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Ein Mormone hat sich im Wind-River-Becken mit seiner großen Sippe festgesetzt. Die Nachbarn sehen es nicht gern. Vor allen den Dunns und ihrem Anhang ist sie ein Dorn im Auge. Der große Weidekrieg scheint unvermeidlich zu sein. Da stellt der Mormonenälteste bedenkenlos einen ehemaligen Revolvermann in seine Mannschaft ein, der in Texas einen Deputy erschossen haben soll.
Weil Emmet Vickery, der Älteste, ihn mit Wohltaten überhäuft, macht Lester Starlight - so nennt er sich - den Kampf der Mormonen zu seinem eigenen. Es kommt zu einer wilden, blutigen Fehde, die mit dem Untergang der Dunns und schließlich mit dem Abzug der Mormonen endet.
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2024
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WIND-RIVER-LEGENDE
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Impressum
WIND-RIVER-LEGENDE
Ein Mormone hat sich im Wind-River-Becken mit seiner großen Sippe festgesetzt. Die Nachbarn sehen es nicht gern. Vor allen den Dunns und ihrem Anhang ist sie ein Dorn im Auge. Der große Weidekrieg scheint unvermeidlich zu sein. Da stellt der Mormonenälteste bedenkenlos einen ehemaligen Revolvermann in seine Mannschaft ein, der in Texas einen Deputy erschossen haben soll.
Weil Emmet Vickery, der Älteste, ihn mit Wohltaten überhäuft, macht Lester Starlight – so nennt er sich – den Kampf der Mormonen zu seinem eigenen. Es kommt zu einer wilden, blutigen Fehde, die mit dem Untergang der Dunns und schließlich mit dem Abzug der Mormonen endet.
Im Jahre 1879 entbrannte im Happy Valley von Wyoming eine blutige Fehde, die unter dem Namen »Mormonen-Krieg« in die Geschichte eingegangen ist. Mehrfach ist der Versuch unternommen worden, dieses Kapitel aus der Erschließung des Nordwestens in Form eines Romans zu gestalten, doch sind diese Versuche ausnahmslos so lückenhaft, wie es der geringe Umfang des bisher verfügbaren Tatsachenmaterials unvermeidlich erscheinen lässt. Insbesondere die Rolle eines Mannes blieb dabei ungeklärt, der ursprünglich keiner der kämpfenden Parteien angehörte und dennoch einen entscheidenden Einfluss auf das Geschehen hatte. Sein Name wird mit Lester Starlight angegeben, obwohl begründete Zweifel bestehen, dass dies sein richtiger Name war. Nach gewissen Anzeichen handelte es sich bei ihm in Wirklichkeit um einen vom Gesetz verfolgten Revolvermann namens Lee Garret aus Texas.
Ich habe an dieser Stelle Mr. Dwight M. Perkins aus Omaha, Nebraska, zu danken, der mir freundlicherweise völlig neue, bisher unbekannte Unterlagen zur Verfügung stellte. Es handelt sich um einige Briefe und vergilbte Taschenbuchaufzeichnungen seines Urgroßvaters Lester Starlight. Anscheinend wurden diese Notizen jedoch nicht zum Zeitpunkt des Geschehens gemacht, sondern in den darauffolgenden Jahren während eines Gefängnisaufenthaltes in Laramie aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Immerhin stammen sie von einem der Hauptbeteiligten des Mormonen-Krieges. Aus ihnen geht hervor, dass Lester Starlight zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, aber schon nach zwei Jahren begnadigt wurde und in das Wind-River-Becken zurückkehrte. Das aber ist bereits der Schluss, und wir stehen erst am Anfang einer alten Legende, die es wie kaum eine andere wert ist, zu neuem Leben erweckt zu werden.
H.C. Hollister
Im Happy Valley – im »Glücklichen Tal« – hatte sich der Mormone Emmet Vickery niedergelassen.
Er herrschte über seine zahlreiche Familie wie ein Patriarch, und niemals wäre es jemandem eingefallen, dem Oberhaupt den schuldigen Respekt zu verweigern.
