Lassiter 2738 - Kolja van Horn - E-Book

Lassiter 2738 E-Book

Kolja van Horn

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Simon Goldberg sah auf die Uhr und unterdrückte ein Gähnen. Außer ihm waren der unrasierte Bursche auf der anderen Tischseite und Lilly, sein Liebchen, die letzten Gäste im Randy Rabbit, und das schon seit zwei Stunden. Zeit, zum Ende zu kommen. Er hatte beschlossen, dem Loser den letzten Pott zu überlassen und dem Abend so einen versöhnlichen Ausklang zu bescheren - schließlich war er ertragreich genug gewesen. Also täuschte er ein kurzes Hadern mit seinem Blatt vor, ehe er seufzend die Karten auf den Tisch fallen ließ und brummte: "Ich passe, Mr. Pollock. Glückwunsch, da sind sicher dreißig Dollar in der Mitte." Er hob die Hände. "Mir reicht's für heute, war ein langer Abend. Wenn Sie mich also entschuldigen würden ..." Pollock starrte ihn überraschend finster an, dann hielt er plötzlich ein Schießeisen in der Hand und zielte auf Goldberg: "Nichts da! So billig kommst du mir nicht davon!"


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 149

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Schlechte Karten

Vorschau

Impressum

Schlechte Karten

von Kolja van Horn

Simon Goldberg sah auf die Uhr und unterdrückte ein Gähnen. Außer ihm waren der unrasierte Bursche auf der anderen Tischseite und Lilly, sein Liebchen, die letzten Gäste im Randy Rabbit, und das schon seit zwei Stunden. Zeit, zum Ende zu kommen. Er hatte beschlossen, dem Loser den letzten Pott zu überlassen und dem Abend so einen versöhnlichen Ausklang zu bescheren – schließlich war er ertragreich genug gewesen. Also täuschte er ein kurzes Hadern mit seinem Blatt vor, ehe er seufzend die Karten auf den Tisch fallen ließ und brummte: »Ich passe, Mr. Pollock. Glückwunsch, da sind sicher dreißig Dollar in der Mitte.« Er hob die Hände. »Mir reicht's für heute, war ein langer Abend. Wenn Sie mich also entschuldigen würden ...«

Pollock starrte ihn überraschend finster an, dann hielt er plötzlich ein Schießeisen in der Hand und zielte auf Goldberg: »Nichts da! So billig kommst du mir nicht davon!«

Goldberg behielt die Hände oben in Höhe der Schultern, um Pollock nicht nervöser zu machen, als der offenbar ohnehin schon war. Die Kiefermuskeln des Mannes bebten, und sein Blick blitzte vor unterdrückter Wut. Lilly, die mit dem Hintern gelangweilt am automatischen Klavier gelehnt hatte, richtete sich unwillkürlich auf, und ihre Hand glitt unter den Rock, dorthin, wo sich ein mörderisch scharfes Stilett in einer Scheide an ihrem Oberschenkel befand. Sie stand nur drei Schritte hinter und neben Pollock außerhalb von dessen Sichtfeld, doch der schien die Bewegung trotzdem bemerkt zu haben. »Mach ja keine Dummheiten, Schätzchen«, knurrte er. »Und komm an den Tisch, wo ich dich sehen kann.«

»Soll das ein Scherz sein?«, fragte Goldberg an der Zigarre vorbei, die in seinem linken Mundwinkel klemmte. »Sie haben gerade gewonnen – nur für den Fall, dass Ihnen etwas entgangen ist ...«

Timothy Pollock wedelte verächtlich mit seinem Revolver, in der Linken hielt er immer noch seine Karten. »Läppische dreißig Dollar! Du Dreckskerl hast mir das Fünffache abgeknöpft.«

»Wäre vielleicht klüger gewesen, wenn Sie schon vor zwei Stunden eingesehen hätten, dass das heute nicht Ihr Tag ist«, bemerkte Lilly spöttisch, während sie an den Tisch trat und sich mit den Händen auf die Platte stützte. Ungeachtet der tödlichen Revolvermündung beugte sie sich vor und präsentierte Pollock ihr wohlgeformtes Dekolleté. »Dann wären Sie auch nicht so viel Zaster losgeworden. Freuen Sie sich lieber, dass der Verlust am Ende etwas kleiner geworden ist.«

