rushmore stand immer noch wie angewurzelt und starrte aus brennenden Augen Lionel Craig nach, der bereits hinüberstürmte. Mit einem leisen Krächzen riss Rushmore seinen Colt hoch und blickte über das Visier. Einen Herzschlag später war seine wilde Entschlossenheit zerronnen. Er brachte es nicht über sich, einen Mann in den Rücken zu schießen – erst recht nicht dann, wenn es ohnehin zu spät war. In den entscheidenden Augenblicken wurde er zu einem Zauderer und Schwächling.
Allmählich lichtete sich der Staub und enthüllte ein furchtbares Bild. Das linke Vorderrad der Kutsche war von einem Felsbrocken zerschmettert worden und der Wagen daraufhin umgekippt. Eines der Pferde aus dem vorderen Gespann war ebenfalls getroffen und zusammengebrochen. Während die anderen Tiere kreuz und quer im Geschirr standen und kopflos gegen die Stränge keilten, mühte es sich verzweifelt, aber vergebens, wieder auf die Beine zu kommen.
Die Straße war von Felsbrocken und Gesteinstrümmern bedeckt, das Dach der Kutsche zur Hälfte eingedrückt. Wieder klang aus ihrem Innern jener jammernde Laut. Ein Stück entfernt lag der grauhaarige Fahrer reglos mit dem Gesicht im Staub. Der Begleiter war glimpflicher davongekommen, weil er in den Büschen gelandet war. Hinkend schleppte er sich daraus hervor und bückte sich nach seiner verkürzten Flinte, über die er fast gestolpert wäre. Schwankend und mit glasigen Augen richtete er sich wieder auf und erkannte im selben Moment Elliot Spinola, der die Rinne herabgestolpert kam.
Mit einem Krächzen riss er seine Flinte hoch und drückte ab.
Elliot Spinola stieß einen Schrei aus, hob eine Hand vor das Gesicht und fiel zur Seite. Der Transportbegleiter fuhr herum, als er in dem lichter gewordenen Staub die große Gestalt Lionel Craigs auftauchen sah. Ehe er seine Flinte auf den Banditen richten konnte, drückte dieser dreimal in rascher Folge ab. Nur ein erstickter Seufzer kam noch aus der Kehle des Beifahrers, ehe er zusammenbrach.
Mit ein paar Sprüngen war Lionel Craig bei der umgestürzten Kutsche.
»Ruhe da drin!«, brüllte er, wobei seine Stimme seltsam dumpf hinter seiner Vermummung hervordrang. »Wer seine Nasenspitze zeigt, dem wird es leidtun.«
Lionel Craig wandte sich der Rinne zu.
Allem Anschein nach war Elliot Spinola vom größten Teil der Schrotladung verfehlt worden, sodass ihn nur wenige Schrotkörner getroffen hatten. An seiner linken Wange zeigte sich eine stark blutende Wunde, und ebenso schien seine linke Schulter verletzt zu sein, denn auf seiner Weste bildeten sich an zwei Stellen dunkle Flecken. Doch er hatte sich schon wieder aufgerappelt und kam fluchend heran.
Schweigend deutete Lionel Craig auf die eisenbeschlagene Wertsachenkiste, die in einem besonderen Fach unter dem Fahrersitz der Concord-Kutsche befördert wurde und durch das Umkippen bereits zur Hälfte herausgerutscht war. Mit vereinten Kräften zerrten sie sie ganz hervor und schleppten sie zur Seite. Mit zwei Schüssen sprengte der Bandit das Schloss und öffnete dann mit einem Fußtritt den Deckel. Trotz seiner Verwundung stieß Elliot Spinola einen triumphierenden Schrei aus. Etwa zwei Dutzend verschnürte und sorgfältig verplombte Lederbeutel ließen keinen Zweifel über ihren Inhalt.
Lionel Craig wandte sich suchend nach Reece Rushmore um. Er sah ihn mit hängenden Armen und geweiteten Augen dastehen.
»Die Satteltaschen!«, stieß Craig rau hervor.
