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Am Morgen des 24. April würgte Nelson Smalley zum ersten Mal Blut hervor. Er spuckte einen Schwall auf den abgenutzten Küchentisch, auf dem noch der Blechnapf und der schmutzige Teller vom vorangegangenen Abendessen standen. Smalley stützte sich mit seinen kräftigen Händen auf der Tischplatte ab.
"Geht's nicht besser?", fragte der Mann hinter Smalley. Er war weiß und machte aus seiner Abneigung gegen Dunkelhäutige keinen Hehl. "Verdammt, ihr haltet buchstäblich gar nichts aus!"
Anstelle einer Erwiderung erbrach sich Nelson erneut und harrte aus, bis die Krämpfe in seinem Magen vorübergingen. Er hatte Rührei, angebratenen Speck und ein paar Bohnen gegessen; nichts, was ihm solche Qualen hätte bereiten können.
"Vergiss die Medizin nicht!", knurrte der Weiße. "Und sei pünktlich!"
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Seitenzahl: 130
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Verloren im Feindesland
Vorschau
Impressum
Verloren imFeindesland
von Marthy J. Cannary
Am Morgen des 24. April würgte Nelson Smalley zum ersten Mal Blut hervor. Er spuckte einen Schwall auf den abgenutzten Küchentisch, auf dem noch der Blechnapf und der schmutzige Teller vom vorangegangenen Abendessen standen. Smalley stützte sich mit seinen kräftigen Händen auf der Tischplatte ab.
»Geht's nicht besser?«, fragte der Mann hinter Smalley. Er war weiß und machte aus seiner Abneigung gegen Dunkelhäutige keinen Hehl. »Verdammt, ihr haltet buchstäblich gar nichts aus!«
Anstelle einer Erwiderung erbrach sich Nelson erneut und harrte aus, bis die Krämpfe in seinem Magen vorübergingen. Er hatte Rührei, angebratenen Speck und ein paar Bohnen gegessen; nichts, was ihm solche Qualen hätte bereiten können.
»Vergiss die Medizin nicht!«, knurrte der Weiße. »Und sei pünktlich!«
Die gewaltige Laterne der Union-Pacific-Lokomotive sandte einen hellen Lichtschein in die finstere Prärie hinaus, während aus dem trichterförmigen Schornstein darüber ein Funkenregen stob. Die glühenden Überreste aus dem Kohlenkessel wehten an den Pullmanschlafwagen vorüber, deren Fenster teils geöffnet, teils fest verschlossen waren, und hüllten den heranrasenden Zug in einen Schleier aus leuchtenden Feuerinsekten.
Der Mann der Brigade Sieben gab seinem Wallach die Sporen.
Fast eine ganze Stunde zu spät war Lassiter aus Cooper aufgebrochen, in dem Elisabeth Hannon, die Frau des Diplomaten Joseph Hannon, ihn sehnsüchtig erwartet hatte. Sie waren fast einen halben Nachmittag im Hotelzimmer der verheirateten Frau gewesen und hatten für Gerede gesorgt. Der Hotelbesitzer hatte besorgt geklopft, als Elisabeth gerade das Kleid abgestreift hatte.
Nun musste Lassiter Council Bluffs erreichen.
Das Pferd galoppierte mit fliegenden Hufen neben dem Union-Pacific-Zug einher, aus dem irgendwann die johlenden Rufe jener Passagiere drangen, die das ungleiche Rennen hinter ihren Fenstern bemerkt hatten. Sie schrien Lassiter zu, dass der Zug bald verlangsamen würde, lachten über ihn oder erschreckten dessen lichtbraunen Wallach, indem sie mit ihren Revolvern hinaus in die klare Nachtluft schossen.
Seinen Auftrag trug Lassiter bei sich.
Er hatte ihn von Elisabeth erhalten, die – obgleich ihr Mann ahnungslos war – schon vor knapp zehn Jahren einen Eid als Mittlerin für die Brigade Sieben abgelegt hatte. Sie erfüllte ihre Pflicht mit äußerster Sorgfalt und war einem Abenteuer dennoch nie abgeneigt gewesen. Sie hatte Lassiter gesagt, dass sie kaum mit ihrem Mann schlief, und wenn es dazu kam, war es in der Regel so ernüchternd, dass sie sich nach einem derben Kerl wie ihm sehnte.
Aus dem Zylindergestänge der Lokomotive quoll weißer Qualm.