»Dein Stecher bescheißt, das ist doch wohl sonnenklar«, zischte Pollock und bleckte dabei gelblich verfärbte Zähne. »Ich will meinen ganzen Einsatz zurück. Jeden verdammten Cent.« Er lehnte sich zurück und warf dabei seine Karten fort, den Revolver unverwandt auf Goldberg gerichtet. Sie landeten neben dem Tisch am Boden, und die scharfen Augen des Gamblers registrierten lediglich ein Neunerpaar. Darauf hatte dieser Kretin sechzehn Dollar gesetzt?

»Hören Sie, Mr. Pollock«, sagte er und zwang sich, langsam und ruhig zu sprechen. »Ein Vorschlag zur Güte: Ihre Drinks gehen auf mich, einschließlich einem Whisky zum Abschied. Dabei kühlen wir unseren Mut und gehen respektvoll auseinander. Okay?« Er wandte sich zum Tresen und suchte nach dem Bartender, doch von dem korpulenten Mittdreißiger, der dort vor Kurzem noch gelangweilt Gläser poliert hatte, war nichts zu sehen. Wo steckte der Kerl?

»Willst du mich zum Narren halten?«, keifte Pollock und fuchtelte bedrohlich mit seinem Revolver. »Ich knall erst deine Braut ab und dann dich, wenn du mir nicht sofort die Kröten auf den Tisch legst, kapiert?!« Seine Stimme hatte sich mit jedem Wort zu einem Crescendo erhoben, bis sie am Ende fast überkippte.

Durch das Geschrei war immerhin der Barkeeper geweckt worden, denn nur Sekunden später tauchte er hinter der Theke auf und weitete die Augen, als er das Schießeisen in Pollocks Hand bemerkte.

»Was zum Teufel soll der Scheiß, Tim?«, rief er. »Pack sofort die Waffe weg. Bist du jetzt völlig von Sinnen?«

Goldberg wurden allmählich die Arme lahm, und er warf dem Dicken einen leidvollen Blick zu, wobei er nickte. »Schön, dass Sie da sind, Lionel«, brummte er.

»Du hältst dich da raus«, bellte Pollock und zog die Stirn kraus. Seine Oberlippe rutschte aufwärts und entblößte die beiden übergroßen, vorstehenden Vorderzähne. Er sah aus wie ein tollwütiger Hase. Lilly stieß scharf die Luft aus, um ein Losprusten zu verhindern angesichts des unfreiwillig lächerlichen Anblicks. Goldberg war froh darüber, denn Pollocks Waffe zielte immer noch auf sein Herz, und er hatte kein Interesse daran, den Mann noch weiter zu reizen.

»Das tue ich sicher nicht, Tim.« Eine Bewegung hinter der Theke ließ Goldberg leicht den Kopf drehen, und er registrierte überrascht, dass Lionel seine doppelläufige Büchse in Händen hielt und damit auf Pollock zielte. »In meinem Saloon erzählt mir niemand, was ich tun oder lassen soll. Ich sag's dir jetzt noch einmal: Waffe runter, oder du bereust es.«

Pollock lachte auf, doch es klang eher wie ein Kreischen. »Bist du völlig irre, Mann? Dein Saloon? Mein Dad zahlt dein Gehalt, schon vergessen? Jetzt mach dich dünne!«

Langsam schüttelte Lionel den Kopf, sein rundes, fast pausbäckiges Gesicht grimmig entschlossen. »Du bist so ein Arschloch, Tim. Glaubst, jeden rumkommandieren zu können, weil dein Vater der große Boss ist im County. Aber diesmal hast du's zu weit getrieben. Auch ihr Pollocks steht nicht über dem Gesetz. Wenn der Sheriff erfährt, was du hier veranstaltet hast, dann wird er ...«

Pollock riss seinen Revolver herum, schwenkte ihn um neunzig Grad und drückte den Arm steif nach vorn, bis die Mündung zum Tresen zeigte. Er feuerte ohne Vorwarnung.