Wortlos und mit schlafwandlerischen Bewegungen machte sich Reece Rushmore an die Arbeit. Auch nachdem die Beutel darin verstaut waren, wirkten die Satteltaschen noch schlaff und leer. Doch kostete es ihn nun schon einige Anstrengung, sie über die Schulter zu legen.
»Verdammt, worauf wartest du denn noch?«, zischte Elliot Spinola ihn an und zog sein Halstuch bis dicht unter die Augen, sodass auch die blutende Wunde an seinen Wangenknochen davon verdeckt wurde. »Mach endlich, dass du mit dem Zeug zu den Gäulen kommst.«
Als wäre er gerade erst aufgewacht, starrte Reece Rushmore ihn an.
»Yeah«, sagte er und ging steifbeinig wieder auf die Büsche zu. Zwischen den glatten Felsbuckeln, die dahinter emporragten, gab es einen schmalen Durchschlupf, der zum Versteck ihrer Pferde führte. Rascher wurden Reece Rushmores Schritte, als er zwischen dem Gestrüpp verschwand.
»Dieser Narr«, knirschte Lionel Craig plötzlich, als ihm – allerdings viel zu spät – die Ungeheuerlichkeit zu Bewusstsein kam.
Auch sein dunkelhaariger Kumpan zuckte zusammen, als wäre der Funke jäh auf ihn übergesprungen.
»Sein Halstuch ...«, keuchte er. »Er hatte sein Halstuch gar nicht mehr vor dem Gesicht.« Wieder wanderte sein Blick zu dem alten Postfahrer hinüber. »Er hat ihn gesehen. Jetzt können wir gar nicht mehr anders, wir müssen ihn uns vom Hals schaffen.«
Craig packte ihn beim Oberarm.
»Ihn?«, wiederholte er dumpf. »Da weiß ich eine bessere Lösung. Lass den Alten!«
»Du meinst ...?«
»Yeah«, stieß Lionel Craig mit düsterer Entschlossenheit hervor. »Es fällt mir nicht im Traum ein, mit diesem Tölpel auch noch zu teilen. Ihn – nicht den Alten – schaffen wir uns vom Hals. So, komm jetzt!«
In der umgestürzten Postkutsche erklang ein unterdrücktes Stöhnen. Die beiden Banditen achteten nicht darauf, sie rannten los. Sie waren gerade erst bei den Büschen angelangt, als jenseits der Felsen Hufschlag laut wurde. Lionel Craig zerrte sich im Laufen das Halstuch vom Gesicht und stieß einen Fluch aus. Ohne auf seinen verwundeten Kumpan Rücksicht zu nehmen, hetzte er in langen Sprüngen voraus und wand sich zwischen den Felsen hindurch. Sekunden später hatte er die offene Mulde erreicht, die sich dahinter erstreckte.
Reece Rushmore galoppierte bereits in mehr als zweihundert Yards Entfernung den jenseitigen Hang hinauf und winkte noch einmal höhnisch zurück. Er zog nicht nur das Packpferd mit den beiden goldgefüllten Satteltaschen, sondern auch die Pferde seiner geprellten Kumpane an der langen Leine hinter sich her.
»Dieser ausgekochte Teufel hat uns reingelegt«, sagte Craig heiser. »Dafür werde ich ihn umbringen. Etwas hat er nämlich übersehen: Wir können uns bei der Postkutsche Gäule beschaffen. – Vorwärts, Spinola, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
✰✰✰
Die Hellgate Ranch lag am Ende der Welt und trug ihren Namen nach jener unheimlichen Felsformation, die den Zugang zu einem der düstersten Canyons im Pedreras-Gebiet bildete. Die felsige Einöde war die letzte Zuflucht der Chiricahua-Apachen. Es waren zwei oder drei Sippen, insgesamt nicht mehr als dreißig oder vierzig Krieger mit ihren Familien, die sich ihre ungebundene Freiheit auch um den Preis eines Hundelebens, der Verfolgung und des Hungers bewahren wollten. Sie erhielten Zulauf von jungen und rebellischen Apachen aus anderen Chiricahua-Sippen und entwickelten sich innerhalb kürzester Zeit zu der am meisten gefürchteten Kriegshorde von Bronco-Indianern westlich des Pecos.
