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Inmitten des tobenden Blizzards, der wie eine eiserne Faust über das Wyoming-Territorium hinwegging, wünschte sich die achtzehnjährige Lilly nichts sehnlicher, als mit ihrer Mutter in einer warmen Stube Handarbeiten nachzugehen. Stattdessen saß das Mädchen eingeklemmt zwischen einem Handelsreisenden aus Baltimore, der murmelnd vor sich hin betete, und einer stummen Näherin aus Iowa, die sie aus bangen Augen anstarrte.
Ihr Schlitten steckte in einer Schneewehe fest.
Sie stiegen aus und halfen dem Kutscher, der unentwegt fluchte und Gott dafür scholt, dass er geschehen ließ, woran er in Wahrheit selbst die Schuld trug. Der Geschäftsmann schwang neben Lilly die Schaufel, Eiskristalle im Bart. Der Kutscher packte das Mädchen beim Arm und stieß es grob zur Seite. "Steh' mir nicht im Weg!", schnaubte er.
Frierend rieb sich Lilly die Hände...
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Seitenzahl: 129
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Alles auf Rot
Vorschau
Impressum
Alles auf Rot
von Marthy J. Cannary
Inmitten des tobenden Blizzards, der wie eine eiserne Faust über das Wyoming-Territorium hinwegging, wünschte sich die achtzehnjährige Lilly nichts sehnlicher, als mit ihrer Mutter in einer warmen Stube Handarbeiten nachzugehen. Stattdessen saß das Mädchen eingeklemmt zwischen einem Handelsreisenden aus Baltimore, der murmelnd vor sich hin betete, und einer stummen Näherin aus Iowa, die sie aus bangen Augen anstarrte.
Ihr Schlitten steckte in einer Schneewehe fest.
Sie stiegen aus und halfen dem Kutscher, der unentwegt fluchte und Gott dafür schalt, dass er geschehen ließ, woran er in Wahrheit selbst die Schuld trug. Der Geschäftsmann schwang neben Lilly die Schaufel, Eiskristalle im Bart. Der Kutscher packte das Mädchen beim Arm und stieß es grob zur Seite. »Steh mir nicht im Weg!«, schnaubte er.
Frierend rieb sich Lilly die Hände ...
Von den Spieltischen im Casino mochte Lilly am meisten den Roulettetisch, der oft von gescheiten und klugen Gästen umringt war, die sich auf Zahlen und Wahrscheinlichkeiten verstanden. Sie machte sich nicht selten einen Spaß daraus, den eifrigsten Spielern die Notizblöcke zu stehlen, auf denen diese Kolonnen von Zahlen festhielten, in der ewigen Hoffnung darauf, dass der nächste Einsatz ihnen den ersehnten Gewinn bescheren könnte. Sie las die Aufzeichnungen, schrieb manchmal ein paar Ziffern dazu und gab die Blöcke zurück.
Manchmal gewannen die Leute ihretwegen.
Sie wussten nichts von Lillys Frechheiten, priesen vor ihren Freunden das vermeintliche Rechenwerk an, mit dem sie die Roulettekugel ausgetrickst hätten, und wenn die anderen Männer und Frauen daraufhin bedächtig nickten, musste Lilly den Saal verlassen, um mit ihrem Gelächter niemanden zu verärgern.
»Hurenfotz!«, schimpfte der Kutscher und trat gegen die vereisten Kufen des Schlittens. Er watete durch den kniehohen Schnee und schlug sich den Schnee von den Fäustlingen. »Uns bringt's nichts! Die Anstrengung bringt uns nichts!«
Das ferne Casino mit seinem beheizten Saal, das blank gewachste Parkett unter den Tischen, der geschwungene Tresen, hinter dem ihre Mutter die Drinks eingoss – sie alle verschwanden aus Lillys Vorstellung, zerstoben wie der eisige Schnee, der über ihre Köpfe hinwegwehte und vom Blizzard in die Nacht hinaufgetragen wurde. Sie wurden zu dem finsteren Nichts, das über ihnen in der Dunkelheit hauste und ihnen zusetzte.
