Häppchen für Herz und Hirn - Wolfgang Nein - E-Book

Häppchen für Herz und Hirn E-Book

Wolfgang Nein

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Beschreibung

Das christliche Menschenbild ist ein sehr liebevolles. Und das christliche Weltverständnis ist ein sehr positives. Beides ist etwas ganz Besonderes und Wertvolles angesichts der Schattenseiten des Menschen und unseres ganzen Daseins. Wenn wir trotz der vielen kleinen und großen Probleme ein Leben in Freude, Zufriedenheit und Dankbarkeit und mit unbeirrbarem Engagement für eine bessere Welt führen wollen, dann können biblische Worte dafür eine Anregung und Unterstützung sein. Die alljährlich wiederkehrenden Wochensprüche des Kirchenjahres sind in diesem Buch der Ausgangspunkt für Gedanken über unser Leben, über unser Menschsein, über unsere Sorgen und Hoffnungen und die Werte eines menschenwürdigen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft und weltweit.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Advent

Sacharja 9,9

02.12.1980

01.12.1987

04.12.1990

01.12.2001

2. Advent

Lukas 21,28

09.12.1980

07.12.1982

06.12.1983

3. Advent

Jesaja 40,3.10

16.12.1980

14.12.1982

18.12.1990

4. Advent

Philipper 4,4-5

23.12.1980

19.12.1982

20.12.1983

20.12.1988

Christfest u. 1. Sonntag nach dem Christfest

Johannes 1,14a

07.01.1986

Neujahr

Kolosser 3,17

02.01.1986

2. Sonntag nach dem Christfest

Johannes 1,14b

19. 06.2015

Epiphanias

1. Johannes 2,8b

06. 01.1998

1. Sonntag nach Epiphanias

Römer 8,14

14.01.1997

2. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 1,17

19.01.1993

08.01.2008

3. Sonntag nach Epiphanias

Lukas 13,29

26.01.1982

24.01.1984

23.01.1990

26.01.1993

23.01.2001

4. Sonntag nach Epiphanias

Psalm 66,5

31.02.1984

04.02.1992

5. Sonntag nach Epiphanias

1. Korinther 4,5b

07.02.1984

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Jesaja 60,2

21.01.1986

Septuagesimä

Daniel 9,18

28.01.1986

25.01.2005

Sexagesimä

Hebräer 3,15

24.02.1992

Estomihi

Lukas 18,31

15.02.1983

28.02.1995

25.02.2003

Invokavit

1. Johannes 3,8b

10.03.1981

28.02.1996

Reminiszere

Römer 5,8

17.03.1981

01.03.1983

02.03.1999

Okuli

Lukas 9,62

08.03.1988

20.03.2001

05.03.2002

Lätare

Johannes 12,24

11.03.1986

15.03.1988

20.03.2007

Judika

Matthäus 20,28

30.03.1982

26.03.1985

22.03.1988

31.03.1998

Palmarum

Johannes 3,14.15

14.04.1981

29.03.1983

Osterfest

Offenbarung 1,18

23.06.2015

Quasimodogeniti

1. Petrus 1,3

09.04.1991

08.04.1997

17.04.2001

Misericordias Domini

Johannes 10,11.27-28

13.04.1989

09.01.1992

27.04.1993

Jubilate

2. Korinther 5,17

18.04.1989

27.04.1992

22.04.1997

23.04.2002

02.05.2004

15.04.2008

Kantate

Psalm 98,1

25.04.1989

23.04.1991

15.05.2001

Rogate

Psalm 66,20

26.05.1992

Himmelfahrt bis Exaudi

Johannes 12,32

02.06.1981

15.05.1988

11.05.1989

29.05.2001

Pfingstfest

Sacharja 4,6

25.05.2015

Trinitatis

Jesaja 6,3

16.06.1981

27.05.1997

05.06.2007

1. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 10,16

15.06.1982

08.06.1999

31.05.2005

2. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 11,28

14.06.1983

11.06.2002

3. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 19,10

21.06.1983

10.07.1984

09.07.1987

4. Sonntag nach Trinitatis

Galater 6,2

28.06.1983

10.07.1990

10.05.2001

5. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 2,8

17.07.1990

6. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 43,1

20.07.1982

18.03.1984

04.07.1989

7. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 2,19

04.08.1987

11.07.1989

31.07.1990

8. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 5,8.9

22.07.1986

9. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 12,48

18.08.1987

19.08.1987

10.08.2004

10. Sonntag nach Trinitatis

Psalm 33,12

25.08.1987

09.08.1988

06.08.1991

29.08.2000

26.08.2003

11. Sonntag nach Trinitatis

1. Petrus 5,5b

16.08.1988

13.08.1991

26.09.1995

12. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 42,3

30.08.1982

23.08.1988

20.08.1991

19.08.1997

04.09.2001

16.08.2005

13. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 25,40

07.09.1982

30.08.1988

11.09.1990

27.08.1991

14. Sonntag nach Trinitatis

Psalm 103,2

09.09.1980

14.09.1982

06.09.1983

10.09.1996

26.09.2000

15. Sonntag nach Trinitatis

1. Petrus 5,7

16.09.1980

13.09.1983

17.09.1996

16. Sonntag nach Trinitatis

2. Timotheus 1,10

23.09.1980

28.09.1982

20.09.1983

09.10.1984

17. Sonntag nach Trinitatis

1. Johannes 5,4

30.09.1980

13.10.1981

27.09.1983

01.10.1985

13.10.1992

Michaelis

Psalm 34,8

01.10.1991

Erntedank

Psalm 145,15

05.10.1982

06.10.1983

18. Sonntag nach Trinitatis

1. Johannes 4,21

21.10.2003

19. Sonntag nach Trinitatis

Jeremia 17,14

03.10.1989

27.10.1992

30.09.2008

20. Sonntag nach Trinitatis

Micha 6,8

18.10.1983

18.10.1988

10.10.1989

13.06.1995

22.10.1996

21. Sonntag nach Trinitatis

Römer 12,21

21.10.1986

25.10.1988

17.11.1995

Reformationstag

1. Korinther 3,11

22.06.2015

22. Sonntag nach Trinitatis

Psalm 130,4

28.10.1986

23. Sonntag nach Trinitatis

1. Timotheus 6,15.16

03.11.2013

24. Sonntag nach Trinitatis

Kolosser 1,12

07.11.1989

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

2. Korinther 6,2

08.11.1994

10.11.1998

13.11.2001

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres

2. Korinther 5,10

19.11.1991

21.11.2000

Letzter Sonntag des Kirchenjahres

Lukas 12,35

12.11.1994

26.11.2002

28.11.2006

Bibelstellen alphabetisch sortiert

St. Markus, Hamburg-Hoheluft

Vorwort

