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Das Farmhaus der Madisons lag in völliger Dunkelheit, als die Männer absattelten und sich das Regenwasser aus den Hutkrempen kippten. Sie waren zu fünft aus Grand Lake herübergekommen. Die Bluthunde hatten am Abend angeschlagen und den Trupp auf die Spur von Howard Ewing gebracht. Sie hatten den Hunden Ewings durchgelaufene Schuhe vorgesetzt, die sie tags zuvor im Blend Creek gefunden hatten.
Trotz des Regens hatten die Hunde Witterung aufgenommen und Pinkerton-Agent Joe LeBoeuf und dessen Horde zum Haus der Madison-Familie geführt. Die Madisons standen unter Verdacht, Ewing Unterschlupf zu gewähren. Corky Madison hatte mit Ewing in derselben Konföderierteneinheit gedient.
"Bleibt unten!", knurrte LeBoeuf und beugte sich über das Gewehr. Er deutete auf die Scheune. "Dort drüben treibt er sich herum! Der Bastard darf die Farm nicht lebendig verlassen!"
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Seitenzahl: 131
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ritt ins Ungewisse
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Impressum
Ritt ins Ungewisse
von Marthy J. Cannary
Das Farmhaus der Madisons lag in völliger Dunkelheit, als die Männer absattelten und sich das Regenwasser aus den Hutkrempen kippten. Sie waren zu fünft aus Grand Lake herübergekommen. Die Bluthunde hatten am Abend angeschlagen und den Trupp auf die Spur von Howard Ewing gebracht. Sie hatten den Hunden Ewings durchgelaufene Schuhe vorgesetzt, die sie tags zuvor im Blend Creek gefunden hatten.
Trotz des Regens hatten die Hunde Witterung aufgenommen und Pinkerton-Agent Joe LeBoeuf und dessen Horde zum Haus der Madison-Familie geführt. Die Madisons standen unter Verdacht, Ewing Unterschlupf zu gewähren. Corky Madison hatte mit Ewing in derselben Konföderierteneinheit gedient.
»Bleibt unten!«, knurrte LeBoeuf und beugte sich über das Gewehr. Er deutete auf die Scheune. »Dort drüben treibt er sich herum! Der Bastard darf die Farm nicht lebendig verlassen!«
Tief im Inneren spürte Howard Ewing, dass man ihm auf den Fersen war.
Das Gespür für drohendes Unheil war ihm in die Wiege gelegt worden, war doch schon sein Vater der Cholera entkommen, die damals in Missouri gewütet und einem Vetter das Leben gekostet hatte. Ewings Vater war der angesehene Senator Bob Ewing gewesen. Er hatte Gesetze gegen Flutdämme am Mississippi erlassen, war für die Chicago & St. Louis Electric Railway zum Präsidenten gefahren und hatte am Ende seines Lebens auf eine erkleckliche Zahl von Erfolgen zurückschauen können.
Von seinem jüngsten Sohn hatte er nichts gehalten.
Die Profession des Sonntagsschullehrers, die Howard einige Jahre lang ausgeübt hatte, war seinem Vater zuwider gewesen. Er hatte darüber gespottet und gescherzt, hatte Howard einen Dummkopf genannt und ihn gefragt, wie in Gottes Namen mit unerzogenen Pennälern Staat zu machen wäre. Hätte er Howard in dieser verregneten Oktobernacht gesehen, wäre sein Urteil kaum milder ausgefallen.
Furchtsam drängte sich Howard an die nasse Scheunenwand.
Er fror und hielt die Winchester umklammert, an deren Lauf das Wasser in feinen Rinnsalen hinunterlief. Das Farmhaus war ein blasser Schatten in der Finsternis, die Kutsche mit ihren feuchten Lederpolstern davor glänzte im Mondschein. Howard war früher damit auf die Felder hinausgefahren, sobald der alte Madison ihm die Pferde angespannt hatte.
Nun war die halbe Welt hinter ihm her.
Oben in Merrice Lake war ihm ein großgewachsener Mann begegnet, dessen stechend blaue Augen unverkennbar waren. Diese Augen hatten ihm versichert, dass Howards Tage gezählt waren. Entschlossen hatte der Fremde gewirkt, und ein Remington hatte in seinem Holster gesteckt.
Der Remington konnte Howard mit Leichtigkeit töten.