Der Mann, der sie führte, hieß Guayamas. Auf seinen Kopf war ein hoher Preis ausgesetzt. Doch niemand fand sich, der es unternommen hätte, diese Belohnung zu verdienen.
Einer der wenigen Männer, die jemals die Pedreras durchquert hatten, war Titus Rushmore, der Besitzer der Hellgate Ranch. Er sprach nicht über jenes Abenteuer, aber man wusste, dass er nur mit Hilfe eines alten grauhaarigen Bronco-Indianers dieser Hölle entronnen war, mit einer Pfeilspitze zwischen den Rippen, einer Bleikugel im Bein und auf einem Gaul, der wenig später an Erschöpfung verendete. Der Chiricahua mit dem zerfurchten Mumiengesicht und dem strähnigen grauen Haar, dem Titus Rushmore sein Leben verdankte, hatte seitdem auf der Hellgate Ranch Heimatrecht und wurde Pepe genannt. Ohne jemals dazu aufgefordert worden zu sein, machte er sich auf vielfältige Art nützlich.
Titus Rushmore war ein Hüne. Doch nicht nur die Last der Jahre und die harte Sattelarbeit auf einer kargen Weide hatten seine Schultern gebeugt, sondern auch Enttäuschungen und große Schicksalsschläge. Immer öfter geschah es in den letzten Monaten, dass er nachts keinen Schlaf mehr fand.
Es war seit dem Tag, an dem sein Sohn Reece nach einer heftigen und lautstarken Auseinandersetzung die väterliche Ranch verlassen hatte. Reece war nicht nur eigensinnig, halsstarrig und unbelehrbar, sondern auch leichtfertig, wild und verwegen.
Titus Rushmore hatte ihn scharf an die Kandare genommen, um ihm jenes Verantwortungsbewusstsein beizubringen, das für den zukünftigen Boss der Hellgate Ranch notwendig war. Reece jedoch zeigte sich uneinsichtig. Titus Rushmore hatte seinen erwachsenen Sohn vor den Augen einiger Weidereiter geohrfeigt. Eine Viertelstunde später war Reece davongeritten, ohne sich von irgendjemandem auf der Hellgate Ranch zu verabschieden, auch nicht von seinen beiden jüngeren Schwestern, den Zwillingen Kathleen und Sandra.
Nicht immer war Reece Rushmore als Erbe der Ranch vorgesehen gewesen. Er hatte einen älteren Bruder gehabt, Thomas, der als Erstgeborener das Werk seines Vaters hätte fortsetzen sollen. Tom besaß zweifellos das Zeug dazu, eines Tages als Boss auf der Hellgate Ranch die Zügel zu übernehmen.
Dann kam der schwarze Tag für die Hellgate Ranch. Sie hatten im Frühjahr eine Herde halbwilder Ladino-Rinder aus dem Dornbusch am Rand der Pedreras zusammengetrieben, in der sich auch eine größere Zahl narbiger Bullen befand. Tom war gerade dabei, einem besonders widerspenstigen und aufsässigen Burschen mit der schweren Bullpeitsche Respekt beizubringen, als sein Pferd in den Bau eines Erdhörnchens trat und sich überschlug. Tom wurde abgeworfen und von dem bedrängten Bullen angegriffen. Was sich dann abspielte, war ein Werk weniger Sekunden.
Der alte Weideboss der Hellgate Ranch, Brendon Nichols, hatte den verletzten Tom auf sein Pferd gezerrt und in Sicherheit gebracht. Tom Rushmore starb drei Tage später auf der Ranch. Der Arzt aus Turlock hatte festgestellt, dass seine Milz verletzt worden war. Auf den Tag genau vier Monate darauf begrub man auch Selma Rushmore, die Frau des Ranchers, die nach dem Tod ihres ältesten Sohnes dahingesiecht war.