Es geht in diesem Buch um unser Leben. Was wir mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen, verarbeiten wir mit unserem Herzen und unserem Hirn - in dieser Reihenfolge. Herz und Hirn sind leibliche Organe. Sie sind aber auch Bilder für zwei unterschiedliche Arten der Verarbeitung all dessen, was wir erleben. Das Herz steht für das Gefühl, das Hirn steht für den Verstand. Alle Sinneseindrücke verarbeiten wir zunächst gefühlsmäßig. Über einiges davon versuchen wir nachzudenken. Was wir mit unserem Verstand zu verarbeiten in der Lage sind, ist ein sehr geringer Teil von dem, was sich in unseren Gefühlen abspielt. Unser Verstand versucht, in Worte zu fassen, in Bildern zu beschreiben, in Zahlen darzustellen, was wir erleben. Das gelingt uns aber nur in sehr geringem Maße. Die Wirklichkeit ist viel umfassender, als dass wir sie mit unserem Verstand erfassen könnten. Es fehlen uns oftmals einfach die Worte, es fehlen uns die mathematischen Formeln und wir haben auch nicht die rechten Bilder. Unser Gefühl aber sagt uns: Da ist noch viel mehr.

Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wir sind in einen Menschen verliebt. Das ist eine Gefühlssache. Versuchen wir einmal, unsere Verliebtheit mit dem Verstand zu beschreiben und zu begründen. Da werden wir ganz schnell an unsere Grenzen stoßen. Aber der Tatbestand ist unumstößlich: Wir sind verliebt. Mit diesem Tatbestand müssen wir umgehen. Wir müssen unser Verhältnis zu diesem anderen Menschen gestalten - irgendwie, aber wie? Wir werden uns dabei von unserem Gefühl leiten lassen und, soweit wir dazu in der Lage sind, auch von unserem Verstand.

Das Verliebtsein ist eines der schönsten Phänomene unseres Erlebens. Ein anderes, viel umfassenderes Phänomen ist das Erleben unseres Seins überhaupt. Wir leben im allgemeinen wie selbstverständlich vor uns hin. Es gibt aber Momente, in denen uns nichts mehr selbstverständlich ist.

Es gibt Momente der Krise, zum Beispiel wenn wir einen geliebten Menschen verloren haben. Da haben wir das Gefühl, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen ist. Wir fühlen uns plötzlich haltlos in diesem großen Universum. Wir können diesen Zustand mit unserem Verstand zu analysieren versuchen. Das wird an unserem gefühlsmäßigen Erleben in dem konkreten Moment nicht viel ändern. Unser Verstand ist nur in sehr begrenztem Maße in der Lage, unsere Gefühle zu beeinflussen. Wir sind irgendwann einfach froh, wenn die Krise überstanden ist, wenn sich die Gefühle beruhigt haben, wenn wir uns wieder wohl und geborgen fühlen in unserer Welt und unser Leben wieder seinen normalen Gang geht.

Aber die Erinnerung wird bleiben und die Erfahrung kann nützlich sein, dass an unserem Leben mehr dran ist, als wir mit unserem Verstand fassen und steuern können, dass da auch noch das Gefühl ist, was uns dieses „Mehr“ im Guten wie im Schlimmen erleben lässt.

Für die konkrete Gestaltung unseres Lebens sind wir auf das Gefühl und den Verstand angewiesen und darauf, dass wir beides in ein angemessenes Verhältnis zueinander bringen. Manche Menschen lassen sich mehr von ihren Gefühlen, andere mehr von ihrem Verstand leiten. Ein Entweder-Oder kann es aber nicht geben. Den Verstand können wir nicht ausschalten, er ist uns Menschen als eine Gabe mitgegeben, die uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Das ist erhebend und belastend zugleich. Wir können auch unsere Gefühle nicht abschalten. Solange wir Sinnesorgane haben, vermitteln uns die Gefühle als erste die Eindrücke unseres Erlebens.

Die in diesem Buch zusammengestellten Andachten über die biblischen Wochensprüche richten sich an unser Herz und unseren Verstand. Die Auslegungen der biblischen Aussagen kommen von Herzen und möchten im Herzen aufgenommen werden. Sie entspringen aber zugleich einem intensiven Nachdenken und stellen den Anspruch, einer intellektuellen Diskussion standhalten zu können.

Die biblische, theologische, kirchliche Sprache ist eine spezielle. Sie ist dem ungeübten Leser und Hörer nicht immer leicht verständlich. Die hier abgedruckten Auslegungen der Wochensprüche habe ich in den dreißig Jahren meiner Tätigkeit in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde St. Markus in Hamburg-Hoheluft bis auf wenige Ausnahmen an den kleinen Kreis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gemeinde gerichtet, also an „Insider“, die mit der biblisch-theologisch-kirchlichen Sprache vertraut waren. Ungeübte Leser dieses Buches kann ich nur um Geduld und ein offenes Herz und einen lernbereiten Verstand bitten. Die Bibelworte enthalten einen Schatz an Lebenserfahrungen, an Orientierungs- und Lebenshilfen, die zu entdecken der Mühe wert sind.

Für jede Woche des Jahres gibt es einen biblischen Wochenspruch. Sie wiederholen sich jedes Jahr. Ihren Ursprung haben sie in der Michaelsbruderschaft in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Von da aus sind sie seit den 50er Jahren insbesondere in den lutherischen Kirchen zum offiziellen Bestandteil der wöchentlichen biblischen Besinnung geworden.

Die meisten Wochensprüche habe ich in den dreißig Jahren in St. Markus wiederholt ausgelegt. Alle Auslegungen sind in diesem Buch abgedruckt.

Viel Freude beim Lesen!

Wolfgang Nein, Hamburg, November 2015

1. Advent

Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.

Sacharja 9,9

02.12.1980

Advent bedeutet für uns „warten“, warten wie auf einen Besuch. Wir bereiten uns vor, und wir warten. Warten auf wen? Wen hätten wir gern einmal bei uns?

Sacharja kündigt uns einen Besuch an: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.“ Wie können wir uns diesen Besuch vorstellen?

König - damit ist von Christus her verstanden wohl nicht jemand gemeint, der wegen seines Titels Autorität besitzt, sondern der diesen Titel hat, weil er eine Autorität ist von seiner ganzen Art her: ein Mensch, der treu ist, unerschütterlich in seiner Treue wie ein Fels, der zum Wesentlichen vordringt, der uns die Tiefe unseres Lebens erfahren lässt, der uns erleben lässt, wie großartig unser Leben doch ist.