»Au ... verdammt!« Der Schuss war so nah vor ihm abgefeuert worden, dass Goldbergs Trommelfelle in schmerzhafte Schwingung gerieten. Er biss die Zähne zusammen und ließ sich geistesgegenwärtig mit seinem Stuhl rückwärts fallen. Im Augenwinkel registrierte er, wie auch Lilly sich zu Boden warf.

Keinen Augenblick zu spät, denn erst schepperte es hinter der Theke, als der große Spiegel durch den Einschlag von Pollocks Kugel in tausend Stücke ging. Dann donnerte das Schrotgewehr, und eine Ladung Blei zischte über Goldberg und Lilly hinweg, ehe sie mit trockenen Lauten Löcher in die Paneele der Rückwand stanzte.

Pollock brüllte wütend auf, sein Revolver belferte und zwei weitere Projektile verließen den Lauf. Ein erstickter Laut kam vom Tresen, dann das neuerliche Krachen der Büchse, Glasflaschen, die am Boden zerbrachen.

Pollock stand halb gebückt neben dem Tisch, als die Ladung ihn frontal erwischte. Die Wucht der Geschosse hob ihn von den Beinen und warf ihn zwei Yards weit zurück. Für einen atemlosen Moment schien er fast waagerecht in der Luft zu schweben, bevor er hart auf den Bodendielen aufschlug.

Sein Kopf fiel zur Seite, und Goldberg starrte ihm für einen grauenhaften Moment in die Augen, während das Leben aus ihnen wich.

»Jesus Christus«, stöhnte Lilly neben ihm, bevor sie sich auf den Knien aufrichtete, vorsichtig über den Tisch hinwegspähte und mit tonloser Stimme hervorpresste: »Lionel? Hey, sind Sie okay?«

Keine Antwort. Goldberg drehte sich um und sah eine Hand hinter dem Tresen am Boden liegen. Darunter breitete sich dunkel eine Blutlache aus.

»Goddam ...« Er stemmte sich mit beiden Händen hoch in eine sitzende Position, ehe er Lilly in den Blick nahm. »Was war das denn?«

Lillys Augen waren rund wie Kreise, und ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren. »Wir müssen abhauen, sofort«, stieß sie hervor.

Goldberg wollte widersprechen, hatte den Mund schon zu einer Erwiderung geöffnet, doch dann nickte er nur und erhob sich.

Er wusste, was Lilly durch den Kopf ging.

Sheriff Knitting hatte ihnen bereits am Nachmittag nahegelegt, Sparrow Woods auf schnellstem Wege zu verlassen. »Gesindel wie Sie brauchen wir hier nicht, verstanden?«, hatte ihnen der Ordnungshüter schmallippig beschieden, kaum dass sie aus der Postkutsche gestiegen waren. »Die bringen nur Ärger.«

Und nun, zehn Stunden später, standen sie hier im Gestank von Pulverdampf und in Gesellschaft zweier Leichen im Schankraum, von denen eine der Sohn des mächtigsten Mannes der Region gewesen war.

Unschuldsbeteuerungen würden da nur auf taube Ohren treffen. Zumal der groteske Shootout, der sich gerade vor ihren Augen abgespielt hatte, kaum zu glauben war, wäre man nicht selbst Zeuge gewesen. Viel leichter würde es fallen, das zwielichtige fremde Pärchen zu Sündenböcken zu erklären.

Zumal es Goldbergs Doppelbüchse war, mit dem Lionel Pollock erschossen hatte. Denn der Bartender hatte ihn und Lilly beim Betreten des Saloon dazu genötigt, ihre Schießeisen abzugeben.