Emmet Vickery war ein Mann, der auf Ordnung und System bestand. Seine erste Frau hieß Emily, und demnach mussten auch die Vornamen ihrer gemeinsamen Kinder mit einem E beginnen. Da waren also Ebenezer, Ellen, Ezra und Earnie, in der Reihenfolge ihrer Geburt. Mit seiner zweiten Frau, der Witwe seines Bruders, hatte er keine leiblichen Kinder. Hingegen hatte sie aus ihrer ersten Ehe eine Reihe von Söhnen und Töchtern mitgebracht.
Sie selbst hieß Judy, der Vater der Kinder Jerobeam. Also lauteten die Namen ihres Nachwuchses Joyce, Jeff, Joan, Janet und James. So ließ sich schon anhand der Anfangsbuchstaben genau bestimmen, zu welcher Mutter der jeweilige Namensträger gehörte.
In der ganzen Familie gab es nur eine Ausnahme; das war die einzige Tochter von Emmet Vickerys Shoshonen-Squaw. Er hatte der Indianerin den christlichen Namen Rachel gegeben, und ihre gemeinsame Tochter, das Nesthäkchen der Sippe, hieß Angel.
Nach alldem hätte man vermuten können, dass es sich bei Emmet Vickery um einen grimmigen Hünen handelte. Doch weit gefehlt, der Mormone war klein, dabei jedoch zäh, knorrig und energiegeladen. Es ging etwas Bezwingendes von ihm aus, eine Art Faszination, die in seinen festgegründeten Überzeugungen wurzelte, und der sich nur selten jemand zu entziehen vermochte.
Lester Starlight jedenfalls hatte es nicht gekonnt. Er war an einem Sonntagmorgen im Frühjahr 1878 auf die Mormonen-Ranch gekommen, abgerissen, erschöpft und ausgehungert. Auf dem Hof hatte er eine ganze Versammlung von Wagen und Reitpferden vorgefunden, aber seltsamerweise hatte sich auf sein Rufen kein Mensch gezeigt. Daraufhin war er abgesessen und hatte das Haus betreten.
Was er in dem großen Raum vorfand, der als Küche, Wohnraum und Diele gleichzeitig diente, hätte vermutlich jeden Mann aus der Fassung gebracht. Mehr als drei Dutzend Menschen – Männer, Frauen und Kinder – knieten am Boden, hatten ihre verschränkten Arme auf die Sitzflächen von Stühlen und Bänken gelegt und das Gesicht darin verborgen. Nur ein Mann hatte mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen ein inbrünstiges Gebet gesprochen.
Lester Starlights erste Regung war eine gewisse Belustigung gewesen. Aber dann waren seine Blicke denen eines anderen Mannes begegnet, der mit drei weiteren in der Ecke neben der offenen Feuerstelle stand und einen verbeulten Armeehut vor die Brust hielt. Dieser Mann hatte ein bronzefarbenes Gesicht mit vorspringenden Wangenknochen, dichtes blauschwarzes Haar, schrägstehende Augen und einen dünnlippigen Mund. Er war schlank und sehnig, und seine Füße steckten in perlenbestickten Mokassins.
Dieser Mann war indianischer Abstammung, offenbar ein Halbblut. Seltsamerweise hatte Lester Starlight vom ersten Augenblick an das Schicksalhafte dieser Begegnung mit Calem Finch gespürt.
Das Gebet Emmet Vickerys war der Abschluss der sonntäglichen Glaubensversammlung seiner Sippe. Wenig später hatte er inmitten seiner Kinder und Enkel den Gast begrüßt und ihn nach der Vorstellung nur noch »Bruder Starlight« genannt. Ganz selbstverständlich wurde der große Fremde in den Kreis aufgenommen und zu Tisch gebeten, ohne dass irgendwelche Fragen nach dem Woher und Wohin an ihn gerichtet worden waren.
Alles hatte sich wie von selbst ergeben. Emmet Vickery war knapp an Leuten, seitdem ihn die Dunns und Primroses zuerst bestohlen und betrogen und dann verlassen hatten, allen voran Kibbee Primrose, der zeitweilig den Posten eines Bestmanns auf Vickerys Pfeilspitze-Ranch bekleidete.