Ein Mensch, der die Verstrickungen löst, in denen wir gefangen sind, der uns befreit, so dass wir uns ganz neu bewegen können, der die Verklemmungen in unserer Brust auflöst, so dass Lebensgeister in uns erwachen, die bisher nur geschlummert haben.

Ein Mensch, der Kraft ausstrahlt, nicht so, dass wir im Kontrast zu ihm nun besser wüssten als vorher, wie schwach wir sind, sondern so, dass die in uns verborgenen Kräfte geweckt werden und wir spüren, wie stark wir selbst doch sein können.

Ein Mensch, der uns und alles in hellem Licht erstrahlen lässt, nicht weil er selbst so grell leuchtete, sondern weil er wie eine zentrale Quelle der Kraft die unzähligen Lichter in uns, in unserem Leben, im ganzen Dasein zum Leuchten bringt.

Ein Mensch also, ein großartiger, der seine Größe nicht darin hat, dass er uns spüren lässt, wie klein wir sind, sondern darin, dass wir an ihm wachsen können. Ein Mensch, demgegenüber wir uns nicht eingestehen müssen, wie wenig wir sind, wie wenig wir können, wie wenig wir haben. Ein Mensch, der uns aufbaut, der uns erhebt, der uns und unserem Leben und unserem ganzen Dasein eine unendlich große Würde gibt. Ein wahrhaft göttlicher Mensch.

Der König, ein Gerechter. Gerecht - nicht, indem er uns an irgendwelchen abstrakten Normen misst. Gerecht, indem er uns gerecht wird, uns ganz persönlich. Das ist ganz subjektiv. Uns gerecht wird, indem er uns ganz individuell das zukommen lässt, was unserem Leben dient.

Der König, ein Helfer. Einer, der uns voranbringt, der in uns und für uns Neues schafft. Der nicht zu uns kommt - und dann geht es uns noch schlechter als vorher. Sondern einer, der uns wohltut und uns Schönes erleben lässt.

Einen solchen Besuch hätte ich gern, hätten wir wohl alle gern. Einen solchen Besuch haben wir vielleicht auch schon gehabt, haben wir vielleicht des öfteren und merken es gar nicht. Ein solcher Besucher kann äußerlich unscheinbar sein.

Advent ist die Zeit des erwartungsvollen Wartens auf diesen besonderen Besucher, die Zeit des Hinhörens und Hinschauens, des Sich-selbst-öffnens, des Aufnehmens, des Sich-ergreifen-lassens. Hören wir hin, schauen wir hin, öffnen wir uns, nehmen wir auf, lassen wir uns ergreifen!

01.12.1987

Israel hat viele Könige gehabt, gute und schlechte, starke und schwache. Das Volk ist oft genug enttäuscht worden. Manchmal konnte es halbwegs zufrieden sein. In den beiden Königsbüchern im Alten Testament sind die Regenten Israels einer Bewertung unterzogen. Insgesamt sind Wünsche offen geblieben. Wie könnte es anders sein!

Die Geschichte Israels war aufs Ganze gesehen ein Weg in den Abgrund. Die Israeliten verloren mehrfach ihre Heimat, ihre heiligen Stätten, ihr Allerheiligstes, die Herrschaft über sich selbst und streckenweise wohl auch das Selbstvertrauen. Sie sahen sich gestraft vom Schicksal, von ihrem Gott Jahwe, gestraft für eigenes Vergehen, eigene Schuld. Aber sie waren doch nie so sehr am Boden zerstört, dass ihnen nicht die Kraft zu neuer Hoffnung geblieben wäre.

Eine Stimme der Hoffnung ist die des Sacharja: „Dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.“ Der Prophet hat eine Vision: Er sieht einen König kommen, anders als alle bisherigen Könige. Bescheiden reitet er auf einem Esel. Er wird die Streitwagen vernichten und die Kriegsbögen. Es ist eine Vision. „Freue dich Zion, freue dich, Jerusalem!“, ruft er seinen Landsleuten zu. Er mag Gelächter geerntet haben, Gelächter von denen, die die Kraft zur Hoffnung verloren hatten.

Wer lange genug das Spiel der Herrschenden durchlitten hat, wer oft genug enttäuscht worden ist, der mag wohl zaghaft werden, hoffnungslos, glaubenslos. Aber das Blatt der Geschichte kann sich immer wieder wenden, auch zum Guten.

Schon das Alte Testament ist durchdrungen von dem Glauben, dass sich in den Wirren der geschichtlichen Ereignisse trotz des düsteren Augenscheins letztlich ein geheimnisvoller Plan Gottes durchsetzen wird, der die ganze Menschheit ins Wohlergehen führt.

Das Neue Testament schließlich beschreibt uns den Anbruch dieses Reiches Gottes in der Person Jesus Christus. Ein Stück Hoffnung hat sich mit dem Neuen Testament erfüllt. Der König, den Sacharja prophetisch angekündigt hat, ist in Jesus Christus gekommen. So sehen es die Autoren des Neuen Testaments. Die Erfüllung ist noch nicht vollkommen. So sind wir weiterhin zur Hoffnung berufen.

Wir sollen nicht untätig warten, dass der König, den Sacharja angekündigt hat und der in Christus erschienen ist, nun endlich sein Reich vollkommen gestalten möge in Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zum Wohl aller Menschen. Wir sollen uns selbst auf den Weg machen und dem, was wir erhoffen, in unserem eigenen Tun Ausdruck verleihen.

Der erwartete König ist zwar übermenschlicher Art, und wir dürfen von keinem menschlichen Herrscher und auch nicht von uns selbst das erwarten, was in ihn an Hoffnung und Erwartung hineingelegt ist. Aber wir sollen uns auf den Weg machen und wir sollen immer wieder wie Sacharja zur Hoffnung rufen und Zeichen setzen und dem König unserer Hoffnung den Weg bereiten.

04.12.1990

Diese alttestamentliche Weissagung ist nach neutestamentlichem Verständnis in Jesus Christus in Erfüllung gegangen. Versetzen wir uns einmal zurück in den Augenblick, in dem ein solcher Satz formuliert wird, in dem eine solche Aussage über die Zukunft gemacht wird. Es ist ein Wagnis, verbunden mit dem Risiko, sich bloßzustellen und sich selbst der Lächerlichkeit preiszugeben: Ein König wird kommen, der wird gerecht sein und ein Helfer. Er wird Frieden geben den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum anderen.