Der Gleisdamm verschwand in Schwaden gleißend hellen Nebels, der von den erleuchteten Fenstern des Speisewagens zum Glühen gebracht wurde, um danach im Dunkel der Nacht zu zerstieben. Bald war Lassiter auf Höhe des Büffelräumers, eines gitterartigen Vorbaus an der Spitze der Lokomotive, die damit Hindernisse aller Art vom Gleis zu räumen vermochte. Eine knappe halbe Meile vor Council Bluffs bestand dazu jedoch keine Notwendigkeit.
Kreischend schliffen die Bremsen am Gleis.
Eine andere Funkenfontäne als die über dem Schornstein sprang unter den donnernden Achsen der Waggons hervor, ergoss sich über das dürre Gras links und rechts des Gleises, das nicht mehr viel brauchte, um sich gänzlich zu entzünden. Der Lokomotivführer ließ die Glocke gellen, und Lassiter sprengte mit seinem Pferd auf den Bahnsteig – den Perron –hinauf.
Er sprang aus dem Sattel und rief nach einem Gepäckträger.
Ein Junge kam aus der Bahnstation gelaufen, winkte Lassiter zu und nahm ihm die Zügel des Pferdes ab. Er ließ sich das Trinkgeld aushändigen und ratterte die Fahrpläne der Eisenbahngesellschaften herunter, deren Gleise in Council Bluffs zusammentrafen. Er zählte die Chicago & Northwestern, die Chicago, Rock Island & Pacific, die Council Bluffs & Saint Joseph, die Sioux City & Pacific, die Burlington & Missouri und die American Central auf.
»Beschaff mir ein paar Getränke!«, rief Lassiter dem Knaben nach. Er blieb mit dem Blick an jedem einzelnen Wagen hängen, der an ihm vorüberrollte.
Ohrenbetäubend laut kam die Lokomotive zum Stillstand.
Aus den Waggons – besonders aus den Pullman-Schlafwagen – quollen Familien mit ihren müden Kindern, einige schlaftrunkene Männer, eine einzelne Frau und ein junges Brautpaar, das sich offensichtlich auf einer Vergnügungsreise befand. Das Paar lief ausgelassen um Lassiter herum, nahm sich gleich wieder bei den Händen und verschwand mit den übrigen Leuten im angrenzenden Speisesaal der Union-Pacific-Railroad.
Nachdem der Lärm vorüber war, stieg Lassiter im hintersten Wagen ein. Er hatte von Elisabeth ein Billett für den Schlafwagen erhalten, wollte jedoch in einem der Abteile Platz nehmen, die mit Familien besetzt waren. Er verspürte wenig Lust, die Strecke bis in die Rocky Mountains in Gesellschaft jener verknöcherten Greise zu verbringen, die zuletzt über den Bahnsteig geschlurft waren.
In hinteren Drittel des vierten Waggons hatte Lassiter Glück.
Er schob ein einzelnes Gepäckstück beiseite, das offenbar vom Wandbord gefallen war, setzte sich, streckte die Beine aus und nahm die Telegramme zur Hand, die Elisabeth ihm mitgegeben hatte. Er las sie erst nachlässig, dann mit größerem Interesse und steckte sie wieder ein.
Sarah Green.
Der vollständige Name der Staatskommissarin, die Lassiter zu einem Verhör zwingen sollte, stand lediglich im letzten Telegramm. In den vorausgegangenen Fernschreiben hatte man sich auf die Abkürzung S.G. oder schlicht G. beschränkt, um den Geheimhaltungsvorschriften zu genügen.
Die National Health Commission –die Gesundheitskommission des Senats – hatte Mrs. Green entsandt, um einer Reihe rätselhafter Pockenfälle in den Rocky Mountains nachzugehen. Die Kommission hatte befürchtet, dass die Pocken mit den Bahnlinien an die Ostküste gelangen und man dem Senat die Schuld dafür geben würde.
Offenbar war Mrs. Green ihrer Arbeit jedoch kaum nachgegangen.
Sie hatte die meisten ihrer Berichte gefälscht, wovon einige Senatoren in Washington erfahren hatten. Das Justizministerium war förmlich angerufen worden, und aus dessen Büros hatte man die Brigade Sieben verständigt.
»Verzeihung, Sir?«
Eine junge Schwarze stand in der Abteiltür und lächelte Lassiter an. Sie trug ein schlichtes Kleid mit breitem Samtkragen, machte einen äußerst reinlichen Eindruck und hatte ein kleines Mädchen an der Hand.
»Ma'am?«, fragte Lassiter und erhob sich. »Sitze ich auf Ihrem Platz?«
✰
Das Bootshaus des Potomac Boat Club in Georgetown war ein stattliches zweistöckiges Gebäude, das auf kräftigen Pfählen ruhte und mit seinem Prunk beträchtlichen Eindruck hinterließ. Die mit gestreiften Markisen versehene Loggia gewährte einen weiten Ausblick auf den Fluss, eingeschlossen die rudernden Clubmitglieder, die sich von ihren Frauen oder Töchtern beim Sport beobachten ließen.