Die Dunns und die Primroses waren Hungerleider und Taugenichtse, die draußen im Wind-River-Becken auf drei armseligen Siedlerstellen hausten. Die Familie konnte sich nur notdürftig über Wasser halten, und einige der Männer waren daher gezwungen, sich als Ranchhelfer, Heumannschaft oder Cowpunchers einen Job zu suchen.
Kibbee Primrose, Kalispel und Phil Dunn und ihr Vetter Warren Decker fanden auf der Mormonen-Ranch Arbeit. Fast zwei Jahre lang arbeiteten sie für Emmet Vickery. Dann erst stellte sich heraus, welch großer Fehler es gewesen war, diesem Mann zu vertrauen. Zwar konnte Kibbee Primrose schwerlich nachgewiesen werden, dass seine Zahlangaben in den Zählbüchern gefälscht waren, aber tatsächlich war der Rinderbestand der Pfeilspitze-Ranch in dieser Zeit erschreckend zusammengeschmolzen. Das jedenfalls erwies sich beim Herbst-Round-up des Jahres 1877.
Inzwischen hatten sich auf der freien Weide des Happy Valley mehrere andere Viehzüchter niedergelassen. Einer von ihnen, ein gewisser Lew McGuire, schien ein Strohmann der Dunns gewesen zu sein. Ganz gewiss aber war er ihr Helfer und der Nutznießer ihrer dunklen Machenschaften. Dass er zu Tobias Dunns intimsten Freunden gehörte, stand außer Zweifel. Allerdings konnte auch später niemals restlos geklärt werden, ob schon zu dem Zeitpunkt, als er sich im Happy Valley ansiedelte, der Vorsatz bestand, die Mormonen zu vertreiben und das ganze Tal zu erobern, oder ob es den Dunns und ihren Kumpanen zunächst nur darum ging, gestohlenes Vieh möglichst unauffällig verschwinden zu lassen und das Brandzeichen der McGuire-Ranch zum Brennen von Pfeilspitze-Kälbern und Mavericks zu benutzen.
Während des Winters verlegten ein halbes Dutzend Dunns und Primroses ihren Wohnsitz ebenfalls ins Happy Valley und errichteten eine Reihe Hütten. Gewissermaßen über Nacht waren aus einem Rudel von Sattelstrolchen, Herumtreibern und Habenichtsen Viehzüchter und Rinderleute geworden. Sie verfügten über mehrere Weidereiter und eingetragene Brandzeichen. Zu allem Überfluss hatten sie auch noch ein paar Freunde ins Happy Valley mitgebracht.
Nach dem Frühjahrsauftrieb stellte sich heraus, dass Emmet Vickery nicht einmal in der Lage war, seinen Armeekontrakt zu erfüllen und dreihundert Stiere zur Crow-Reservation am unteren Bighorn River zu liefern. Ein Teil der Mormonen-Weide war buchstäblich leergestohlen worden. Der Gipfel der Niedertracht und Heuchelei war, dass auch die Dunns über starke Verluste durch Viehdiebstähle zu klagen begannen und scheinheilig andeuteten, dass die Rustler möglicherweise unter gewissen Söhnen des Teufels zu suchen seien.
Der Verlust des Armeekontrakts war für die Vickerys ein schwerer Schlag. Ein Mann namens Jason Hagney, der im Laufe der Fehde noch eine besonders abgefeimte Rolle spielen sollte, sprang bereitwillig in die Bresche. Im Happy Valley bekam man die dreihundert Rinder, die für das Crow-Reservat bestimmt waren, niemals zu Gesicht, doch die prompte Lieferung ließ darauf schließen, dass man bei den Dunns auf eine solche Möglichkeit gut vorbereitet war. Woher diese dreihundert Rinder stammten, ließ sich demnach unschwer erraten.