Titus Rushmore war in dieser Zeit erschreckend gealtert und klammerte sich an den Gedanken, dass nun sein Sohn Reece an die Stelle des Erstgeborenen treten würde. Reece jedoch hatte sich offenbar als Lückenbüßer gefühlt und war nur widerwillig in die Bresche gesprungen. Im Laufe der nächsten Jahre spitzte sich das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater immer mehr zu, bis es dann schließlich zu jener letzten Szene vor der Veranda kam. Seitdem fragte sich Old Titus Rushmore, ob er nicht selbst einen großen Teil Schuld an dieser Entwicklung trug.
Sein Zimmer lag im Obergeschoss des Ranchhauses. Er stand am Fenster und starrte in die fahlhelle Vollmondnacht hinaus, die vom Zirpen der Zikaden und dem herben Duft des Sagelands erfüllt war. Längst hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Er wusste nicht einmal, wohin er blickte. Erst als er den Reiter auf dem Weg nicht nur sah, sondern sogar den Hufschlag von zwei Pferden vernehmen konnte, schreckte er aus seiner Versunkenheit auf.
Die Haltung des Reiters, der ein Packpferd an der Leine führte, weckte Erinnerungen in ihm, gegen die er sich mit aller Energie sträubte. Wenn der Rancher überhaupt noch etwas fürchtete, dann waren es Enttäuschungen. Jetzt wollte er nicht glauben, dass der Reiter dort sein Sohn Reece war.
Der Mann war bei den äußeren Korrals angekommen und ließ die Pferde aus einem holprigen, schwerfälligen Galopp in Schritt fallen. Der Reiter schien einen Moment unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Plötzlich riss er den Kopf herum und spähte den breiten Fahrweg zurück. Im selben Moment entdeckte auch der Rancher, dass dort hinten, etwa eine halbe Meile entfernt, zwei weitere Reiter auftauchten und rasch näherkamen.
Der Mann mit dem Packpferd dort unten bog plötzlich zum Stall und zum Futterschuppen ab. Für kurze Zeit verschwand er im Schatten, sodass man nur undeutlich erkennen konnte, wie er sich zu dem anderen Gaul hinüberbeugte und mit irgendetwas hantierte.
Dann kam der Reiter wieder zum Vorschein und schaute für einen Moment zum Ranchhaus herüber. Scheinbar unschlüssig hob er den Kopf.
Das Krächzen blieb Titus Rushmore in der Kehle stecken, als das Mondlicht auf das Gesicht des Mannes fiel. Es war sein Sohn Reece. Der Rancher war keines Lautes fähig. Er beugte sich weit vor. Durch diese Bewegung zog er die Aufmerksamkeit von Reece auf sich. Für die Dauer einiger Herzschläge begegneten sich die Blicke des Vaters und des Sohnes über eine Entfernung von annähernd zwanzig Yards hinweg.
Reece schien zu erstarren, als er die Gestalt am Fenster erkannte. Im nächsten Augenblick riss er wie von Furien gehetzt sein Pferd herum, zerrte das Packtier an der Leine und jagte wieder zum Creek hinab. Das Wasser spritzte auf, als er die Gäule hindurchtrieb und sie dann rücksichtslos anspornte.
Seine beiden Verfolger bogen ohne Zögern vom Weg ab und hefteten sich an seine Fersen. Nach kurzer Zeit verschwand der ganze Spuk hinter dem jenseitigen Kamm der langgezogenen Creek-Senke.
✰✰✰
Titus Rushmore hatte sein Nachthemd nur unordentlich in die Hose gestopft, als er aus seinem Zimmer stürmte und die Treppe hinabhastete. Am anderen Ende des Gangs wurde eine Tür geöffnet. Kathleen kam zum Vorschein.
»Dad?«, rief sie fragend, als sie auf der Treppe den Vater erkannte. »Mein Gott, musst du jetzt schon deine nächtlichen Wanderungen auf das ganze Haus ausdehnen?«
Anscheinend war der Rancher schon so sehr an den scharfen, beißenden Tonfall seiner Tochter gewöhnt, dass er davon gar keine Notiz mehr nahm.