»Geh aus dem Weg!«, schnauzte der Kutscher und stieß Lilly erneut in den Schnee. Er scherte sich nicht darum, dass er ein junges Mädchen malträtierte, wie ihn zuvor wenig geschert hatte, dass er seine Passagiere ins Verderben manövriert hatte. »Möge sich jemand unser erbarmen! Der Teufel soll sich unser annehmen! Komm herzu, Beelzebub! Nimm unsere Seelen! Aber lass uns friedlich und ohne Schmerzen sterben!«
Der Geschäftsmann aus Baltimore hieß Herb Bennett und war die Liebenswürdigkeit in Person gewesen, bis sie in den Blizzard geraten waren. Er hatte Lilly und der Näherin erzählt, dass er die Bradbury Northwestern Stagecoach Company kannte und keiner anderen Postkutschengesellschaft vertraute, jedenfalls keiner, die sich ihm in Green River aufgedrängt hätte, die ihm billigste Tarife versprochen hätte, die das Blaue vom Himmel gelogen hätte.
Nun war Bennett außer sich vor Empörung.
Er beschuldigte den Kutscher wieder und wieder, dass er die Route nicht kennen würde, dass es ihm nur um die Poststraße ginge, dass er deshalb das Leben eines jungen Mädchens und einer unschuldigen Frau aufs Spiel setze. Der Kutscher hörte mit verkniffenem Gesicht zu und kratzte das Eis von den Kufen.
»Soll ich Klage gegen Sie führen?«, schrie Bennett gegen den Wind an. »Soll ich die Bradbury Northwestern verklagen? Wäre nicht die erste Klage, die ich führen müsste! Sie töten uns, Mister!«
»Töten?«, höhnte der Kutscher und trat auf Bennett zu. »Wissen Sie, wer uns tötet? Klugscheißer töten uns! Paragraphenreiter wie Sie! Die Postbehörde hat uns zweihundert Dollar Strafe aufgebrummt? Wer soll's wieder reinholen?« Er deutete auf den Postsack, der hinten am Schlitten befestigt war. »Wegen der Post fahren wir rauf nach Camp Washakie! Nicht euretwegen, Mister! Die Post bringt uns das Geld!«
Die Männer stritten weiter, und Lilly verstand nichts davon, als sie von Konzessionen und Verträgen redeten, die jede Postkutschengesellschaft abschließen müsse, und als der Kutscher endlich wieder zu schaufeln begann, war Lilly so kalt, dass sie sich im Schnee zusammenkrümmte.
»Stehen Sie auf!«, rief Bennett streng und reichte ihr die Hand. »Sie dürfen sich nicht setzen, Miss! Die Kälte nimmt sie ein! Stehen Sie auf! Los doch!« Er zerrte an ihr. »Stehen Sie bitte auf, Miss!«
Über Stunden tat sich nichts am Schlitten.
Der Sturm häufte weiteren Schnee auf das Gespann, und die Temperatur sank mit jeder Stunde, die sie länger in dieser Nacht ausharrten. Die Näherin hatte Lilly einen ihrer Mäntel gebracht und gesagt, dass Lillys Lippen blau würden und dass sie sich in acht nehmen müsse.
Allmählich jedoch wurde Lilly die Kälte gleichgültig.
Sie stand einen Steinwurf von dem offenen Schlitten entfernt, der so tief im Schnee saß, dass die Männer ihn selbst mit den Pferden nicht herausbekommen würden. Der offene Schlitten war dem Kutscher von dessen Gesellschaft vorgeschrieben worden; er hatte geklagt darüber, als sie noch an der Dry Sandy Station gewesen waren.
»Gehen Sie ein Stück!«, rief Bennett und ergriff Lilly beim Arm. »Sie müssen sich bewegen, Miss! Sie müssen sich gegen den Frost sträuben!«
Über ihnen lag ein gewaltiges Wolkengrau, aus dem die Schneeflocken rieselten, und je länger Lilly in diese Leere starrte, um unnützer kamen ihre die Worte vor, die man an sie richtete. Sie zog die Handschuhe von ihren Fingern, die klamm und starr vor Kälte waren, und griff in die schimmernde Kristalldecke hinunter, die sich vor ihren Füßen ausbreitete.
Sie spürte die Kälte nicht länger.
Sie nahm nur ein dumpfes, taubes Gefühl in ihrem Inneren wahr, das sich vom Herzen her in ihre Eingeweide schnitt und bis in ihre Beine hinunterreichte. Sie hockte sich nieder, setzte ein strahlendes Lächeln auf und schaute die Männer an. Sie warf den losen Schnee in die Luft, ließ ihn auf sich herabfallen und freute sich an den wirbelnden Glitzerfunken, die um sie herum tanzten.