Es gab keine Verbindung zwischen dem Revolvermann Lee Garret, der im frühen Herbst 1877 in den Llanos von Texas verschwand, und dem Cowboy Lester Starlight, der im April 1878 im Happy Valley von Wyoming auftauchte. Allein kam er auf seinem großen silbergrauen Vollbluthengst auf die Pfeilspitze-Ranch geritten, wo er in die Mormonenversammlung hineinplatzte. Aber draußen in den Hügeln hatte er etwas zurückgelassen. Erst nach dem Essen, als er zu dem Alten Zutrauen gefasst hatte, deckte er seine Karten auf und sprach von seinem Vorhaben, irgendwo im Happy Valley eine Pferderanch zu gründen.
»Pferde?«, sagte Emmet Vickery gedankenvoll und stocherte mit einem Span im Mundstück seiner Pfeife. »Das kann ein gutes Geschäft sein. Um den Absatz braucht man sich keine Sorgen zu machen. Die Armee zahlt anständige Preise und sucht jedes Jahr mehr Remonten. Sie haben da draußen einen ausgezeichneten Hengst, Bruder Starlight. Ich habe in meinem Leben noch kein besseres Pferd zu Gesicht bekommen.«
»Yeah, Silverking ist mein größtes Kapital.«
»Aber allein mit einem guten Deckhengst lässt sich noch keine Pferderanch aufbauen.«
»Das ist richtig«, gab Starlight zurück. »Deshalb habe ich auch ungefähr eine Meile von hier in einer Mulde ein Rudel Pferde stehen: zwei Wallache, einen Hengst, zweiunddreißig Stuten und drei Fohlen, die in den letzten Tagen zur Welt gekommen sind. Es sind prächtige Stuten, Vickery, und neunzehn von ihnen tragen noch Silverkings Fohlen. Das heißt, mit Silverking und den neugeborenen Fohlen werden es in wenigen Wochen achtundfünfzig Pferde sein. Ich finde, das wäre kein schlechter Anfang.«
»Sie haben die Pferde dort draußen allein stehen gelassen?«
»Nicht ganz. Lobo ist bei ihnen.«
»Lobo?«
»Ein Wolfsbastard«, erklärte Starlight unbewegt. »Sein Vater war ein grauer Timberwolf, wenn mich nicht alles täuscht. Er ist so schlau wie der Teufel – oder wie die meisten Bastarde.«
Die Blicke des Mormonen tasteten seinen Gast ab. Lester Starlight hatte blondes Haar, in das sich an den Schläfen ein paar silbrige Fäden mischten.
»Ich will Sie nicht fragen, wie Sie zu Ihren Pferden gelangt sind, Bruder Starlight. Aber ...«
»Einen Moment, Vickery«, fiel Starlight ihm ins Wort. »Dann wird es Sie nicht beleidigen, wenn ich eine Antwort gebe, ohne gefragt worden zu sein. Ungefähr die Hälfte dieser Pferde habe ich in Cheyenne kurz vor dem Winter günstig kaufen können. Die anderen hatte ich schon früher eingehandelt, indem ich Silverking jeweils für einen Tag als Deckhengst auslieh und mir die Deckprämie in Form von Stuten auszahlen ließ. Genügt Ihnen diese Erklärung?«
»Ich habe sie nicht von Ihnen verlangt, Bruder Starlight«, murmelte der Alte mit sanftem Tadel. »Wenn Sie alles so gut geordnet haben, was kann ich dann noch für Sie tun?«
»Sie können mir einen Rat geben, wo ich geeignetes Land für eine Pferderanch finde und eine gute Weide.«
»Es gibt eine ganze Reihe von Plätzen. Ich denke, Calem Finch könnte Ihnen die besten zeigen.«
Mit schwingendem Gang, der offenbar das Missfallen des Alten erweckte, kam Angel, das Halbblutmädchen, herüber und brachte ihnen zwei Gläser mit Holunderwein.
Sie tranken und setzten ihre Unterhaltung fort. Und dann musste Starlight bald Farbe bekennen. Er besaß eine kleine Herde tragender Stuten und einen prächtigen Zuchthengst, aber sonst auch nichts. Der letzte Winter in Cheyenne hatte seine Reserven aufgezehrt. Doch verkaufen wollte Starlight auf keinen Fall.