Die Trommel mit den .38er-Patronen ließ sich leicht leeren, erinnerte sich Howard, der eine solche Waffe schon selbst besessen hatte. Die Schächte waren blank und gut geölt gewesen, und der Revolver hatte sich so leicht laden lassen, wie man mit ihm geschossen hatte.
Howard fürchtete Lassiters Rache.
Er hatte den zwielichtigen Fremden, dessen Auftraggeber in der amerikanischen Hauptstadt saßen, in einen Hinterhalt gelockt, der beinahe einen tödlichen Ausgang genommen hätte. Allein dem Geschick seines Gegners war es zu verdanken, dass dieser mit dem Leben davongekommen war.
»Bleib an der Scheune!«, hatte Madison ihm zugerufen. Er war ins Haus gegangen und hatte seinen Sohn Daniel verständigt, der sich jedoch nicht vor die Tür gewagt hatte. »Bleib an der Scheune und halt das gottverfluchte Maul!«
An diesen Ratschlag hatte sich Howard gehalten, obwohl er wusste, dass außer Lassiter auch die Pinkerton-Männer um Joe LeBoeuf auf der Farm waren. Sie hatten ihm mit ihren Bluthunden von Grand Lake aus nachgespürt, hatten ihn vor sich her getrieben und würden auf ihn feuern, sowie sich ihnen eine Gelegenheit bot.
Sicherer als je zuvor war Howard dem Tod geweiht.
Er hatte sein Scherflein Glück vom Schicksal erhalten. Einige Jahre lang war er ein gefürchteter Zugräuber zwischen St. Louis und Austin gewesen, hatte fünf oder sechs Leute befehligt, die ihm treuergeben gewesen waren. Auf den verzweigten Routen der Northern Express Company hatten sie Beute gemacht, jedenfalls bis jemand -
Ein Schuss erschütterte die Stille der Madison-Farm.
Durch das nächtliche Dunkel flammte ein Feuerstrahl, der die vor Regen triefenden Wände der Scheune aufleuchten ließ. Die Kugel durchschlug die Bretter zwei Handbreit über Howard und riss ein faustgroßes Loch ins Holz. Sie war hinter dem Farmhaus abgefeuert worden.
Aus der Winchester erwiderte Howard den Beschuss.
Talentiert als Schütze war er nicht, fand er, doch seine Fertigkeiten hatten für die Northern Express gereicht, die seinetwegen fünf Wachmänner auf jeden Wagen gesetzt und dennoch keinen Überfall vereitelt hatte. Howard hatte diese Männer kühlen Herzens abgeknallt, wie sie es nun mit ihm beabsichtigten.
Das Madison-Haus...
Er musste hinübergelangen, musste den alten Corky dazu bringen, ihm eines seiner Pferde zu überlassen. Die Nacht war dunkel genug, dass er entkommen konnte, dass er dem Unvermeidlichen entgehen konnte. Er musste es nur zum Haus schaffen. Er besann sich auf Betty, die nichts von dem Schlamassel ahnte, in den er sich gebracht hatte, und stahl sich von der Scheune fort.
Bis zum Hof gelangte Howard, ohne dass ihn jemand sah, dann bellten die Gewehre seiner Feinde. Er duckte sich unter den Schüssen, die über ihn hinwegsurrten und ein Fenster des Madison-Hauses trafen, und rannte zu dem Regenschauer hinüber, unter dem Corky das Holz für den Stallofen aufgestapelt hatte. Die obersten Scheite riss Howard herunter, schuf sich eine Mulde für die Winchester, legte den Lauf hinein und kniete sich dahinter.
Als er die Sträucher hinter der Scheune aufs Korn nahm, aus denen die meisten Schüsse gekommen waren, bohrte sich kalter Stahl in seinen Nacken. Das metallische Klacken eines Revolverhahns beschied Howard, dass sein Banditenleben zu jenem Ende gefunden hatte, wie er es stets befürchtet hatte.
»Howard«, sagte Lassiter und drückte mit dem Remington fest zu. »Ich hatte gehofft, dass wir uns wiedersehen.«
»Ich hatte auf eine glücklichere Gelegenheit gehofft«, meinte Howard und wandte sich halb um. Er starrte den Mann mit den breiten Schultern an. »Du wirst mich nicht töten, Lassiter. Du bist ein Mann der Gerechtigkeit.«
Wieder krachten Gewehre in den Sträuchern jenseits der Scheune. Der prasselnde Regen verschlang die pfeifenden Querschläger, die von den Mauern des Farmhauses abprallten.