»Miss!«, schrie Bennett und stürzte auf sie zu. »Miss! Was tun Sie da?«
Für einen Augenblick glaubte Lilly, das Wiehern der Pferde zu vernehmen, die schon vor Stunden erfroren waren. Sie deutete zitternd zum Schlitten. Sie wollte Bennett die unbegreifliche Wahrheit mitteilen, die sich ihr eröffnete, nämlich dass sie gerettet würden, dass die Kälte nicht ihr Tod sei, sondern vielmehr Erlösung bedeute.
Doch Bennett hörte Lilly nicht.
✰
Der weiße Carrara-Marmor des Friedensdenkmals, das mit seinen beiden Frauengestalten auf dem Sockel wie ein Grabmonument wirkte, blendete Lassiter und seinen Begleiter. Die Männer waren aus der Droschke gestiegen, die sie vom Kapitolgebäude herübergebracht hatte, und liefen in der gleißenden Wintersonne über den Platz. Sie trugen lange Mäntel und Fellhandschuhe und hatten sich mit einem Glas Bourbon aufgewärmt.
»Schauen Sie!«, sagte Adam Morris und wies auf das Denkmal. »Eine der Frauen verkörpert die Trauer, die andere die Geschichte. Die Trauer legt ihr Haupt an die Schulter der Geschichte.« Sie betrachteten die beiden allegorischen Frauengestalten. »Die Vergangenheit hat uns selten Glück gebracht.«
Der Zusammenkunft war ein längliches Treffen im Kapitol vorausgegangen, an der neben einigen Verantwortlichen der Brigade Sieben auch der Justizminister teilgenommen hatte. Man war rasch übereingekommen, dass Lassiter der geeignete Mann für den Auftrag war. Das Justizministerium hatte schon zuvor beharrlich darauf gedrungen.
»Die Vergangenheit ist vorüber«, sagte Lassiter und blieb an dem Wasserbassin stehen, aus dessen Mitte der Denkmalsockel aufragte. »Ich schaue eher auf die Dinge, die vor uns liegen, Mr. Morris.«
Der Mittelsmann der Brigade Sieben bekleidete einen hohen Posten im Kongress und war es nicht gewohnt, dass man ihm widersprach. Er ging um das Friedensmonument herum und starrte auf die Siegesgöttin, die unterhalb der anderen beiden Frauengestalten einen Lorbeerkranz in die Höhe hielt. »Ich muss Ihnen nicht sagen, dass die Geschichte der Vereinigten Staaten voll Kummer ist. Die Väter unserer Verfassung wollten uns den Frieden ins Stammbuch schreiben und doch brach gute siebzig Jahre später der Bruderkrieg aus.«
Der Auftrag würde Lassiter ins Wyoming-Territorium führen, in jenes wilde, ungezähmte Land, vor dem man sich im kultivierten Washington D. C. fürchtete. Das Justizministerium hatte betont, dass man einen Mann brauche, der Recht und Gesetz ernst nahm und willens war, nötigenfalls mit dem Leben dafür einzustehen. Die Blicke sämtlicher Anwesenden hatten sich auf Lassiter gerichtet.
»Was haben Sie für mich, Mr. Morris?«, rief Lassiter über das Wasser hinweg. »Ich muss meine Abreise vorbereiten.«
Der Mittelsmann kam mit steifen Schritten um das Denkmal herum und setzte sich auf die Einfassungsmauer des Bassins. Er seufzte, rieb sich die Stirn und zog ein Kuvert unter dem Mantel hervor. »Ich habe Ihnen sämtliche Berichte zusammenstellen lassen, die bei der Brigade Sieben zu finden waren. Sie müssen einer Gesellschaft namens Bradbury Northwestern Stagecoach Company auf den Zahn fühlen.« Er zog eine Kollodium-Platte aus dem Umschlag. »Schauen Sie sich diesen Mann an. Sein Name ist Scott Hamilton.«
Die Photographie zeigte einen hageren Mann von fünfzig oder sechzig Jahren, der sich stolz auf das Hinterrad eines Landauers stützte. Er sah geraden Blickes zum Photographen, hielt einen Stock in der Rechten und einen Ahornzweig in der Linken. Hinter dem Landauer stand eine Kulissenwand, auf der eine Lichtung mit einer Holzhütte zu erahnen war.