»Simon! Himmelherrgott, hast du gerade einen Herzinfarkt?! Jetzt beweg dich endlich!« Lillys Stimme, hörbar bebend vor beginnender Panik, riss Goldberg aus seinen Gedanken. Er nickte benommen und sah, wie sie die Scheine vom Spieltisch zusammenklaubte, bevor sie sie sich in die Taschen ihres Rocks stopfte, die von Falten und Rüschen verborgen waren. Das Kleid war eine Sonderanfertigung, und die Schneiderin in Camp Verde eine wahre Künstlerin darin gewesen, Lillys etwas ausgefallene Wünsche in die Realität umzusetzen, ohne lästige Fragen zu stellen.

Für eine nächtliche Flucht durch die Wildnis hingegen war die Kleidung seiner Geliebten denkbar ungeeignet. »Wir brauchen Pferde«, sagte Goldberg deshalb, während er sich bückte und Pollocks Revolver an sich nahm, denn nach dem eigenen zu suchen würde nur kostbare Zeit verschwenden. »Hast du irgendwo einen Corral gesehen, oder einen Mietstall?«

Lilly rollte mit den Augen, denn es war typisch für ihn, dass er sich nicht weiter interessierte für die Kaffs, die sie abklapperten, um deren minderbemittelte Einwohner auf verschiedene Art um ihre Barschaft zu erleichtern. Selten hielten sie sich länger als einen oder zwei Tage an einem Ort auf, weshalb er keinen Grund sah, besonderes Interesse für die verschlafenen Nester aufzubringen. Wenn allerdings mal etwas schief ging, war Lillys Neugier für die Umgebung schon oft hilfreich gewesen.

»Der Mietstall liegt näher, nur vierhundert Yards die Mainstreet hinauf«, sagte sie. »Aber auf dem Weg müssten wir am Sheriff's Office vorbei. Besser, wir laufen nach Norden, hinter der Kirche habe ich ein Gehöft gesehen, mit Stallungen und auch ein paar Pferden draußen auf einer Weide.«

»Wie weit?«, fragte Goldberg, während er dem toten Pollock den Revolvergurt abnahm. Dabei drehte sich der Leichnam halb um die eigene Achse, und ein Schwall dunklen Blutes kam aus dem offenen Mund. Rasch wandte Goldberg den Blick ab, erhob sich und schnallte den Gurt um seine Hüften, ehe er das Schießeisen ins Holster rammte. Ein Peacemaker, schwer und glänzend. Offenkundig deutlich besser gepflegt als sein Besitzer.

»Gut eine Meile. Aber dann sind wir auch bereits raus aus der Stadt.«

Er nickte. »Also los!«

Goldberg stieß die Schwingtüren auf und trat hinaus auf den Sidewalk, der von einer einzelnen Laterne unter dem Vordach erhellt wurde. »Nach links«, raunte Lilly ihm zu, die Hände auf den Türflügeln, und er wollte sich gerade in die angegebene Richtung wenden, als eine scharfe Stimme ihn erstarren ließ: »Keine Bewegung, Goldberg! Was zum Teufel haben Sie getan?«

Er knirschte mit den Zähnen, hob zum zweiten Mal binnen einer halben Stunde die Hände und sagte: »Es ist nicht so, wie Sie denken, Sheriff.« Ein humorloses Lachen war die Antwort, dann knirschten die Dielen des Sidewalks vernehmlich, als der Sternträger sie betrat und auf Goldberg zukam.

Vor der Anhöhe ließ der Kutscher die Peitsche knallen und trieb das Vierergespann in eine schnellere Gangart, damit das Fuhrwerk genug Schwung zur Bewältigung der Steigung erlangte. Die Gefangene im Font der Abbot Downing Kutsche lachte glucksend, als die Fliehkraft sie halb von der Bank rutschen ließ und nur die Handschellen, mit denen sie beiderseits an den Armlehnen gefesselt war, verhinderten, dass sie Lassiter geradewegs in den Schoß fiel.

»Hoppla!« Sie schaute grinsend zu ihm auf, ehe sie ihren wohlgeformten Hintern wieder auf dem Sitz gegenüber platzierte. »Da wäre ich ja fast wieder an der Stelle gelandet, an der man uns bedauerlicherweise so unsanft gestört hat.«

Lassiter erwiderte weder ihr herausforderndes Lächeln noch ließ er sich zu einer Antwort herab. Er registrierte nur mit einem kurzen Blick, wie sie in ihre ursprüngliche Sitzposition zurückglitt, dann wanderte die Zeitung, die er gesenkt hatte, wieder aufwärts und verdeckte sein Gesicht.