»Ich will dich nicht töten«, sagte Lassiter. »Aber ich muss es.«
✰
Grand Lake, Colorado, vier Wochen zuvor
Der Abendempfang von Mrs. Edna Rockley war von solcher Raffinesse, dass die meisten Gäste über den Abend selbst statt ihre geschäftlichen Absichten sprachen. Sie fanden sich in Gruppen von vier oder fünf Leuten auf Treppenabsätzen, in Foyerecken und am Banketttisch ein und redeten über den gefrorenen Fisch, den Mrs. Rockley per Eilkurier aus San Francisco beschafft hatte. Sie tuschelten über die Opernsängerin, die ein grandioses Ariensolo gegeben hatte, das französische Gebäck, die äußerst köstliche Schokoladenpralinen und die Tatsache, dass sich der Dead Man Saloon, den Mrs. Rockleys Ehemann Jack unter der Woche betrieb, in einen respektablen Rauchsalon nach Pariser Couleur verwandelt hatte.
»Folgen Sie mir!«, führte Mrs. Rockley, eine ältere Dame mit gelocktem, silbernen Haar und blitzenden grauen Äuglein, eine Gruppe Herren in die »Beletage« hinauf. »Sie müssen zugeben, dass ich Ihnen den Mund nicht ohne Berechtigung wässrig mache! Die Speisen sind von exzellenter Qualität! Der Westen ist keineswegs so wenig zivilisiert, wie man es Ihnen an der Ostküste weismachen möchte!«
Aus der Traube gutgekleideter Männer, die Kapitalinvestoren aus Philadelphia waren, schallte Mrs. Rockley ein begeistertes »Hört, hört!« und ein nicht minder frohes »Bravo!« entgegen. Die Northern Express Company hatte mit den Rockleys eine gute Wahl getroffen. Die Gesellschaft hatte sich für das vermögendste Ehepaar in Grand Lake entschieden und es um die Ausrichtung eines Empfanges exorbitanten Ausmaßes gebeten.
»Exorbitant!«, wiederholte Mittelsmann Henry Sherman und riss dabei die Augen auf. Er stand neben Lassiter und hielt ein Weinglas in der Hand, aus dem er bislang nur genippt hatte. »So hatte sich das Board geäußert! Man wollte eine ›exorbitante‹ Atmosphäre, in der sich Investoren einlullen und für die Northern Express begeistern lassen!«
Als ehemaliger Frachtunternehmer war Sherman kein Freund der Northern Express, die in den letzten Jahren sämtliche Postkutschenlinien aufgekauft und durch schlecht verlegte Nebengleise ersetzt hatte. Die Gesellschaft rühmte sich damit, die Gegend um Grand Lake bis hinauf in die Rocky Mountains erschlossen zu haben.
»Mrs. Rockley ist stolz«, sagte Lassiter und deutete zu den Männern hinauf, die Mrs. Rockleys Worten mit einer gewissen Andacht lauschten. »Sie wird die Northern Express zufriedenstellen. Ich bin überzeugt, dass an diesem Abend einige Verträge zusammenkommen.«
Die eigentlichen Verhandlungen wurden in den Séparées des Saloon geführt, in denen man schwere Brokatvorhänge drapiert hatte, die jedes gesprochene Wort schluckten. Über einige der Anwesenden waren Lassiter bereits Telegramme aus dem Hauptquartier der Brigade Sieben zugegangen. Sie hatten sich schmutzige Geschäfte und Bestechlichkeiten geleistet, die Washington im Auge behalten wollte. Außerdem sollte Sherman Lassiter mit dessen anstehender Mission vertraut machen.
»Sie müssen sich Mrs. Rockley merken«, sagte Sherman und deutete zu der Frau in dem ausladenden Reifrock hinauf. »Sie wird bei der Northern Express einsteigen, und davor fürchtet man sich in Washington. Sie hat ein Vermögen angespart, das die Frachtgesellschaft ganz in ihre Hände bringen könnte.«
»Steht die Gesellschaft zum Verkauf?«, erkundigte sich Lassiter in leisem Ton. »Die Northern Express besitzt das Monopol rings um Grand Lake.«
Die beiden Männer wichen den Saloonmädchen aus, die charmant von Gast zu Gast schritten und Wein anboten. Eines der Mädchen zwinkerte Lassiter zu und streifte ihn beim Vorübergehen mit dem Arm. Sherman war in Gedanken bei der Northern Express und bekam nichts davon mit. »Sie will derzeit Anteilsscheine ausgeben und ihr Kapital aufstocken. Die Überfälle in den Bergen haben ihr große Verluste verschafft.«
Nordwestlich von Grand Lake hatten sich entlang der Northern-Express-Gleise blutige Überfälle ereignet, die Wachleute und Lokomotivführer mit dem Leben bezahlt hatten. Die Verbrechen gingen auf das Konto der Ewing-Bande und hatten Empörung in ganz Colorado hervorgerufen.