Der erlösende Vorschlag kam von Emmet Vickery. Er bot dem Fremden einen Job als Weidereiter an und fand auch für die anderen Probleme eine befriedigende Lösung. Es sah so aus, als ob Lester Starlight schon bald im Happy Valley Wurzeln schlagen sollte.
✰✰✰
Gleich am ersten Tag seines Aufenthalts brachte ihm der schwerfällige, unbeholfene und bärenhafte Ezra Vickery zusammen mit seinem leichtsinnigen Schwager Brendon Harris und seiner Halbschwester Angel ein paar Einrichtungsgegenstände zur Weidehütte.
Angel war offenbar aus eigenem Antrieb mitgekommen. Noch stärker als am Vortag fühlte Starlight ihre verspielte Herausforderung.
Als alles abgeladen war, begab Starlight sich mit den beiden Männern zur Koppel, um ihnen Silverking und die Stuten zu zeigen. Sie fanden ungeteilte Bewunderung.
Etwa eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft fuhren die beiden Männer mit dem Mädchen wieder zur Pfeilspitze-Ranch.
Mit nachdenklichem Gesicht ging Starlight in die Hütte zurück, um seinen Mantelsack auszupacken und seine Sachen unterzubringen. Er erstarrte, kaum dass er die Schwelle überschritten hatte. Auf dem alten wackligen Tisch lag eine Decke, die aus Bast geflochten war. Darauf stand ein Marmeladentopf mit einem Strauß Frühlingsblumen, wie sie draußen überall aus dem Boden schossen.
Starlights Blick wanderte zum Fenster. Da die windschiefe Tür der Hütte der Koppel zugewandt lag, sodass er sie die ganze Zeit im Blickfeld gehabt hatte, musste Angel durch das niedrige Fenster hereingeklettert sein, um ihm diese freundliche Überraschung zu bereiten, nachdem sie zuvor auf der anderen Seite die Blumen gepflückt hatte. Tief beugte Lester Starlight das Gesicht über die Blumen und atmete ihren herben Duft ein.
Im Laufe von drei Wochen kamen sämtliche Fohlen zur Welt, einmal gleich fünf in derselben Nacht. Lester Starlight gewöhnte sich rasch ein, und der Wolfshund Lobo wurde zu einem unermüdlichen Wächter der Pferde und der alten Wetterhütte, wenn Starlight tagsüber abwesend war.
Die Aufgabe der Pfeilspitze-Mannschaft bestand darin, alle Rinder mit dem Mormonen-Brand von abgelegenen Teilen der Weide zurückzuholen, um sie vor einem weiteren Zugriff der Rustler in Sicherheit zu bringen. Bei der Unübersichtlichkeit des Geländes, den Canyons und den ausgedehnten Buschflächen im Happy Valley nahm diese Arbeit viele Wochen in Anspruch.
Das Ergebnis war erschütternd. Die Vickerys verfügten nur noch über knapp neunhundert Rinder, während Lew McGuire, der Strohmann der Dunns, nach dem Frühjahrsauftrieb triumphierend verkündete, dass die Größe seiner Herde zwölfhundert auf dem Huf betrüge; dem Vernehmen nach war er zwei Jahre zuvor mit etwa zweihundert Longhorns ins Happy Valley gekommen. Auch die verschiedenen Dunns und Primroses verfügten zu diesem Zeitpunkt bereits über kleinere Herden.
Das war genau die Lage, vor der Emmet Vickery sich immer gefürchtet hatte. Er stand mit dem Rücken an der Wand. Nur mit dem Schock, den ihm diese Erkenntnis versetzte, ließ sich dann auch seine spätere Handlungsweise erklären, die ihm den Hass aller Rinderleute im ganzen Wind-River-Becken eintrug. Zwei Monate lang führte er eine geheimnisvolle Korrespondenz mit einigen Leuten in Thermopolis, das im Bighorn Basin lag.
