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Ward Crandall ist überall da zu finden, wo die Gefahr am größten ist. Jahrelang durchreitet er das Land, und stets hofft er, am "Ende des Regenbogens" - am Ziel - zu sein, doch immer muss er weiter. Auch Noel Gentry holt ihn in einem Weidekrieg zu Hilfe. Ward wittert die Intrigen, noch bevor sie zur ausweglosen Gefahr werden. Wieder einmal kämpft er für andere, doch wird der Regenbogen-Kämpfer diesmal auch sein eigenes Ziel erreichen?
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2025
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DER REGENBOGEN-JÄGER
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Impressum
DER REGENBOGEN-JÄGER
Ward Crandall ist überall da zu finden, wo die Gefahr am größten ist. Jahrelang durchreitet er das Land, und stets hofft er, am »Ende des Regenbogens« – am Ziel – zu sein, doch immer muss er weiter.
Auch Noel Gentry holt ihn in einem Weidekrieg zu Hilfe. Ward wittert die Intrigen, noch bevor sie zur ausweglosen Gefahr werden. Wieder einmal kämpft er für andere, doch wird der Regenbogen-Kämpfer diesmal auch sein eigenes Ziel erreichen?
Der Mann kam unter den windzerzausten Föhren hervorgeritten, seine Augen ruhten auf dem Reiter, der ihn am Ende der Waldschneise zu erwarten schien. Sein kantiges rotes Gesicht zeugte von Beherrschung, aber er konnte nicht verhindern, dass sich um seine vollen Lippen ein Zug von Befriedigung abzeichnete. Bügel an Bügel mit dem Wartenden brachte er seinen großen Rotfuchs zum Stehen, senkte die Lider und fragte:
»Crandall?«
Der andere nickte gelassen, obgleich er die Nähe des Mannes als unangenehm empfand.
»Wer sonst?«, fragte er.
»Ward Crandall?«, vergewisserte sich der Reiter auf dem Rotfuchs nochmals.
»Yeah, zum Teufel!«, klang es gedehnt. Der Mann, der sich Ward Crandall nannte, streckte die Beine, hob den hageren Körper aus dem Sattel und setzte sich bequemer zurecht. »Und Sie sind ...«
»Keine Namen, Freund«, unterbrach ihn der andere in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Wir wollen uns gleich daran gewöhnen, dass wir uns nicht kennen. Sie sind pünktlich«, setzte er zufrieden hinzu.
»Pünktlichkeit ist eines meiner schlimmsten Laster«, erwiderte Ward Crandall mit einem dünnen Lächeln. »Ich reite seit gestern durch die Hügel.
»Hat Sie jemand gesehen?«
Der Mann musterte Crandall, als hätte er einen Gaul zu begutachten, den er zu kaufen beabsichtigte. Der Vergleich hinkte, aber in gewissem Sinne traf er doch zu: Der Mann mit den starken Schultern und dem breiten Nacken hatte die Absicht, Ward Crandall zu kaufen. Die Frage war bloß, ob Crandall sich kaufen ließ.
»Nein«, erwiderte Ward Crandall schleppend. »Ich bin zwar einigen Leuten begegnet, aber gesehen hat mich keiner.«
Die feine Unterscheidung weckte ein Lächeln in dem Gesicht des Mannes.
»Umso besser«, versetzte er. »Zufälle können mitunter gefährlich werden. Lassen wir es also lieber gar nicht erst darauf ankommen. Sie wissen, wie es weitergehen soll?«
»Vorausgesetzt, es bleibt bei dem, was Sie mir geschrieben haben, Mister.«
»Warum sollte sich daran etwas geändert haben?«
Ward Crandall zuckte mit den Schultern und warf dem anderen einen schnellen Blick zu. Seine Miene blieb dabei vollkommen ausdruckslos.
»Wer weiß«, murmelte er. »Seit Sie mir geschrieben haben, ist eine Reihe von Wochen vergangen.«
Der Mann antwortete nicht. Aber während er Crandall beobachtete, erschien ein nachdenklicher Schimmer in seinen dunklen Augen.
»Merkwürdig«, sagte er nach einer Weile.