»Scott ist Generaldirektor der Bradbury Northwestern.« Morris schwieg einen Moment lang. »Unsere Informanten in Wyoming glauben, dass er sich die Postlizenz mit betrügerischen Mitteln geholt hat. Er soll über einen Strohmann ein niedriges Gebot abgegeben haben, während er selbst ein höheres eingereicht hat.«
»Zwei Gebote?« Lassiter studierte die Photographie. »Wer gibt zwei Gebote ab, die miteinander konkurrieren?«
Vom Kapitolshügel näherten sich einige Gespanne mit dick vermummten Ehepaaren, die in rascher Fahrt vorüberholperten. Die Temperaturen in Washington D. C. waren seit Tagen kaum über den Gefrierpunkt geschrieben, trotz der wärmenden Sonne, die sich zuverlässig in den Nachmittagsstunden sehen ließ.
»Betrüger«, sagte Morris und atmete tief durch. »Betrüger und Gauner, Mr. Lassiter. Die Postkutschenlinien am Union-Pacific-Gleis strotzen vor krummen Geschäften. Manche ergattern eine Lizenz zu niedrigen Konditionen und reichen sie mit einem Aufschlag an ahnungslose Kutschlenker weiter. Andere lassen die Pferde verhungern, oder sie fassen's wie Mr. Scott an.«
Fragend richtete Lassiter den Blick auf Morris. »Wie ist Scotts Masche? Besticht er das Postbüro?«
»Solche Sperenzchen muss er gar nicht veranstalten«, erwiderte Morris in resigniertem Ton. »Er gibt das niedrigste Gebot aus, lässt die Sache ein paar Monate laufen, berichtet dem Postbüro von Schwierigkeiten, stellt den Betrieb ein, worauf das nächsthöhere Gebot den Zuschlag bekommt.« Er lachte trocken auf. »Was ebenfalls von Scott stammt.«
»Raffiniertes Spiel«, bemerkte Lassiter und zog einen Stoß Papiere aus dem Umschlag. Es waren die Informantenberichte, von denen Morris gesprochen hatte. »Weshalb geht es ihm dieser Tage an den Kragen?«
Morris stand von der Mauer auf und zog ein ernstes Gesicht. »Er hat jemanden auf dem Gewissen, ein junges Mädchen, von dem wir bisher nur wissen, dass es Lilly geheißen hat. Es ist vor einigen Wochen in der Nähe der Dry Creek Station erfroren.« Er schob die Hände in die Manteltaschen. »Traurige Sache... Der Kutscher konnte im Schneesturm den Weg nicht finden. Wegen der Säumnisstrafen ist er mit dem Schlitten gefahren.«
»Wie alt war das Mädchen?«, fragte Lassiter und steckte den Papierstoß in das Kuvert zurück. Er drehte die Kollodiumplatte in der Hand. »Wusste Scott davon?«
Wieder erschien eine Handvoll Kutschen auf der Straße.
»Scott hat seine Leute regelrecht in den Sturm getrieben.« Morris schaute den Gespannen nach und drehte sich zu Lassiter. »Er muss hinter Gitter kommen. Ich habe der Bradbury Northwestern bereits telegraphiert. Die Company wird Sie als Kutscher einstellen. Sie sollen in drei Tagen in Wyoming sein.« Er reckte triumphierend das Kinn in die Höhe. »Oder wollen Sie es auf Ihre Art versuchen? Ich könnte der Gesellschaft schreiben, dass Sie das Interesse verloren hätten.«
»Nein, nein.« Lassiter warf Morris einen strengen Blick zu. »Aber gewöhnlich arbeite ich allein.«
»Dessen bin ich mir vollauf bewusst«, ruderte Morris zurück und hob beschwichtigend die Hände. »Hören Sie... Angesichts der Bedeutung, die dieser Auftrag für den Präsidenten und das Justizministerium hat, wollte ich sicherstellen, dass Sie rasch an Scott herankommen. Sie müssen uns in einer Woche telegraphieren, dass Sie etwas gegen diesen Mann in der Hand haben.«
✰
Das rechte Bein hatte Joe Sidler im Winter des Jahres 1875 verloren.