Auf den beiden Giebeln wickelten sich die Fahnen des Bootsclubs um ihre Masten.
Eine Schaluppe von sechs oder sieben Fuß Länge setzte Roderick Johnson über, der mürrisch auf der Ruderbank hockte und seinen Fährmann anblickte. Er hatte eine fünftägige Reise hinter sich und war nicht gewillt, auf das Geplauder des Bootsbesitzers zu antworten. »Sie müssen sich nicht bemühen, guter Mann. Ich trage Ihnen keine Unhöflichkeit nach.«
Tatsächlich hatte sich der Bootsführer lediglich aus Freundlichkeit bemüht, ein Gespräch anzufangen, und nachdem Johnson ihn aus dieser lästigen Pflicht entlassen hatte, schwieg er zufrieden. Er zog die Ruder mit langen Zügen durch und brachte den Fährkahn zum anderen Ufer.
Die Männer aus der Kommission standen bereits auf der Loggia.
Sie steckten wie Johnson in vornehmen Gehröcken, trugen hohe Zylinder und hielten beide ein Fernrohr in der Hand, mit dem sie die Schiffe und Boote auf dem Potomac beobachteten. Sie verhielten sich dadurch keineswegs ungewöhnlich, und doch war etwas an ihnen, das Johnson verriet, dass sie aus Washington D.C. gekommen waren.
»Mr. Johnson«, grüßte der größere der beiden Männer und streckte die Hand aus. Er stellte sich als Senator James Cramer vor. »Sie müssen eine beschwerliche Fahrt hinter sich haben. Ich bin außerordentlich glücklich, dass Sie sich dieser Mühsal ausgesetzt haben.«
Der zweite Gentleman im Gehrock war Senator Ted Lewis aus North Carolina. Er hatte zuletzt von sich reden gemacht, als er dem Präsidenten in aller Öffentlichkeit widersprochen hatte.
»Es ist mir eine Ehre«, sagte Johnson und verbeugte sich leicht vor den beiden Senatoren. Er hatte sie bisher lediglich in ihrem Amt als Vorsitzende der National Health Commission erlebt. »Um mein Wohlbefinden muss niemand Sorge haben. Ich kam gern in den Columbia District. Die Hauptstadt ist wie Georgetown zu jeder Jahreszeit ausgenommen bezaubernd.«
Die Senatoren wechselten fragende Blicke miteinander und lachten schallend. Sie zählten Johnson abwechselnd die Unzulänglichkeiten auf, die Washington D.C. ihrer Meinung nach besaß. »Säumige Pferdekutschen! – Verdreckte Straßen! – Aufdringliche Gauner und Hütchenspieler! – Lausige Tavernen und Saloons!«
Sie krönten die Aufzählung mit einer Anekdote, die Cramer kannte und mit Verve zu erzählen verstand. Der Senator holte zu einer weitschweifigen Schilderung des Straßenlebens in seinem Viertel aus und brach in heiteres Lachen aus.
»Sie mögen den Lafayette Park nicht?«, unterbrach Johnson Cramer und winkte ab. »Der Park muss voller Menschen sein, wie man hin und wieder hört.«
»Vollgestopft mit dem Pöbel!«, bekräftigte Cramer und lehnte sich gegen die Brüstung der Loggia. Er wandte den Kopf zur Seite, hob das Fernrohr und spähte auf den Potomac hinaus. »Auch wenn es zweifelsohne keine populäre Meinung ist, bin ich der Ansicht, dass die unmittelbare Umgebung des Präsidentenbüros frei von Geschrei und Gekreisch sein sollte.«
»Mr. Cramer sagt die Wahrheit!«, sekundierte Lewis mit seiner hohen Fistelstimme. Er hatte sich Spott deswegen eingehandelt, als er zum ersten Mal vor der Kommission gesprochen hatte. »Ich wäre für einen Bannbezirk rings um jedes amerikanische Staatsbauwerk. – Wollten wir mit Mr. Johnson nicht über die Kommission sprechen?«
Die National Health Commission war die eigentliche Ursache ihrer Zusammenkunft, und dass Cramer und Lewis darüber bislang kaum ein Wort verloren hatten, versetzte Johnson zunehmend in Unruhe. Er griff Lewis' Bemerkung daher dankbar auf. »So ist es! Sprechen wir darüber, wie ich der Kommission weiterhin helfen kann!«
Einige Boote mit vier Ruderern darauf durchschnitten den trüben Potomac in der Flussmitte und verschwanden hinter einer Biegung. Die gleichförmigen Rufe der Steuerleute, die jeden Ruderhub ansagten, tönten bis zum Bootshaus hinüber.