»Was?«, gab Ward Crandall einsilbig zurück.
»Sie sehen ziemlich hart aus«, entgegnete der Mann wie im Selbstgespräch. »Aber trotzdem, Ward Crandall hätte ich mir anders vorgestellt.«
Das hintergründige Lächeln Crandalls verstärkte sich.
»Nun, das ist schon anderen vor Ihnen so ergangen«, erklärte er. »Ich müsste ein Verwandlungskünstler sein, wenn ich all den Vorstellungen gerecht werden wollte, die sich die Leute von mir machen.«
»Mag sein«, entgegnete der Reiter auf dem Rotfuchs zögernd. »Dennoch weiß ich nicht, ob Sie es auch wirklich sind.«
»Zweifel sind immer angebracht«, bemerkte Crandall spöttisch. »Sie lassen keine Unvorsichtigkeit aufkommen.«
Der Mann runzelte die Brauen.
»Sie trauen mir nicht, Freund?«
»Ich habe mich einmal verleiten lassen, meinem Schatten zu trauen«, sagte Ward Crandall schleppend. »Ich war sicher, er würde mich immer begleiten. Aber dann wurde es Nacht, und er ließ mich im Stich. – In diesen Hügeln heulen die Wölfe, Mister. Wo haben Sie Ihre Köder ausgelegt?«
Der andere grinste.
»Ihre Witterung ist gut, Crandall. Aber ich habe Sie nicht gerufen, um Fragen zu beantworten.«
»Unbequeme Fragen?«
»Die Antworten, die Sie kennen müssen, stehen in meinem Brief. Nehmen Sie es als Zeichen des Vertrauens, dass ich solche Dinge schriftlich aus der Hand gegeben habe.«
»Vertrauen in einen Unbekannten?« Ward Crandalls Mundwinkel zogen sich herab. »Dann müssten Sie ein Narr sein, Mister. Sie waren vorsichtig genug, noch einen Anker im Grund zu lassen.«
»Weil ich Sie gebeten habe, den Brief zu verbrennen, ehe Sie herkommen?«
Ein leises Lachen kam aus Ward Crandalls Kehle.
»Das allein bietet Ihnen noch keine Sicherheit. Ich hätte es auch bleibenlassen können.«
»Und worauf wollen Sie dann hinaus?«
»Ihr Brief trägt keinen Namen«, antwortete Crandall. »Und er ist in verstellter Schrift abgefasst.«
»Soll das ein Vorwurf sein?«, murmelte der Mann listig. »Soeben sagten Sie doch selbst, dass nur ein Narr gegenüber einem Unbekannten ...«
»Es war eine Feststellung«, unterbrach Ward Crandall ihn knapp. »Wie sieht Ihr weiterer Plan aus? Soll ich jetzt gleich nach Freemont hinunterreiten?«
»Warten Sie bis morgen Abend«, erwiderte der Reiter auf dem Rotfuchs mit Entschiedenheit, »Ich hatte vorsichtshalber einen Tag Spielraum einkalkuliert. Reicht Ihr Proviant?«
»Ich habe alles, was ich brauche«, erwiderte Ward Crandall unbewegt. »Sonst noch etwas?«
»Yeah«, sagte der andere und zog bereits sein Pferd herum. »Denken Sie daran, dass Darius Stoddard eine Marionette ist. Normalerweise hätte er nie eine Chance gehabt, den Stern zu bekommen. Das weiß er, und das wissen die Leute, allen voran Kirk McClelland. Und weil Darius Stoddard sein Gehalt als Sheriff im Freemont-Distrikt noch möglichst lange beziehen will, bewegt er sich stets in den Bahnen, die ihm von Burschen wie Kirk McClelland vorgeschrieben werden. Verlangen Sie also die Kraft zu einem Entschluss nie vom Sheriff selbst. Schauen Sie auf den Mann, der dahintersteht.«
»Auf Kirk McClelland also?«
»Oder auf Lester Crystal, Steve Scourby und Logan Savage. Sie alle gehören zum Ring dieser selbstgerechten Burschen.«
»Ich werde mir die Namen merken«, versprach Ward Crandall ruhig.