Die Frau ihm gegenüber runzelte die Stirn und rasselte mit den Ketten. »Wie wär's, wenn du mich endlich von diesen Dingern hier befreist? Dann könnten wir reichlich Spaß haben miteinander. Bis nach Sparrow Woods sind's sicher noch zwei Stunden ...«

»... und vierzehn bis Monroe«, brummte Lassiter hinter der Zeitung. »Genau da schließe ich auch die Schellen auf. Keinen Deut eher, Joléne. Egal, wie oft du noch darum bittest.«

Sie lachte kehlig. »Du weißt ja gar nicht, was dir entgeht.«

»Ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon«, widersprach Lassiter. »Genau deshalb sind die Dinger da.«

»Ich kann nicht einmal eine Zigarette rauchen«, jammerte Joléne, »wenigstens das könntest du mir zugestehen.«

Lassiter warf den Zigarillostummel aus dem offenen Fenster der Kutschenkabine und knurrte: »Beim nächsten lasse ich die Vorhänge zu, dann darfst du tief einatmen und mit qualmen.«

Sein Vorschlag wurde mit einem erbosten Schnauben quittiert, dann schwieg sie für eine Weile und starrte mit trotziger Miene hinaus in die Landschaft.

Draußen wurden die Schatten länger und die Farben verblassten, während die Sonne sich hinter den Hügeln im Westen verkroch. Dem Mann der Brigade Sieben und seiner Gefangenen standen eine eintönige nächtliche Fahrt durch die Prärie und seiner Schätzung nach noch etwa drei weitere Reisetage bevor, ehe er Joléne Charboin beim Staatsanwalt in der Hauptstadt von Utah abliefern konnte; zumindest glaubte Lassiter das.

Der Artikel im Marysvale Investigator auf der linken Seite der Gazette, die Lassiter in Händen hielt, nahm das Urteil im Prozess, der Joléne bevorstand, bereits vorweg:

Gattenmörderin endlich gefasst! In Salt Lake City wartet der Galgen auf Joléne Charboin

Lassiter war skeptisch, ob man Joléne am Ende wirklich zum Tode verurteilen würde. Obwohl sie unter dem Verdacht stand, nicht nur einen, sondern sogar zwei Ehemänner um die Ecke gebracht zu haben. Und er selbst um ein Haar ihr nächstes Opfer geworden wäre.

»Kannst du endlich dieses verflixte Schmierenblatt fortlegen und dich wenigstens mit mir unterhalten, Darling? Es ist nicht nur elend unbequem, sondern auch sterbenslangweilig.«

Es waren ganze drei Minuten verstrichen, seit sich ihre Lippen geschlossen hatten. Eine seltene, viel zu kurze Spanne des Schweigens. Jolénes Zunge schien ein Eigenleben zu führen und von der Angst besessen zu sein, dass Stillstand Sterben bedeutete. Sie konnte nie länger die Klappe halten, als sie es für angemessen hielt, beleidigt zu sein. Leider war sie kaum nachtragender als ein Goldfisch.

»Ich wüsste nicht, was wir noch zu bereden hätten«, brummte Lassiter unwillig, ließ aber die Zeitung sinken und starrte die Lady in ihrem offenherzigen grünen Taftkleid prüfend an.

Man wusste nie bei Joléne – sie hatte Tricks drauf, die selbst ihn zum Staunen gebracht – und fast den Hals gekostet hatten. Die Handschellen, mit denen er sie angekettet hatte, waren die neuesten Modelle und so eng zugezogen, dass sich die zarte Haut an ihren Handgelenken bereits wund gescheuert hatte.

Aber sie war schon zweimal verhaftet und in Fesseln gelegt worden. Und ihren Häschern zweimal entkommen. Beim letzten Mal, vor einigen Monaten im Norden von Arizona, hatte sie drei Bewacher zum Narren gehalten, zwei davon mit Marshalsternen.