Das wäre in etwa so, wie wenn jemand Mitte vergangenen Jahres vorhergesagt hätte: „Wir werden eine Regierung haben, die wird regieren vom Rhein bis an die Oder.“ Es gehört Mut dazu, die Erfüllung eines Traums als reale Möglichkeit zu proklamieren. Leicht fällt es uns, einen mangelhaften Zustand zu beklagen. Das haben wir ausgiebig getan: Wir haben die Teilung unseres Landes beklagt, den Ost-West-Konflikt, den Rüstungswettlauf. Einigermaßen leicht war es auch, die Veränderung dieser Zustände zu fordern. Aber an die reale Möglichkeit der Veränderung zu glauben, das war schon ein schwieriger Schritt, und sie gar vorherzusagen, das wäre wohl kaum jemandem in den Sinn gekommen.

Wie wäre es, wenn heute jemand die Vorhersage wagte, in absehbarer Zukunft werde in den Ländern, die heute zur Dritten Welt zählen, die Wirtschaft blühen. Soziale Gerechtigkeit werde dort herrschen und die Länder des Südens und des Nordens werden partnerschaftlich zusammenarbeiten. Eine solche Vorhersage müsste einem aus heutiger Sicht irreal erscheinen, utopisch. Wir brauchen aber solche Utopien, nicht um ihre Verwirklichung notfalls gewaltsam herbeiführen zu wollen, sondern um unserem menschlichen Handeln das Ziel im Sinne eines göttlichen Auftrags zu geben und unserem Handeln eine Dynamik zu geben, auf dieses Ziel hinzuwirken.

Manches schier Unglaubliche hat sich in der Geschichte verwirklicht. Unsere Gegenwart gibt ein Beispiel dafür. Das allerschönste und größte Beispiel finden wir in dem Menschen, der vor fast 2000 Jahren geboren wurde und den Beinamen Christus erhielt. Er verkörpert in seiner Person einen Menschheitstraum, eine Art, Mensch zu sein, wie sie dem göttlichen Urbild entspricht. Sacharja hatte die Vision vom Kommen eines solchen Menschen zu formulieren gewagt. Im rechten Augenblick haben einige auch gesehen und erkannt, dass die Vision in Erfüllung gegangen ist. Jesus Christus ist die Erfüllung einer Verheißung. Er verkörpert aber auch weiterhin eine Vision, etwas Utopisches, noch zu Suchendes und zu Verwirklichendes. Das macht die Adventszeit immer neu deutlich. Wir haben ihn, aber wir gehen auch auf ihn zu. Auf die Vollendung, die in ihm verkörpert ist, wartet noch die Welt in ihrer Gesamtheit.

Ich wünsche uns visionäre Kraft, lebendige Hoffnung, die über das vor der Hand liegende Reale hinausblickt auf das uns heute noch unglaublich Erscheinende. In Christus ist es als real verheißen.

01.12.2001

Sacharja hat eine Vision - sie bezieht sich auf Jerusalem und auf den ganzen Globus, eine Vision des Friedens. Aktueller gehts nicht. Die Israeliten damals leiden an der Zerstörung Jerusalems, sie leiden an der Fremde des Exils in Babylon. Was ist ihnen an Hoffnung geblieben, dass sie in ihrer Heimat einmal wieder in Ruhe und Frieden würden leben können - und dass in der Welt um sie herum Frieden sein möchte, in der Welt um sie herum, die das Schicksal ihres kleinen Landes immer so sehr mitbestimmt hat?!

Was ist an Hoffnung geblieben? Das ist ja auch unsere Frage - bezüglich des Friedens in Israel und bezüglich des Friedens auf unserem ganzen Erdball. Michael Wildt, der vorletzte Woche für ein paar Tage aus Jerusalem zurückgekommen war, sagte mir, die Stimmung in Israel sei depressiv. Er habe niemanden getroffen, der Hoffnung auf Besserung habe. Jedenfalls brächte niemand eventuelle hoffnungsvolle Gedanken zum Ausdruck. Und seit dem Wochenende, an dem er nach Jerusalem zurückgekehrt ist, ist ja genug Schlimmes dort geschehen, um die im Verborgenen vielleicht noch vorhandenen kleinen Reste von Hoffnung weiter zu dezimieren.

Jerusalem - das Krisenzentrum Nr. 1. Solange dort kein Frieden herrscht, wird unser Erdball im Ganzen wohl weiter bedroht bleiben. Und wenn dort einmal Frieden einkehren sollte, dann wird dies für unseren ganzen Erdball gut sein.

Kann von Jerusalem der Frieden für die Welt ausgehen? Jerusalem - zentrale Stätte der großen Buchreligionen Judentum, Christentum, Islam. Wo ist die geistige Kraft der Religionen, die der politischen Macht etwas entgegensetzen könnte? Wo ist das Friedenspotential der Kirchen und der Religionen in dieser heiligen Stadt? Ich habe Michael Wildt gefragt: „Gibt es denn in Jerusalem einen ‚Council of Religions‘ - ein gemeinsames Gremium der Religionen, das den Willen zum Frieden und die Hoffnung auf Frieden wieder stark machen könnte?“ Ich habe ihn gefragt, ob es denn einzelne religiöse Persönlichkeiten gäbe, die den politischen Mandatsträgern mit geistiger und geistlicher Macht Paroli bieten könnten.

Ihm fielen weder einzelne Persönlichkeiten noch irgend ein Gremium ein. Von wo aus kann Hoffnung neu wachsen?

Sacharja hat eine Vision gehabt - im Angesicht einer Wirklichkeit, die zur Hoffnung keinen Anlass bot.

Wir, auch wir brauchen eine Vision, eine Vision des Friedens. Wir knüpfen jetzt in der Adventszeit an eben diese Vision des Sacharja an. Denn den König, auf den er gehofft hat, den haben später viele in Jesus von Nazareth erkannt. Ein König freilich, der einen ganz anderen Weg zum Frieden aufgezeigt hat als den der Vergeltung, der Gewalt und Gegengewalt.

Christus ist unsere Hoffnung.

2. Advent

Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.

Lukas 21,28

09.12.1980

In unserem Land genießen wir so viel Freiheit wie wohl kaum ein anderes Volk auf dieser Erde. Wir brauchen keinen Befreier mehr, wir sind frei! Im politischen Sinne möchte ich sagen: „Das stimmt.“

Im menschlichen Sinne können wir allerdings auch in einem freien Land gefangen sein: gefangen in uns selbst, gefangen in den Verhältnissen, in denen wir leben. Ob wir frei sind oder nicht, ist eine Frage danach, wie wir unser ganzes Dasein erleben.