»Und denken Sie daran: Wir kennen uns nicht!«
»Ich habe Sie nie gesehen, Mister«, gab Crandall zurück und lenkte seinen Grauschimmel gelassen zwischen die Bäume.
Eine halbe Stunde später kauerte er an dem glimmenden Feuer, trank schwarzen Kaffee und aß Mehlfladen mit geröstetem Speck aus der Pfanne. Er drehte sich noch eine Zigarette, während das kleine Campfeuer verglomm.
Was ihn mitten in der Nacht weckte, vermochte er nicht zu sagen. Er verharrte reglos und lauschte. Durch die Büsche von der anderen Seite her klangen Schnauben und gedämpftes Stampfen seines Pferdes. Fast eine volle Minute blieb Ward Crandall reglos liegen. Das Signal war in ihm, leise, aber unüberhörbar für einen Mann, dem der Atem der Gefahr vertraut war.
Erst als Crandall sicher war, dass diese Gefahr nicht im unmittelbaren Umkreis seines Camps lauerte, erhob er sich. Trotz der undurchdringlichen Schwärze unter den Bäumen tauchte er schon nach wenigen Sekunden neben dem Grauschimmel auf, löste die Fessel zwischen den Vorderbeinen und streifte dem Wallach rasch und sicher das Zaumzeug über, ehe er sich auf den sattellosen Rücken des Pferds schwang.
Im Schritt lenkte er das Tier hangabwärts. Als er den freien Nachthimmel über sich hatte, schien es etwas heller zu werden. Noch immer vernahm Crandall keinen Laut, der seine Unruhe bestätigt hätte, und doch wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Er ritt in die Nähe des Weges, der am Fuße des Hangs entlanglief. Nach der Stellung der Gestirne schätzte er, dass es ein bis zwei Stunden nach Mitternacht war. Das Geräusch, das er wenige Augenblicke später hörte, steigerte seine Wachsamkeit. Rascher Hufschlag erklang aus der Nacht.
Durch den Gürtel der Steineichen gelangte Crandall bis an den Weg und hielt unter den letzten Bäumen an. Der Hufschlag war verstummt. Plötzlich zerriss ein Schuss die Stille. Nach einer kurzen Pause folgten zwei weitere dumpfe Explosionen.
Crandall presste die Lippen zusammen, als er einen hohen, klagenden Schrei zu hören glaubte. Er trieb den Grauschimmel auf den Weg hinaus, der etwa hundert Yards weiter vom Fuße des Hangs zu einer Hütte hinüberführte. Erneut erklang der prasselnde Hufschlag, der sich ihm näherte.
Ward Crandall zog seinen Revolver und drängte seinen Wallach dicht an die Büsche. Dann vernahm er das Hufgetrappel weiterer Pferde, das sich zu entfernen schien. Ein Schatten wuchs aus der Dunkelheit. Die schmale Gestalt des Reiters, der zusammengekauert und schwankend im Sattel hockte, erweckte in Crandall den Eindruck, einen Verwundeten vor sich zu haben.
Sein Schenkeldruck lenkte den Grauschimmel quer über den Weg. Das Pferd des anderen scheute vor dem unerwarteten Hindernis und stieg. Der Reiter wurde nach vorn gerissen und schien sich in der Mähne festzuklammern.
»Freund«, sagte Ward Crandall, »dies ist ein höllisches Tempo für einen Ritt in dunkler Nacht.«
»Wer sind ...«, klang eine erstickte Stimme und brach sofort wieder ab.
Die Überraschung ließ Ward Crandall verstummen. Auf manches wäre er vorbereitet gewesen, doch nicht auf eine Frauenstimme an diesem Ort und zu dieser Stunde.
Mechanisch zog er seinen Grauen zur Seite und bohrte die Augen in die Dunkelheit. Doch mehr als eine schlanke Gestalt und eine tief herabgezogene Hutkrempe vermochte er auch nun nicht zu erkennen. Kaum hatte der Wallach den Weg freigegeben, gab die Reiterin ihrem Pferd auch schon die Peitsche und jagte wie von Furien gehetzt davon.