Lassiter waren alle Geschichten über Joléne bekannt. Man hatte nicht ohne Grund ihn geschickt, er war gewarnt gewesen. Und dennoch ...

»Alles in Ordnung, Lassiter?« Sie grinste selbstgefällig und bog den Rücken durch, um ihre Oberweite noch etwas mehr zur Geltung zu bringen. »Du schaust wie ein Hund an kurzer Leine, dem man eine Wurst vor die Nase hält.« Sie hob die ausgeprägten Augenbrauen, die tiefschwarz angemalt waren, und kurz danach ihren Fuß, der nackt war, weil sie ihre Stiefel wegen der stickigen Hitze in der Kabine schon bei Fahrtantritt abgestreift hatte. Mit verschmitzter Miene streckte sie ihn aus und schickte sich an, ihn Lassiter in den Schritt zu schieben. »Hör auf deine innere Stimme, Honey«, gurrte sie. »Warum quälst du dich so?«

Er schlug ihr Bein beiseite und starrte sie sekundenlang grimmig an. »Schluss jetzt! Sonst verschnüre ich dich und verpasse dir einen Knebel, mein Wort darauf.«

»Grundgütiger.« Sie hob ihr Kinn und zog die Nase kraus. »Was bist du nur für ein garstiger Spielverderber!«

Lassiter langte nach den Satteltaschen neben sich, zog ein schmutziges Hemd hervor und wedelte damit, während er warnend den Finger hob.

Mit sichtbarer Mühe presste sie die rot bemalten Lippen zusammen, seufzte leise und bettete ihren Kopf gegen die grünledernen Seitenpolster der Sitzbank. Sie schloss die Augen und war binnen zwei Minuten eingeschlafen.

Lassiter atmete auf.

Ein Blick aus dem Fenster auf die charakteristischen Felsentürme hinter den Kakteenpflanzen ließ ihn vermuten, dass sie sogar etwas früher in Sparrow Woods ankommen würden als geplant. Die Postkutsche legte dort eigentlich nur einen kurzen Halt ein zum Wechsel der Pferde, doch da man so gut im Zeitplan lag, dürfte Donny, der Kutscher, nichts dagegen einzuwenden haben, wenn sie lange genug blieben, um ein Nachtmahl zu sich zu nehmen. Lassiter knurrte der Magen, und sie hatten so rasch aufbrechen müssen, dass ihm keine Zeit geblieben war, sich mit Proviant für die lange Fahrt zu versorgen.

Leises Schnarchen von der gegenüberliegenden Bank verriet ihm, dass seine Gefangene wohl tatsächlich eingeschlafen war und sich nicht nur verstellte. Dennoch würde er es sich nicht gestatten, es ihr gleichzutun. Dazu war ihm sein Leben zu kostbar.

Er musterte Joléne, deren zarte Gesichtszüge nichts darüber verrieten, was für ein Satansbraten sie war. Und in Gedanken kehrte er zurück in das Hotelzimmer in Virgin City, als er fatalerweise mal wieder seinem besten Stück das Kommando überlassen hatte ...

Drei Tage zuvor

Lassiter hob überrascht die Brauen, ehe er die Zimmertür hinter sich schloss. Joléne schien eine Frau zu sein, die wusste, was sie wollte und dabei keinerlei Umwege in Kauf nahm.

Sie schmunzelte und spreizte ihre Schenkel, die sich ihm so nackt und verführerisch darboten wie der Rest von ihr. Das dunkle Dreieck zwischen ihnen glänzte feucht im Licht der Kerzen auf dem Bord über dem Bett. Ihr kastanienfarbenes Haar fiel in weichen Wellen über Schultern und Brüste, und sie strich sich eine Strähne davon aus dem Gesicht, das selbstbewusst und gelassen blieb, obwohl er sie anstarrte wie ein Hirte, der am Himmel einen Engel entdeckt hatte. Sein Herz pochte schneller, schlug ihm gegen die Rippen wie ein wütender Trommler.