Steif nahm Cramer das Fernrohr herunter. »Ich komme nicht umhin, Ihnen zu sagen, dass jemand den Vorfall um Mrs. Green gemeldet hat. Ich... Sie und die Dunham Irrigation Company müssen nichts mehr unternehmen, Mr. Johnson.«
Fast seit zehn Jahren führte Johnson die Dunham Irrigation Company, die überall im Westen Brunnen bohrte und Kanäle schachtete. Er hatte vierhundert Männer unter Vertrag, vor allem Schwarze, die sich nicht darüber beschwerten, zehn oder fünfzehn Stunden am Tag zu arbeiten.
»Mrs. Green macht uns Sorgen«, sagte Johnson und sah Cramer an. »Sie könnte... Sie könnte unsere Vereinbarung in Wyoming unterlaufen.« Er wechselte mit dem Blick zu Lewis. »Ich muss Ihnen nicht ausführen, welche Schmach in diesem Fall über die National Health Commission käme. Ich könnte Sie und unser Vorhaben nicht länger beschützen.«
Zumindest äußerlich blieb Cramer ruhig. »Keiner von uns benötigt den Schutz Ihrer Company. Ich sagte Ihnen bereits, dass Sie Mrs. Green nicht länger fürchten müssen. Ein Geheimstab ist eingerichtet worden.«
Johnson stutzte erstaunt. »Ein Geheimstab? Die Kommission will sich nicht selbst darum bemühen?«
Gelassen schüttelte Lewis den Kopf. »Die Kommission hat eine Einlassung an das Präsidentenbüro gesandt und um Hilfe gebeten. Man hat uns einen Geheimstab gestellt, der sich nach Wyoming begeben wird.« Er hob das Fernrohr und beobachtete ein anderes Boot, in dem vier schwitzende Männer saßen. »Ein oder zwei Agenten, nicht mehr.«
Die abgebrühte Äußerung des Senators verschlug Johnson die Sprache. »Sie schicken jemanden nach Wyoming? Genügt Ihnen mein Wort nicht länger?«
»Niemand bezweifelt Ihre Treue«, versicherte Cramer und wies auf den Fluss. »Aber wir brauchen einen anderen Steuermann. Ich... Die Kommission wünscht, dass Sie künftig allein die Company führen.« Er seufzte leise. »Wie geht es in Thompson voran?«
»Ausgezeichnet«, gab Johnson zur Antwort. Er war wie vor den Kopf geschlagen. »Die Dunham Irrigation errichtet derzeit eine Windmühle. Ich bin überzeugt, dass wir dafür alle unsere Männer brauchen.« Er machte eine ernste Miene. »Einen falschen Leumund durch Mrs. Green können wir nicht gebrauchen.«
✰
Die junge Schwarze trat vor Lassiter mit der anerzogenen Unterwürfigkeit auf, die Amerika über fast ein Jahrhundert hinweg in Schwarz und Weiß geteilt hatte. Als er aufstand, um ihr Platz zu machen, winkte sie ab und ließ ihrem Kind den Vortritt. »Ich hätte nichts dergleichen von Ihnen verlangt, Sir. Es ist nur... Margareth mag das Fenster und sieht gern hinaus.«
Das Kind war ein vierjähriges Mädchen, das sich um die Gepflogenheiten, die seiner Mutter so wichtig waren, nicht im Mindesten scherte. Es erklomm die Polsterbank, auf der soeben noch Lassiter gesessen hatte, und stützte sich mit den Händen an der Scheibe ab.
»Sie waren zuerst im Abteil«, sagte Lassiter und verstaute sein Gepäck über einem der Sitzplatze, die am Gang lagen. »Ich will Ihnen nichts streitig machen, Ma'am.«
Die Lokomotive fuhr mit einem Ruck an und dampfte mit gemächlicher Geschwindigkeit in die Nacht hinaus. Die amerikanischen Eisenbahngesellschaften fuhren durchweg langsamer als die europäischen, und was seine Gespräche mit seiner Abteilgenossin anging, war Lassiter darüber nicht betrübt. Er gewann das Vertrauen der Schwarzen, die sich schon nach wenigen Meilen angeregt mit ihm unterhielt.
»Sie kommen von der Ostküste?«, fragte Anna Smalley und riss die Augen auf. Sie hielt ihre Tochter Margareth an der Hüfte fest und bugsierte sie über sich hinweg. »Sie entschuldigen bitte... Ich muss ihr etwas zu essen geben.«