Crandall starrte auf den mattschimmernden Revolver in seiner Hand und schob die Waffe mit einem zornigen Grunzlaut in das Halfter zurück, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich der Hufschlag der anderen Pferde in entgegengesetzter Richtung entfernte. Dort drüben in der Weidehütte musste die Erklärung für die panische Furcht der Frau zu finden sein. Nach kurzem Überlegen trabte Ward Crandall an.
Die Hütte lag ein Stück vom Weg entfernt am Rand einer Buschfläche. Eine der Fensterscheiben war zersplittert und hatte ein gezacktes Loch.
Die windschiefe Tür scharrte über den gestampften Lehmboden, als er sie schloss und sich von innen dagegen lehnte. Jetzt sah er auch den Staub, der sämtliche Gegenstände und den Boden bedeckte. In diesem Staub lag der Mann neben einer umgestürzten Bank, den Oberkörper halb unter dem Tisch. Deshalb hatte man vom Fenster her nur seine Beine bis zu den Knien erkennen können. Der Mann war tot. Crandall brauchte nicht erst hinüberzugehen, um das festzustellen. Er merkte sofort, dass der Tote das Opfer eines hinterhältigen Mordanschlags geworden war.
Ward Crandall dachte an die schlanke Gestalt der Reiterin und glaubte, wieder ihre erstickte Stimme zu hören. Er nahm sich vor, zu verhindern, dass jenes Mädchen in den Mordfall hineingezogen wurde.
Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, verließ er die Hütte, begab sich zum Buschrand und holte sich dort ein paar belaubte Zweige.
Der Staub wirbelte auf, als Crandall die Fußspuren auf dem Boden der Hütte mit den Zweigen auslöschte. Noch einmal betrachtete Ward Crandall sein Werk, diesmal aus einem anderen Blickwinkel. Und da entdeckte er den hellen Fetzen in der Ecke.
Mit zwei langen Schritten ging er hinüber und hob das Stück Papier vom Boden auf. Es schien, als hätte es jemand klein gefaltet und in der Tasche getragen. Soweit das bei der trüben Beleuchtung zu beurteilen war, handelte es sich um Briefpapier mit einem leicht bläulichen Schimmer, wie es eine Frau benutzt haben könnte. Es trug nur wenige Zeilen, in Druckbuschstaben eilig hingeworfen:
Ich muss Dich unbedingt sprechen, zum letzten Mal. Heute nach Mitternacht bei der Weidehütte auf den Lower Meadows. – J.
Crandall feuchtete seine Lippen an und segnete den Zufall, der ihn das Blatt noch im letzten Moment hatte entdecken lassen. Die kurze Botschaft wäre verräterischer gewesen als alle Spuren. Nach Crandalls Überzeugung würde die Identität der Reiterin nicht mehr lange ein Rätsel sein, jedenfalls nicht für ihn. Wer der Tote war, konnte er zweifellos bald erfahren.
✰✰✰
In der dunstigen Frühe, kurz nach Sonnenaufgang, gab es keinen Hufschlag oder ein anderes Warnsignal. Hell und scharf peitschte der Schuss und riss Ward Crandall aus dem Schlaf. Noch ehe der Widerhall, der sich zwischen den Kämmen brach, verebbt war, stand er auf den Beinen und hielt seinen Revolver in der Hand. Er sah die vier Rehe, die weiter unten am Bach zur Tränke gekommen waren, in den Schutz der Espen flüchten.
Crandall gab sich keine Mühe, in Deckung zu bleiben. Der Wallach, der ein Stück unterhalb der Terrasse graste, hatte ihn bereits verraten, sodass es zu einem weiteren Versteckspiel keinen Anlass gab. Er ging wieder zu seinem Camp, breitete seine Decken zum Lüften über den Sattel und entblößte seinen Oberkörper, um sich am Becken des kleinen Wasserfalls zu waschen und zu rasieren.
Unter anderen Umständen hätte er erst das Feuer angezündet und den Topf aufgesetzt. Dass er es nicht tat, hatte seinen Grund: Im Spiegel, den er an einem der Bäume befestigt hatte, konnte er die Annäherung des Fremden unauffälliger beobachten.