Vielleicht erleben wir zum Beispiel den Fortgang unseres Lebens als einen fortschreitenden Verlust an Freiheit. Am Anfang haben wir noch die große Auswahl: Wir können unseren Beruf wählen, unseren Ehepartner, den Ort, an dem wir wohnen wollen. Wenn wir dann 20 Jahre weiter sind und wir vielleicht das Gefühl haben, dass uns unsere damals gefällten Entscheidungen nicht befriedigen, dann merken wir schon, wie sehr sich unsere einstige Freiheit verringert hat. Wir können nicht einfach wieder von vorn anfangen. Wir kennen inzwischen unsere eigenen Grenzen, unsere Schwächen, unsere Schattenseiten. Und wir sind vielleicht durch viele Erfahrungen eingeschüchtert worden, haben nicht mehr den Mut, etwas Neues zu beginnen. So können wir den Fortgang unseres Lebens als einen zunehmenden Verlust an Freiheit, an Entscheidungsfreiheit erleben.

Aber auch wenn wir uns einmal ganz unabhängig vom Alter betrachten, kann es sein, dass wir uns als Gefangene erleben. Wir entdecken zwanghafte Verhaltensweisen an anderen und an uns selbst und erleben, wie wir Dinge tun, die wir vielleicht gar nicht tun wollen. Ich meine das nicht in einem krankhaften Sinne, ich meine unser ganz normales Verhalten.

Wir erleben an uns vielleicht zum Beispiel einen übermäßigen Perfektionismus: dass wir alles so überaus genau nehmen, dass für uns nichts gut genug gemacht ist, und dass wir mit unserem Drang nach Perfektion, wie wir sie verstehen, nicht nur andere stark belasten, sondern auch uns selbst das Leben gehörig erschweren. Wenn wir dann an unserer eigenen Art selbst genug leiden, sodass wir den innigsten Wunsch haben, uns zu verändern, spüren wir, wie schwer das ist, wie sehr wir gefangen sind in unserer Art.

Solche zwanghaften, uns selbst und andere zermürbenden Verhaltensweisen entdecken wir zur Genüge an uns: den Drang, ständig Recht haben zu müssen zum Beispiel, oder sich dem anderen als überlegen erweisen zu müssen oder die Vorstellung, ständig anderen verpflichtet zu sein, nie nein sagen zu dürfen.

Es ist sehr schwierig, aus der eigenen Haut zu schlüpfen. Wir sind mit ihr untrennbar verbunden.

Nun wird uns hier ein Erlöser angekündigt. Ich habe da gleich an ein bestimmtes Märchenmotiv gedacht: Die Prinzessin kann aus ihrem Dauerschlaf nur erwachen, wenn sie von einem Prinzen wachgeküsst wird.

Was ich sagen möchte, ist dies: Wir sind in uns selbst und in unseren Lebensumständen gefangen. Befreien können wir uns selbst so wenig wie jene Prinzessin, oder wie Münchhausen sich selbst am eigenen Schopf aus dem Wasser ziehen konnte. Wirklich befreit werden können wir nur von außen, durch einen anderen.

Eine große Kraft, die etwas an uns und in uns ausrichten kann, ist die, dass uns jemand anspricht mit einem guten Wort, dass uns jemand ernst nimmt, uns anhört, Geduld mit uns hat, uns vergibt, uns ganz und gar wohlgesonnen ist. Wir spüren dann, dass die Gitterstäbe unseres Gefängnisses aus Eis sind. In der Wärme der herzlichen Zuneigung schmelzen sie und wir können aus uns heraustreten. Vieles, was uns vorher wichtig war, verliert an Bedeutung. Wir werden frei, aufeinander zuzugehen in einer neuen Art.

Lassen Sie uns unseren oftmals von Resignation niedergeschlagenen Blick hoffnungsvoll nach vorne richten. Erheben wir unsere von den Lasten unseres Lebens niedergedrückten Häupter: Unser Erlöser kommt.

07.12.1982

Die Adventszeit ist eine Zeit der Erwartung, des hoffnungsvollen Wartens darauf, dass etwas an uns geschieht. Die Erfüllung der Erwartung wird ganz anschaulich dargestellt in den Geschenken, die wir uns zu Heiligabend bereiten. Mit Kindern erleben wir das vielleicht am eindrücklichsten: Sie hoffen mit gespannter Erwartung auf etwas, was sie nicht selbst herbeiführen können. Sie haben Wünsche, und nur andere können sie ihnen erfüllen.

Bei uns Erwachsenen ist das etwas anders. Wir erfüllen uns unsere Wünsche zum großen Teil selbst. In vielen Fällen wissen wir schon, was wir Heiligabend unter dem Weihnachtsbaum finden. Die Erfüllung ist schon abgesprochen, von uns selbst in die Wege geleitet. Der eigentliche Charakter der Erwartung ist deshalb nicht mehr zu erkennen. Dieser besteht gerade darin, dass wir auf etwas hoffen, das wir uns nicht selbst geben können.

Für unser Verhalten sind uns grundsätzlich zwei Möglichkeiten aufgegeben. Die eine ist das aktive Tun, die andere, dass wir etwas an uns geschehen lassen. Beide sollen in einem beständigen Wechselspiel da sein. Mal steht das eine, mal das andere schwerpunktmäßig im Vordergrund. Wir empfangen und geben, wir hören und reden, wir lassen uns lieben und wenden uns anderen in Liebe zu. So soll es sein. Wer immer nur nimmt, ohne zu geben, oder immer nur gibt ohne die Bereitschaft, selbst etwas anzunehmen, der beachtet nicht den Sinn des Wechselspiels dieser beiden Verhaltensweisen. Wer sich immer nur alles anhört, ohne selbst einmal Stellung zu nehmen, oder wer immer nur redet, ohne mal andere anzuhören, dem fehlt Wesentliches. Und wer es genießt, geliebt zu sein, ohne sich anderen liebevoll zuzuwenden, oder wer sich umgekehrt ganz in der Nächstenliebe ergeht, ohne selbst die Liebe anderer anzunehmen, der - sowohl der eine wie der andere - hätte besonderen Grund zur selbstkritischen Besinnung.

Advent bedeutet, dass die eine Weise schwerpunktmäßig für eine gewisse Zeit im Vordergrund steht, die inaktivere Weise von beiden. Sie steht - theologisch gesprochen - unter dem Stichwort der Erlösung, der Rettung. Um es bildhaft zu sagen: Wir können uns nicht selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Da können wir nur hoffen, dass uns jemand anderes ergreift. So ist es - grob gesprochen - auch mit dem Morast unseres Lebens. Wenn wir im Schlamm zu versinken drohen, kann der Punkt kommen, wo unser eigenes Tun und Machen nichts mehr rettet. Dann kann uns nur ein anderer helfen. Auf diesen Tatbestand besinnen wir uns in der Adventszeit. Wir warten und hoffen auf Christus, der uns Lebenswichtiges zu sagen und zu geben hat. Er streckt uns die rettende Hand entgegen.