Schließlich ritt er für eine Woche über den Pass. Als er zurückkehrte, hatte sich sein Wesen verändert. Er war noch härter, unbeugsamer und fanatischer geworden und ließ bei den sonntäglichen Gebetsversammlungen Andeutungen darüber fallen, dass der HERR einen Mantel über seine Kinder breiten und ihre Feinde mit Pestilenz und Tod schlagen würde.
Lester Starlight und der bronzehäutige, schweigsame Calem Finch waren Freunde geworden. Gemeinsam durchstreiften sie auf der Suche nach Pfeilspitze-Rindern das Happy Valley von der Mündung am Wind-River-Becken bis hinauf zur Passhöhe zwischen den Owl Mountains und der Shoshone Range. Starlight lernte auf diese Weise nicht nur die versteckten Winkel des Tals, sondern auch die meisten Nachbarn kennen.
Die Bekanntschaft mit Tobias Dunn blieb Starlight lange Zeit versagt. Dann machte er sie doch, aber bei einem sehr merkwürdigen Anlass. Unter den Vickery-Enkeln grassierten die Masern. Offenbar hatte man bei einem von ihnen die Erkrankung zu spät bemerkt, sodass während einer der Gebetsversammlungen die meisten anderen Kinder angesteckt wurden. Weil die Pflege der Kinder große Mühe machte, brachte man sie auf die Mormonen-Ranch, wo sich dann einige Frauen die Versorgung der Kranken teilten.
Lester Starlight und Calem Finch, die zu dieser Zeit im Nordwesten des Tals arbeiteten, erhielten den Auftrag, den Doktor zu bestellen.
Sie ritten also nach Griffin's Crossing, wo Doc Clint Everett wohnte.
✰✰✰
Auf dem Weg zu seinem Wagen, der neben dem Store stand, spuckte Tobias Dunn mehrfach aus. Er befand sich in einem Zustand, dass Starlight ihn unablässig stützen musste, weil er sonst unfehlbar in die falsche Richtung gelaufen wäre.
Der Doc hatte ihm einen Zahn gezogen.
Um zu Dunns Anwesen zu gelangen, brauchte man von Griffin's Crossing aus mit dem Wagen etwa eine Stunde. Auf der ganzen Strecke blickte Tobias Dunn sich nicht ein einziges Mal um. Stöhnend, zusammengekrümmt und meistens mit geschlossenen Augen kauerte er neben Starlight auf dem Bock des Wagens und begleitete jede Erschütterung durch die vielen Schlaglöcher des Weges mit einem herzzerreißenden Seufzer. Die Hütten am Fuße der Shoshone waren schon in Sicht, als seine Lebensgeister endlich wieder erwachten. Zum ersten Mal schaute er Starlight mit vollem Bewusstsein von der Seite her an und krächzte fragend:
»Ob sie jetzt wohl steht?«
»Wer?«
»Die Blutung«, stöhnte Tobias Dunn. Trotz seiner jämmerlichen Verfassung hatte er nicht vergessen, eine flache Brandyflasche mitzunehmen und zog sie jetzt hervor. »Zum Henker, ich halte es nicht mehr aus!«, fügte er stöhnend hinzu.
»Yeah!«, versetzte Starlight trocken. »Jeder Mensch hat das Recht, sich die Art seines Selbstmords auszusuchen.«
Der Mann nahm einen tiefen Schluck, danach noch drei weitere.
Starlight blickte unbewegt geradeaus. Nur seine Mundwinkel hatten sich ein wenig herabgezogen. Sie hatten das Anwesen schon fast erreicht. Es bestand aus einem großen, offenen Schuppen, dessen Verwendungszweck Starlight nicht sofort klar wurde, einem Stall und einer Scheune. Einige Korrals lagen zwischen den Gebäuden und dem bewaldeten Berghang, der an einer Stelle einen Kahlschlag aufwies.
»Da fällt mir ein, ich habe Sie noch nie gesehen, Mr. Samariter«, sagte Tobias Dunn.
Mit einem unergründlichen Lächeln schaute Starlight ihn an.