Der Reiter hatte das erlegte Reh an Ort und Stelle aufgebrochen und ausgeweidet. Nun lag die Beute vor ihm auf dem Pferderücken. Er ritt unter die Bäume, schaute sich ungeniert um und murmelte nach geraumer Weile krächzend:
»Hallo! Ich kenne mich gut in dieser Gegend aus, aber wenn ich den angehobbelten Gaul nicht gesehen hätte, wäre ich nie darauf gekommen, dass hier ein Mann kampieren könnte. Sie haben sich die Stelle sehr gut ausgesucht, Mister.«
»Sie schießen nicht schlecht«, versetzte Ward Crandall. Er wischte sich den Schaum ab und deutete mit dem Rasiermesser auf das schlaff vor dem Sattel hängende Reh. »Annähernd zweihundert Yards, und ein sauberer Blattschuss.«
Der Mann starrte auf die herabhängenden Fangschnüre des Halfters, und er ließ den Blick nur zögernd aufwärts wandern. Sein Grinsen wirkte nun etwas gekünstelt.
»Yeah«, murmelte er in lauerndem Ton, »mit dem Gewehr bin ich nicht schlecht.« Er räusperte sich und fuhr fort: »Sie sind fremd hier, Mister?«
Crandall wandte sich wieder dem Spiegel zu und straffte die Wange.
»Yeah«, sagte er.
Dass er den Burschen nicht zum Absitzen einlud, war deutlich genug. Seine Einsilbigkeit jedoch war fast eine Beleidigung. Aber Crandall mochte diesen Mann nicht. Sein Grinsen war ihm zu vertraulich und zu gerissen, und die Schläue in den dunklen, blinzelnden Augen fand er geradezu widerlich. Das Grinsen des Reiters verflog.
»Schon gut«, murmelte er gepresst. »Ich bin nicht so neugierig, wie Sie vielleicht glauben, Mister. Man wird bei so einer unverhofften Begegnung doch noch fragen dürfen.«
»Aber sicher«, erwiderte Ward Crandall. Seine Augen allerdings, die im Spiegel auf den ungebetenen Besucher gerichtet waren, redeten eine andere Sprache. Im Spiegel begegneten sich auch ihre Blicke.
»Dann vielleicht ein andermal«, sagte der Mann mit belegter Stimme. »Manche Leute sind vor dem Frühstück so genießbar wie eine Klapperschlange, der man auf den Schwanz tritt.«
✰✰✰
Freemont bot das typische Bild einer kleinen Rinderstadt, deren hochtrabende Erwartungen bislang noch nicht ganz in Erfüllung gegangen waren. Sie verfügte über ein Gerichtsgebäude, ein Hotel mit einem Restaurant, ein Boardinghouse, einige Geschäfte und Saloons und ein Bankgebäude aus Ziegeln.
Ward Crandall ging gerade auf den Vorbau zu, als irgendwo in der Nebenstraße eine Handglocke geläutet wurde. Mehr als zwei Dutzend Kinder im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren belebten den eben noch so stillen Platz mit lärmendem Geschrei, schwenkten an Riemen ihre Bücherpakete und stoben in alle Windrichtungen auseinander. Zugleich bog eine junge Frau um die Ecke, verabschiedete ihre letzten Schützlinge und ging mit raschen Schritten den Vorbau entlang.
Ward Crandall beobachtete verblüfft, dass die meisten Kinder noch aus der Ferne begeistert winkten und sich offenbar nur sehr ungern von der jungen Lehrerin trennten. Staunend betrachtete ei die Frau, und ein wenig von dieser Regung spiegelte sich auch in seinem Gesicht wider.
Nur einen kurzen Moment hielt die Lehrerin seinem Blick stand, dann überzog eine zarte Röte ihr Gesicht, und sie schaute rasch weg, genau auf einen älteren hageren Mann mit grauem Haar und gebeugten Schultern, der in diesem Moment aus der Tür des Restaurants trat und ihr ernst zunickte.
»Mr. Crystal«, stieß sie mit spröder Stimme hervor, »ist das wahr, was mir Benny soeben erzählt hat?«
Der Mann senkte den Kopf und verzog den Mund.