06.12.1983

Die Texte der Adventszeit stellen immer wieder einen Zusammenhang her zwischen der Geburt Jesu und seiner Wiederkehr am Ende der Zeiten. Unser Spruch stammt aus einem Textabschnitt, der von der endzeitlichen Wiederkehr des Christus handelt.

Die Geburt Jesu und Christi Wiederkehr scheinen in ihrem Charakter weit auseinander zu liegen: Jesu Geburt ist ein Ereignis, das unser Herz anrührt. Es öffnet und erwärmt uns. Die Schilderung der endzeitlichen Wiederkehr mit all den schrecklichen Begleitumständen bringt unser Herz eher ins Stocken. Wir erschrecken. Wir sind geneigt, uns zu verschließen, in Deckung zu gehen. Demgegenüber wird uns aber gesagt: „Richtet euch auf und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe.“

Wenn die beiden Ereignisse in ihrem Charakter und in ihrer Wirkung auf uns zunächst so verschieden erscheinen, so haben sie doch ein gemeinsames Anliegen: Sie wollen uns beide eine Hilfe sein angesichts der Bedrohungen und Schrecken unserer Welt. Die Geburt Jesu wird verglichen mit dem Anzünden einer Kerze in der Dunkelheit: Christus erhellt die Finsternis unserer Welt. Damit ist bildhaft zum Ausdruck gebracht: In unsere Welt voller Probleme, voller Not und Elend, voller Ungerechtigkeit und Gleichgültigkeit, voller Hass, voller Gewalt und Schuld tritt er ein als die fleischgewordene Barmherzigkeit, Gnade, Vergebung, Zuwendung, Liebe. Mit seinem Auftreten gibt er allen Kraft und Hoffnung, die in den unheilvollen Verstrickungen unserer Welt gefangen sind.

Es bleibt aber die Erfahrung, dass sich die Welt auch durch das Auftreten Jesu Christi im Großen und Ganzen nicht verändert hat. Die ersten Christen und schon viele Menschen vor ihnen hatten ein Gespür dafür, dass alles noch viel schlimmer kommen könnte. Angesichts solcher schrecklichen Zukunftsvisionen von Kriegen und Verwüstungen, Naturkatastrophen und kosmischem Unheil wird den Verängstigten gesagt: „Es wird nicht nur Unheil auf euch zukommen; in allem Schrecklichen wird euch von neuem Christus begegnen. Wenn ihr also das Unheil auf euch zukommen seht, dann geht nicht schon vorher an eurer Angst zugrunde, sondern fasst euch in Zuversicht und Hoffnung und tut das, was ihr vor Christus meint vertreten zu können.“

Es hat in der Vergangenheit große geschichtliche Katastrophen gegeben, bei denen viele Menschen vielleicht schon gemeint haben, die Schrecken der Endzeit seien angebrochen. Die letzte große Katastrophe dieser Art in unseren Breiten war sicherlich die Zeit des Nationalsozialismus mit der Judenvernichtung und dem zweiten Weltkrieg.

Sowohl bei der Geburt Jesu wie bei der Wiederkehr Christi geht es um die Hoffnung angesichts der vielen Hoffnungslosigkeiten unserer Welt. Statt dass wir den Kopf einziehen und verängstigt in Deckung gehen, sollen wir uns aufrichten und auf den blicken, der in seiner Person dem Leid und der Not und der Schuld das ganz Andere entgegengesetzt hat und entgegensetzen wird. Christus war und ist unsere Hoffnung. Er wird unserer Hoffnung bleiben.

3. Advent

Bereitet dem Herrn den Weg; denn siehe, der Herr kommt gewaltig.

Jesaja 40,3.10

16.12.1980

Als ich während meines Studiums mit einem Freund in Hamburg eine Wohnung bezog, hatten wir die Idee, einmal die Woche eine Frau kommen zu lassen, die uns die Wohnung saubermachen sollte. Wir beide, damals noch Junggesellen, hielten das offenbar für nötig und sinnvoll.

Wir fanden eine Frau. Als dann der Tag anstand, dass sie zum ersten Mal kommen sollte, sahen wir uns unsere Wohnung an und mussten zugeben: „So geht das nicht! Wenn die Frau hier hereinkommt, kriegt sie einen Herzinfarkt. In diesem Chaos wird sie gar nicht wissen, wo sie mit dem Reinemachen anfangen soll.“

Und so haben wir uns an die Arbeit gemacht, an die Vorarbeit, haben die gröbste Unordnung beseitigt, damit die Frau am nächsten Tag überhaupt eine Chance haben würde, etwas in unserer Wohnung auszurichten.

Es ist sicherlich nicht angemessen, Jesus Christus mit einer Reinemachefrau zu vergleichen. Aber mir ist bei unserem heutigen Spruch diese Situation eingefallen. Jesus Christus ist uns ja auch gesandt, um in uns Ordnung zu schaffen, in uns aufzuräumen, uns zu reinigen, die Dinge unseres Lebens zurechtzurücken. Und wir sind nun aufgefordert, Vorarbeit zu leisten: „Bereitet dem Herrn den Weg!“

Es heißt in der alttestamentlichen Stelle bildlich weiter: „Macht die Täler hoch, die Berge niedrig, was krumm ist, macht gerade!“ Damit Jesus Christus überhaupt in uns einziehen kann, ist es nötig, dass wir ihm den Weg bahnen, dass wir den gröbsten Schutt beiseite räumen, damit die Tür überhaupt geöffnet werden und er bei uns eintreten kann.

Diese Vorarbeit ist nunmehr auszulegen. „Was sollen wir tun?“ Eben diese Frage lässt der Evangelist Lukas die Menschen stellen, denen Johannes der Täufer unseren Spruch zuruft. „Bereitet den Weg des Herrn!“, rief Johannes dem Volk zu. Und die Leute fragten: „Was sollen wir denn tun?“ Johannes antwortete: „Wer zwei Hemden hat, der gebe eines dem, der keines hat. Und wer zu essen hat, der gebe auch ab.“ Zöllner fragten: „Was sollen wir tun?“ Er antwortete: „Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist.“ Soldaten stellten die gleiche Frage: „Was sollen wir tun?“ Und Johannes antwortete: „Beraubt und erpresst niemanden und seid mit eurem Sold zufrieden.“

Die gleiche Frage könnten nun auch wir uns stellen: „Was sollen wir tun?“ Wenn wir uns die Frage in der gleichen Weise beantworten wollten, wie Johannes es getan hat, könnten wir vielleicht sagen: „Wer Pastor ist, der bereite seine Predigten sorgfältig vor und habe Zeit für diejenigen, die seinen Beistand brauchen. Wer Kindergärtnerin ist, der strenge seine Fantasie an, damit die Kinder Freude am abwechslungsreichen Spiel haben. Wer mit älteren Menschen zu tun hat, der habe Geduld und helfe ihnen, mit ihren Schwächen zurechtzukommen.“

So oder ähnlich könnten wir fortfahren. Jedenfalls geht es darum, wenn wir diesem Gedankengang folgen, dass wir dem anderen gegenüber unsere Schuldigkeit tun, dass wir Recht und Barmherzigkeit üben, damit Jesus Christus nicht in eine Räuberhöhle eintreten muss.