»Setzt mich Washington auf Ewing an?« Lassiter wechselte einen Blick mit dem Mädchen, das ihn gestreift hatte. Es hatte aschblondes Haar und gab sich keinerlei Mühe, das Interesse an ihm zu verbergen. »Ich... ich hatte mir gedacht, dass -«
»Sie sind nicht bei der Sache«, knurrte Sherman verärgert. »Man hat mir von Ihrem Ruf erzählt, Mr. Lassiter. Sie müssen diese Mission mit großem Ernst angehen.«
Die aschblonde Schönheit verschwand mit den anderen Mädchen in einem Durchgang, als Mrs. Rockley die Treppe hinunterschritt und die Arme entgegenreckte. »Mein guter Mr. Sherman! Dass Sie es auf meinen Empfang schaffen! Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, dass Sie die Zeit finden würden, uns mit Ihrem Besuch zu ehren!«
Sherman errötete und deutete eine Verbeugung vor Mrs. Rockley an. »Die Freude ist ganz meinerseits, Ma'am. Sie haben Grand Lake mit diesem Fest einen löblichen Dienst erwiesen. Ich konnte und durfte Sie an diesem Abend nicht alleinlassen.«
»Ganz recht, ganz recht!«, erwiderte Mrs. Rockley geschmeichelt. Sie stellte Sherman einigen der Geschäftsmänner vor, die ihr in großer Zahl folgten, und rauschte in den angrenzenden Saal davon.
Mit einem schiefen Lächeln sah Lassiter Sherman an. »Ich konnte und durfte Sie an diesem Abend nicht alleinlassen. Wie ich sind Sie ein Schwerenöter, Mr. Sherman.«
Entrüstet hielt der Mittelsmann dagegen. »Keineswegs bin ich ein Schürzenjäger, Mr. Lassiter. Mrs. Rockley und mich... Uns verbindet eine Freundschaft.« Er zog ein Briefkuvert unter der Jacke hervor. »In diesem Umschlag finden Sie alles Nötige für die Mission. Das Hauptquartier erwartet von Ihnen, dass Sie Ewing finden und festnehmen. Die Northern-Express-Anteile dürfen nicht an die Mrs. Rockley gehen, wozu es kommen wird, sollten die Überfälle andauern.«
Heitere Pianoklängen tönten aus dem Saal herüber, zu denen Mrs. Rockley mit bemerkenswertem Talent sang. Sie hatte »America The Beautiful« angestimmt und trug die Strophen gefühlvoll vor. Nicht nur Sherman traten die Tränen in die Augen.
Lassiter lächelte erneut. »Sollte ich scheitern, haben Sie gewiss Möglichkeiten, auf Mrs. Rockley Einfluss zu nehmen. Aber ich bringe Mr. Ewing schon rechtzeitig hinter Gitter.«
»Darum bitte ich Sie«, sagte Sherman und lauschte dem Gesang. »Ich telegraphiere dem Hauptquartier, dass Sie unverzüglich ans Werk gehen.«
✰
Von der einstigen Goldgräberstadt Merrice Lake war nichts übrig außer schaurigen Holzhütten und dem kläglichen Rest jenes Gletschersees, von dem das Städtchen seinen Namen erhalten hatte. Der Merrice-Gletscher war in den warmen Sommern der letzten Jahrzehnte geschrumpft und hatte sich in eine bräunliche Schmutzzunge verwandelt, die zwischen den Zinnen des Merrice Peak und des Carney Mountain hervorlugte. An manchen Abend hörte man das Eis brechen und ins Tal hinunterstürzen.
»Sallie!«, rief Betty Ewing nach ihrer Tochter und gestikulierte mit erhobenen Armen. Das taubstumme Kind konnte sie nicht hören. Trotzdem hielt Betty es für notwendig, dass sie den Namen ihres Kindes von Zeit zu Zeit laut aussprach. »Sallie, komm herunter zu mir!«
Das neunjährige Mädchen war in ihrem feuerroten Kleid ein Farbtupfer auf dem eintönigen Geröllhang, den es am Nachmittag hinaufgestiegen war. Es sollte die Arnikablüten einsammeln, die Betty auf einem Vorsprung erspäht hatte und mit denen sie den lästigen Knieschmerz bekämpfte, der sie seit einigen Jahren plagte. Die getrockneten Blüten waren im Winter ausgegangen.