»Ich nehme es an, Jane«, erwiderte er rau, »obgleich ich nicht weiß, was Sie von Benny erfahren haben. Aber da die ganze Stadt von nichts anderem spricht, meinen Sie bestimmt den Mord an Earl McClelland, nicht wahr?«
Der Mann, zweifellos handelte es sich um den Rancher Lester Crystal, hatte sie Jane genannt. War das schon die Lösung des Rätsels?
»Yeah«, murmelte Jane endlich, »das meinte ich, Mr. Crystal. Mein Gott, was hat das zu bedeuten?«
Der Rancher hob in einer hilflosen Gebärde die Schultern.
»Verdruss«, stieß er gepresst hervor, »das ist das Einzige, was man mit Sicherheit sagen kann.«
Ein Schatten flog über Janes Gesicht.
»Und – und es ist bei der Weidehütte auf den Lower Meadows geschehen?«
Lester Crystal nickte.
»Einer von Logan Savages Leuten kam heute früh vorbei und sah Earl McClellands Rappen neben der offenen Tür stehen. Auf diese Weise wurde der Tote gefunden. Darius Stoddard ist mit Woody Marsh hinausgeritten und hat einen Wagen mitgenommen. Ein paar Männer sind zu den anderen Ranches unterwegs. In spätestens einer halben Stunde werden Kirk und Mort McClelland mit ihrer Mannschaft hier sein, um die Hölle loszulassen.«
Janes Lippen wurden schmal.
»Ich verstehe«, sagte sie spröde. »Zwar weiß man noch nicht, wo man den Mann finden kann, der Earl McClelland erschossen hat, aber sicher wird man ihn nur in einer ganz bestimmten Richtung suchen, nicht wahr?«
Der Rancher schien sich bedrängt zu fühlen und wich ihren Blicken aus.
»Es hat keinen Zweck, Jane«, entgegnete er verstockt. »Sie wissen, dass ich Sie und auch Ihren Bruder immer sehr geschätzt habe und dass ich mit Ihren Eltern viele Jahre befreundet war. Aber inzwischen hat sich die Lage geändert, und auch ich kann nicht über meinen Schatten springen.
Ihr Bruder gefällt sich in der Rolle eines Aufrührers und Unruhestifters, und sein Aufruhr richtet sich ebenso gegen mich wie gegen alle anderen Rinderleute in diesen Hügeln. Sie können nicht erwarten, dass ich mich selbst zum Narren mache. Hören Sie auf meinen Rat und sorgen Sie dafür, dass Reece und seine Burschen sich in diesen Tagen nicht in der Stadt sehen lassen. In der Nähe eines Pulverfasses sollte man nicht mit Feuer spielen.«
Ward Crandall brauchte nun keine weitere Erklärung mehr. Seit von Janes Bruder die Rede war, und als auch dessen Vorname fiel, wusste er, dass es sich nur um Reece Whiting handeln konnte, um den Mann also, für den er sich in diesen Hügeln am meisten zu interessieren hatte, soweit es nach dem Willen seines geheimnisvollen Auftraggebers ging.
Jane Whiting, so musste ihr vollständiger Name lauten, hob den Kopf und reckte unmerklich das Kinn vor. In ihren Augen flammte die Empörung auf.
»Sie wollen sich nicht zum Narren machen, Mr. Crystal?«, fragte sie spöttisch. »Das haben Sie schon getan, als Sie sich von Kirk McClelland in den Ring pressen ließen.«
Die Kinnbacken Lester Crystals verkrampften sich.
»Das ist eine Verleumdung, Jane«, krächzte er misstönend. »Ich habe mich aus freien Stücken mit den anderen zum Ring zusammengeschlossen.«
»Nachdem Ihnen die Zwillingsranch der McClellands kurz zuvor den Terrassenweg zur Sommerweide abgeschnitten hatte«, versetzte Jane Whiting bissig. »Sie haben die Sommerweide seither nicht wieder genutzt, sondern die McClellands schickten ihre Heumannschaft hinauf. Geschah das auch aus freien Stücken, Mr. Crystal?«