Gewiss bleibt für ihn dann noch viel zu tun. Die Zeit der Vorbereitung ist ja kurz. Für eine kurze Zeit können wir uns mal zusammenreißen. Aber wenn es darum geht, dass unser Leben auf Dauer anders werden soll, dann tauchen Fragen auf, auf die wir bei Jesus Christus eine Antwort finden können: „Warum soll ich eigentlich zu anderen gerecht sein, wenn mir selbst doch so selten Gerechtigkeit widerfährt? Warum soll ich eigentlich zu anderen barmherzig sein, wo andere sich doch so oft unbarmherzig verhalten?“

Wenn wir uns erst einmal die kurzzeitige Mühe gemacht haben, Jesus Christus an uns heran und in uns hereinkommen zu lassen, werden wir merken, dass er da noch eine ganze Menge an uns ausrichten kann, dass, wenn wir ihn erst durch unsere Oberfläche haben hindurchstoßen lassen, er an uns noch einige Arbeit am Grundsätzlichen leisten kann. Dann kann in der Tat noch Gewaltiges an uns geschehen.

14.12.1982

„Gewaltig“ - dieses Wort der modernen Umgangssprache klingt unangemessen, wenn wir es auf das Kommen Jesu Christi beziehen, denn gewaltig ist sein Kommen nicht. Auf die Geburt eines Kindes ist dieses Wort schon gar nicht gut anwendbar. Auch wenn wir das ganze Leben Jesu bedenken, mag uns diese Bezeichnung kaum besonders gut geeignet erscheinen, die Art des Auftretens Jesu zu charakterisieren.

Ein kleines Kind armseliger Eltern, das an unbedeutendem Orte ganz außerhalb des öffentlichen Geschehens unter widrigen Umständen das Licht des Lebens erblickt hat, und später ein Mann, der in seinem Leben nichts Nennenswertes an materiellen Gütern besessen hat, über keine politische und militärische Macht verfügte - dessen Erscheinung kann nicht gewaltig gewesen sein. Keine äußere Stärke kennzeichnete ihn; aber die innere Stärke machte sein Auftreten unaufhaltsam. „Unaufhaltsam“ - dieses Wort scheint mir geeigneter zu sein.

Jesus Christus kam unaufhaltsam in die Welt hinein. Seine Geburt konnte nicht verhindert werden. Den Nachstellungen des Herodes entging er, auch später den Nachstellungen der herrschenden religiösen Kreise, bis er seinen Auftrag erfüllt hatte. Ein göttlicher Auftrag in einem göttlichen Plan in der Kraft Gottes, so müssen wir schon sagen - da konnte menschliches Ränkeschmieden nichts ausrichten. Selbst die vermeintliche Niederlage verwandelte sich in Triumph.

Überhaupt sollte sich zeigen, dass alles, was so schwach und zerbrechlich, so unbedeutend aussah wie eine - ich möchte es mal auf Französisch sagen - wie eine „quantité négligeable“, also wie eine zu vernachlässigende Größe aussah, das war eine unaufhaltsame Kraft, die schließlich viele Menschen verwandelte.

Dem Herrn ist der Weg nicht bereitet worden. Das konnte ihn aber nicht hindern. Es steht uns aber gut zu Gesicht, ihm den Weg zu ebnen, damit er unter uns etwas ausrichten kann und wir ihm damit die Ehre geben, indem wir auf sein Entgegenkommen angemessen antworten.

Nachdem wir nun wissen, was sein Auftreten in unserer Welt zu bedeuten hat, und wir nicht mehr im Dunkeln tappen, ist es angemessen, dass wir nun unsererseits auf ihn zugehen und aus dem Weg räumen, was uns trennt.

18.12.1990

Am vergangenen Donnerstagabend stand ich wieder einmal vor der Herausforderung, die uns allen gerade hier in der Großstadt nicht unbekannt ist: dass einer, der der Kirche fern, aber durchaus interessiert, gegenübersteht, einen auffordert: „Nun sagen Sie mir doch mal etwas, das mich dazu bringen könnte, in die Kirche einzutreten!“

Diese Herausforderung war gar nicht polemisch, sondern ernsthaft gemeint. Ich kann mir vorstellen, dass es gerade in der Weihnachtszeit nicht wenige gibt, die z. B. bei ihrem jährlichen Gottesdienstbesuch an Heiligabend das entscheidende Wort zu hören hoffen, das ihnen den Zugang zur Kirche und zum christlichen Glauben eröffnen könnte.

Dieses Schlüsselwort zu finden, ist eine große Aufgabe, ich fürchte, eine allzu große Aufgabe. Wie gerne würde wohl jeder von uns die missionarische Chance nutzen, die uns mit dem Weihnachtsfest gegeben ist. Aber wie? Wie finden wir Zugang zum interessierten, hörbereiten Mitmenschen?

„Ich weiß nicht, womit ich bei Ihnen Gehör finden würde. Ich kenne Sie ja kaum“, musste ich meinem Gesprächspartner eingestehen. Denn ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch nur auf seine je besondere Weise zum Glauben finden kann. Wenn wir den Punkt finden könnten, wo in dem anderen etwas mitzuschwingen beginnt, wenn wir dies und das sagen oder tun, dann wären wir ein gutes Stück weiter.

Mein Gesprächspartner schien mir eher intellektuell ansprechbar zu sein, aber wo da? Nehmen wir als Beispiel den Spruch dieser Woche: „Bereite dem Herrn den Weg. Denn siehe, der Herr kommt gewaltig!“ Für uns als Insider verbindet sich mit diesem Satz vieles, gleich beim ersten Hören. Wir sehen den seit langem angekündigten Messias vor uns. Seine ganze Lebensgeschichte ersteht vor unseren Augen. Was er den Menschen Gutes getan hat, tragen wir als geradezu selbstverständliches Wissen des Glaubens in uns. Und dass auch wir unseren Teil dazu beizutragen haben, dass er sein Werk in dieser Welt fortführen und vollenden kann, ist uns geläufig. Und das lassen wir uns gern mal wieder sagen.