Außer ihnen lebte keine Menschenseele im Tal.
Sie hatte sich das größte Haus von Merrice Lake genommen, ein zweistöckiger Koloss mit der Aufschrift Candlebroker Mining, in dem die Minenverwaltung gesessen hatte. Die Schreibpulte standen noch da, die Telegraphenapparate, aus denen abgeschnittene Sendekabel heraushingen, der Schrank mit den Ölzeugmänteln, die unter Tage getragen worden waren.
Oben im alten Generaldirektorenbüro hatte sich Betty eine Küche eingerichtet, im benachbarten Zimmer schliefen sie, im alten Handelsraum lagerten ihre Vorräte. Howard kam oft nur einmal im Monat zu ihnen herauf.
»Sallie!«, rief Betty erneut und stemmte die Arme in die Seiten. Sie wartete geduldig, bis Sallie zu ihr heruntersah und begriff, dass ihre Mutter verärgert war. »Dieses Kind raubt mir noch den letzten Verstand!«
Bitter stieß Betty ihre eigene Härte auf, als Sallie eine halbe Stunde darauf mit ihrem Körbchen voll Arnikaköpfen auf der Schwelle stand. Das Mädchen hatte das platte Gesicht ihres Vaters, in dem sich nur die spitze Nase abzuheben schien, und war von genauso ruhiger Wesensart wie dieser. Es konnte sich allenfalls durch gurrende Laute verständlich machen.
»Gut, gut!«, lobte Betty ihre Tochter und nahm ihr das Körbchen ab. Sie schüttete die Blüten in eine Holzschale, las die schlechten heraus und breitete die anderen auf dem Dörrbrett am Fenster aus. »Ich hatte regelrecht Angst um dich, als du dort oben warst. Du hättest abstürzen können. Hätte ich gewusst, dass die Arnika so weit droben wächst, hätte ich dich nicht gehen lassen.«
Über die Jahre hatte es sich Betty zur Angewohnheit gemacht, mit Sallie gewöhnliche Gespräche zu führen, auch wenn das Kind höchstens ihre Mundbewegungen entziffern konnte. Die Einsamkeit im Tal war erdrückend, und schwieg man den lieben langen Tag, fühlte sie sich noch qualvoller an.
Sallie störte sich nicht daran.
Sie schaute mit ihren großen, runden, wasserblauen Augen zu, sobald Betty redete, und gab ihre Antworten in einer ureigenen Zeichensprache, die nur ihre Mutter zu deuten verstand. An manchen Tagen gurrte und summte Sallie vergnügt vor sich hin, häufig beim Spielen, und es war dieser tönende Mischmasch, der Betty über manche Widrigkeit im Tal hinwegschauen ließ.
Keiner von ihnen hatte sich dieses Leben ausgesucht.
Als Howard noch bei ihnen gewesen war, hatte Merrice Lake wie ein abgeschiedenes Paradies auf Betty gewirkt. Sie waren wie Verliebte zwischen den verfallenen Häusern herumgestiegen, hatten sich geküsst und festgehalten oder im flachen Uferwasser des Sees gebadet. Die Winter hatten frostige Stürme gebracht, die einige Fenster zerdrückt und Bretter von den Fassaden gerissen hatten. Trotzdem war Betty glücklich gewesen.
Sie hatte Sallie bekommen, als sie gerade dreiundzwanzig Jahre alt gewesen war. Die Geburt hatte in einer Winternacht stattgefunden, bei einigen brennenden Kerzen, die nacheinander verloschen waren, so lange hatte Betty gebraucht. Das Mädchen hatte wie ein Klumpen Fleisch in Howards Armen gelegen, die Nabelschnur hatte sich um sein Handgelenk gewickelt.
Stolz hatte Howard damals ausgesehen.
Mit einer Hand angelte Betty nach dem Konfekt, das sie in einer Porzellanschale auf dem Schrank verwahrte, und reichte Sallie die Süßigkeit. Die Züge des Mädchens hellten sich auf.
»Für die Arnika«, sagte Betty und gab Sallie einen Kuss auf die Stirn. »Geh spielen, mein Kleines. Ich muss mir die Knie einreiben.«