Er hatte mit den beiden Braunen eine Ladung Talgfässer zu den Goldminen am South Pass gebracht, als ihn ein Sturm überrascht hatte, wie der Kutscher ihn zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Die Pinienwipfel hatte es fast bis zum Erdboden gedrückt, und die Luft war von messerscharfen Eiskristallen erfüllt gewesen, die einem das Gesicht zerschnitten hatten.
Hinter Sidler hatten die beiden Shoshonen auf dem Kutschdach gesessen, die Hände starr um die Karabiner gelegt, die Gesichter im Mantelkragen versteckt. Sie hatten der Kälte tapferer getrotzt als Sidler, und doch waren sie für ihn bloß unliebsame Konkurrenz gewesen. Die Shoshonen hatten für einen Dollar je hundert Pfund Fracht geschuftet, Sidler üblicherweise das Doppelte auf die Hand bekommen.
»Aufrücken, aufrücken, aufrücken!«, schrie Sidler den beiden Ehepaaren zu, die mit dem Zug aus Kentucky gekommen waren. Sie brachten das Gepäck heran, das er nach Camp Washakie mitnehmen sollte. »Oder muss ich den hundserbärmlichen Herrschaften Beine machen?«
Die Nacht hatte eine dünne Schneedecke in die Gassen von Green River geweht, gerade genug, dass man Fußabdrücke und Wagenspuren sah, nicht nur von der Bradbury Northwestern. Sie wurden jeden Tag hinauf nach Camp Washakie, hundertfünfundvierzig Meilen in sechsunddreißig Stunden. Die Route führte über Dry Sandy Crossing, sonst ein knochentrockenes Sandbett, in das die Siedler Löcher gruben, um an das salzige Brackwasser in der Tiefe zu gelangen.
»Fluchen Sie nicht so viel!«, rief ihm eine der jungen Ehefrauen zu. Sie war hübsch und machte einen vorlauten Eindruck. »Der Herrgott straft Sie über kurz oder lang für jeden Fluch.«
»Soll's der verfluchte Alte doch!«, konterte Sidler und stieg auf den Bock hinauf. Er machte die Zügel los und fuhr die Kutsche ein Stück nach vorn. »Mir hat er nichts zu befehlen! Ich bete nicht vor 'nem dürren Dummkopf, der sich ans Kreuz nageln lässt!«
»Jesus Christus.« Die junge Frau bekreuzigte sich hastig und eilte zu ihrem Mann. »Du glaubst nicht, was unser Kutscher für ein Blasphemist ist! Sollen wir ihm unser Leben anvertrauen?«
»Sollen wir allein in die Kälte reiten?« Der Ehemann zeigte unwirsch auf den aschgrauen Wolkenturm, der sich am Horizont erhob. »Nicht mit zehn Pferden schaffen wir's ohne seine Hilfe! Er ist ein guter Mann! Soll der beste Wagenlenker der Bradbury Northwestern Stagecoach Company sein!«
»Und der scheußlichste!«, entgegnete seine Frau und winkte ab. »Aber du lässt dich nicht belehren!«
Das andere Ehepaar trat hinzu und redete über das Städtchen Dry Creek, in dem sie frischen Proviant bekommen und eine Wechselstation finden würden, und der Widerwillen der jungen Gattin verflog.
»Sie müssen keine Angst haben, Ma'am!«, rief Sidler versöhnlich vom Kutschbock herunter. Er hatte etwas gegen Eheleute, die sich anderen sittlich überlegen fühlten. »Ich erfülle bloß meinen Dienst für die Kutschgesellschaft.«
Wichtigtuerisch zog Sidler die Taschenuhr aus der Weste und klopfte mit dem Fingerknöchel gegen dessen zerkratztes Ziffernglas. Die Zeiger standen auf elf Uhr und fünfzig Minuten.
Er fragte sich, wo sein Mitfahrer blieb.
Um elf Uhr frischte der Wind auf, und Sidlers zweiter Mann erschien im dichten Schneegestöber, ein Bündel mit seinen Habseligkeiten über der Schulter. Er war von hohem Wuchs, hatte breite Schultern und stechend blaue Augen, die mit klarem Blick alles musterten, was ringsumher geschah. Er sprach auf den ersten Meilen wenig, woraus Sidler schloss, dass ihn die Bradbury Northwestern erst kürzlich angeheuert hatte.
Wenigstens war er kein Shoshone oder Arapaho.