Was aber sagt dieses Prophetenwort demjenigen, der nicht diese langjährige innere Verbindung zur Kirche hat, dem die Texte und Bilder, die Symbole, die Sprache der Kirche fremd und unbekannt sind?

Zweieinhalb Jahrtausende liegen zwischen dem Wort des Propheten und uns heute. Der garstige Graben in der Geschichte ist breit. Aber es gibt Verbindendes. Auf einer menschlichen Ebene verbinden uns über die Jahrtausende hinweg Probleme und Fragen, die auf Lösungen und Antworten drängen.

Mit den vielleicht unausgesprochenen und unbewussten, aber doch vorhandenen grundlegenden Fragen des Lebens wenden sich Menschen an die Kirche, verstärkt gerade in der Weihnachtszeit. Wir haben es nicht in der Hand, ihnen das entscheidende, lösende Wort zu sagen. Das bleibt ein Werk des Heiligen Geistes. Wir können nur das Unsrige tun: mit Sorgfalt und Liebe auf das Suchen und Fragen unserer Mitmenschen einzugehen.

4. Advent

Freut euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freut euch! Der Herr ist nahe!

Philipper 4,4-5

23.12.1980

Es ist natürlich ein Unding, auf Kommando lachen zu sollen. Freude ist etwas Spontanes. Sie wirkt gewollt und krampfhaft, wenn sie nicht aus der Situation selbst heraus spontan entzündet wird.

Es geht bei unserem Spruch aber wohl gar nicht um Freude als spontane Gefühlsregung. Freude scheint mir hier vielmehr gemeint zu sein als grundsätzliche Lebenseinstellung. So, wie wenn einer sagt: „Ich habe nichts zu lachen“ und damit meint: „Mir geht es schlecht, meine Lebensumstände sind negativ, da gibt es keinen Grund zur Freude.“

Wenn Paulus dazu aufruft: „Freut euch im Herrn allezeit!“, heißt das nicht: „Nun macht mal ein fröhliches Gesicht, lacht mal!“ Vielmehr will er sagen: „Lasst euch innerlich nicht unterkriegen von den widrigen Umständen, in denen ihr leben müsst. Lass euren Blick nicht verdunkeln, lasst euch eure Perspektive nicht einengen auf die Negativaspekte des Lebens, schaut auf das, was Freude bereitet, und lasst euch dadurch leiten.“

In der Tat hängt vieles davon ab, wie wir die Welt betrachten. Der Miesepetrige wird immer Grund zur Trübsal finden. Dazu liefern ihm unsere täglichen Erfahrungen Material genug. Aber unser Alltag, ja, auch unser Alltag bietet Grund genug zur Lebensfreude.

Paulus zeigt hier ein Motiv auf, das solche Lebensfreude begründen kann: „Der Herr ist nahe“, sagt er. Also der Blick nach vorn, die Hoffnung auf das Kommende.

In der Tat ist der hoffnungsvolle Blick nach vorn eine große Hilfe dafür, widrige Umstände der Gegenwart guten Mutes zu durchstehen. Wenn wir uns auf etwas freuen, sind wir so leicht nicht unterzukriegen. Das kann auch tragik-komische Formen annehmen.

Das Schielen auf den Feierabend, auf das Wochenende und auf den Urlaub wie auf einen rettenden Anker ist nicht das, worum es Paulus geht. Denn hier kommt es nicht wirklich zu einer neuen Einstellung zur Gegenwart. Man hält einfach nur mühsam durch.

Auch das Beispiel von einer Frau, die noch heute das Bett ihres Mannes regelmäßig frisch bezieht, weil sie ihren im Krieg verschollenen Mann immer noch erwartet, gibt nicht wieder, was Paulus meint. Und auch nicht die Hoffnung darauf, dass das Eigentliche unseres Lebens nach unserem leiblichen Tod kommen wird, wie manche es erwarten, ist es, was Paulus uns zu sagen hat.

„Der Herr ist nahe“ - das sollen wir im Lichte des Weihnachtsereignisses wohl eher so verstehen: Es kommt einer zu uns, der uns die Augen öffnet für eine neue Sicht unseres Leben, einer, der neue Maßstäbe setzt - „Ein neues Gebot gebe ich euch“ - der uns neue Ziele aufzeigt, der uns neu und anders sagt, warum und wozu wir leben, und der damit entscheidend Einfluss nehmen kann auf unser Verhältnis zur Gegenwart unseres Lebens.

Nach neuen Zielen und Maßstäben suchen wir - als Einzelne und als ganze Gesellschaft - immer wieder neu und gerade jetzt, nachdem unser Glaube an das wirtschaftliche Wachstum und an die Allmacht der Technik erschüttert ist und apokalyptische Visionen von einer allmählichen oder auch plötzlichen Zerstörung unserer Welt sich in den Vordergrund drängen.

In unserem privaten und gesellschaftlichen Bereich ist es zu einer dringenden und wahrhaftig nicht leichten Aufgabe geworden, sich zur Lebensfreude neu ermuntern zu lassen. Da kann Jesus Christus Entscheidendes für uns tun. Er ist in die Dunkelheit unseres Lebens gekommen und hat es erhellt. Er ist - und damit wiederhole ich die von mir bevorzugte Kurzformel für das, was Jesus Christus mir bedeutet: Er ist das Ja zum Menschen und das Ja zum Leben im vollen Bewusstsein dessen, was an negativen Erfahrungen vorliegt.

Ein solches illusionsfreies Ja zu uns selbst und zu unserem ganzen Dasein ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns des Lebens freuen können. Es gibt dem Aufruf des Paulus seinen guten Sinn: „Freut euch im Herrn allezeit, und abermals sage ich euch: Freut euch! Der Herr ist nahe.“

19.12.1982

Das ist tatsächlich so als Mahnung gemeint von dem Apostel Paulus. „Freut euch und hört auf mit den Streitereien in der Gemeinde!“, mahnt Paulus die Adressaten seines Briefes. „Der Herr ist nahe, das soll für euch wichtiger sein als das kleinliche Gezänk.“

Die Freude ist zum einen eine spontane Regung des Gemüts. Dennoch ist es nicht ganz unsinnig, zur Freude aufzufordern. Es klingt zwar immer wieder etwas aufgesetzt, wenn gerade in der Vorweihnachtszeit dieser Ruf immer wieder ertönt. Wir haben jetzt andere Sorgen, als uns zu freuen. Aber an dieser Abwehrhaltung zeigt sich andererseits doch die Berechtigung der paulinischen Aufforderung. Ich selbst stelle jedes Jahr wieder fest, dass ich noch immer so schlecht organisiert bin, dass die Besinnlichkeit, die Ruhe und Beschaulichkeit zu kurz kommen. Das müsste aber doch auch anders gehen.