Lassiter 2762 - Kolja van Horn - E-Book

Lassiter 2762 E-Book

Kolja van Horn

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Beschreibung

Geknebelt und fest an das Holzgerüst gebunden schob man ihn voran. Die Pulversäcke und das Dynamit zu seinen Füßen würden reichen, um ihn in Staub zu verwandeln. Immer wieder schlugen die Wagenräder gegen Steine und holperten über Schlaglöcher vor der Ruine des verlassenen Klosters, und jede Erschütterung fuhr ihm durchs Kreuz bis hinauf zum Nacken. Irgendwo da vorn würden bald Agenten der Brigade Sieben auftauchen, mit ihrem Gefangenen. Und er wusste, Deckers Männer gaben keinen Cent auf sein Leben - genauso wenig wie die, die ihn ins Schussfeld schoben. Zeit, sich zu wappnen, ging es Lassiter durch den Kopf. Wer gleich von zwei Seiten unter Feuer genommen wird, ist doppelt sicher tot.

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Seitenzahl: 135

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Esperanza

Vorschau

Impressum

Mexikanische Ballade Teil 1Esperanza

von Kolja van Horn

Geknebelt und fest an das Holzgerüst gebunden schob man ihn voran. Die Pulversäcke und das Dynamit zu seinen Füßen würden reichen, um ihn in Staub zu verwandeln. Immer wieder schlugen die Wagenräder gegen Steine und holperten über Schlaglöcher vor der Ruine des verlassenen Klosters, und jede Erschütterung fuhr ihm durchs Kreuz bis hinauf zum Nacken.

Irgendwo da vorn würden bald Agenten der Brigade Sieben auftauchen, mit ihrem Gefangenen. Und er wusste, Deckers Männer gaben keinen Cent auf sein Leben – genauso wenig wie die, die ihn ins Schussfeld schoben. Zeit, sich zu wappnen, ging es Lassiter durch den Kopf. Wer gleich von zwei Seiten unter Feuer genommen wird, ist doppelt sicher tot.

Einige Tage zuvor

El Paso, am Rio Grande zwischen Mexiko und Texas

Lassiter ließ ein verwinkeltes, zweistöckiges Gebäude hinter sich, das bei oberflächlicher Inspektion durchaus alle Merkmale jener Poststation aufwies, als die es sich laut dem Schild über dem Eingang ausgab. Sofern man die Niederlassung der Wells Fargo außer Acht ließ, welche sich nur eine Drittelmeile entfernt befand – und nicht wusste, dass die Company, deren Zeichen auf dem Schild prangte, lediglich Routen jenseits des Flusses auf US-amerikanischer Seite bediente. Sicher, ab und an hielten auch Fuhrwerke hier, die auf den ersten Blick wie ganz gewöhnliche Postkutschen daherkamen, Reiter wechselten ihre Pferde und es gab Kaffee und genießbare Kost für reisende Besucher.

Der Großteil der Räumlichkeiten jedoch diente anderen, konspirativen Zwecken. Man beherbergte Männer mit geheimen Missionen, verwahrte Unterlagen, verhörte Zeugen und Delinquenten, die darüber hinaus auch für kürzere oder längere Aufenthalte in Zellen untergebracht wurden, aus denen selbst laute Schreie nicht nach außen drangen.

La Estación del Sur war die erste Niederlassung der Brigade Sieben auf mexikanischem Boden und existierte nun seit gut eineinhalb Jahren, diskret ein wenig abseits der Stadt in einen Hang gebaut, mit Blick auf El Paso hinab. Drinnen wirkten auch manche Büroräume allerdings finster wie ein südamerikanischer Knast und immer noch so karg und provisorisch, als wäre man gerade erst eingezogen. Weshalb Lassiter so froh wie überrascht gewesen war, als Winston Decker, Leiter der Estación, ihn nach Übergabe der Unterlagen aus Nevada mehr oder weniger eilig wieder hinauskomplimentiert hatte.

Überrascht, weil Decker eigentlich stets gern noch bei einem Glas Whisky wortreich sein Leid darüber beklagte, in »diesen Drecksladen« abgeschoben worden zu sein.

Womöglich war ein anderer Besucher der Grund gewesen, der im Nebenzimmer auf Decker wartete, wie Lassiter durch die halb offene Verbindungstür gesehen hatte. Ein ihm unbekannter Gent in mittleren Jahren, mit elegantem Zylinder, dunklen Augengläsern und dem Profil eines Raubvogels. Die Finger des Mannes hatten sich rhythmisch wie auf einer unsichtbaren Klaviatur über die Kante des Tisches bewegt; ein Zeichen von Ungeduld, die Decker wohl nicht über Gebühr hatte strapazieren wollen.

Zikaden zirpten in den dornigen Büschen am Wegesrand, während er den Hügel hinabschlenderte. Von hier oben sah El Paso aus wie eine tief schlafende Schönheit, nur wenige Lichter schimmerten verträumt zwischen Dächern und Bäumen. Doch er wusste von mehreren Bodegas unten am Ufer des Rio Grande, die im Grunde niemals geschlossen hatten. Manchmal, wenn Besucher ausblieben, schlief der Wirt hinter der Theke ein, und man musste ihn wachrütteln, damit man etwas zu trinken bekam. Aber die Türen standen immer offen.

Die Nacht war warm, und er wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. Eigentlich hatte er damit gerechnet, spätestens morgen wieder in Marsch gesetzt zu werden, doch Decker hatte ihn ohne Auftrag entlassen und lediglich darauf hingewiesen, er solle »zu gegebener Zeit« in San Antonio vorstellig werden. Ein Freibrief für eine Zeit ohne Verpflichtungen, den er bereitwillig annahm. Und er war fest entschlossen, seinen Urlaub noch heute Abend in einer ganz bestimmten Bodega einzuläuten, in der das Bier nach Bier und nicht nach Eselpisse schmeckte, wie er wusste, weil er dort regelmäßig einkehrte. Oft genug, um sogar den Namen des Besitzers, Paco Chisme, zu kennen.

Seinen Braunen hatte er in der Estación zurückgelassen, weshalb Lassiter die Satteltaschen mit den wenigen Habseligkeiten über der Schulter mit sich führte. Das Tier war nach dem harten Ritt über fast zweihundert Meilen, den sein Reiter ihm in wenigen Tagen abverlangt hatte, völlig erschöpft gewesen und wäre deshalb ohnehin ausgetauscht worden. Nun war er frei zu tun, was immer ihm beliebte, und konnte sich bei Bedarf auch unten in El Paso ein frisches Pferd besorgen. Natürlich hatte Decker ihm eine Unterkunft unter dem Dach der Brigade Sieben angeboten, aber Lassiter zog es vor, in einem der Hotels in der Stadt zu nächtigen. Schon, weil er nicht den Eindruck erwecken wollte, jederzeit verfügbar zu sein.

Ein Maultierkarren näherte sich ihm von der Stadt her in gemächlichem Tempo. Der Mann auf der Bank hielt den Kopf leicht gesenkt, und die riesige Krempe seines Sombreros verbarg sein Gesicht. Ein wenig spannte Lassiter die Schultern an, doch der Karren passierte ihn, ohne dass der Hombre darauf sich groß rührte. Vielleicht schlief er sogar, und sein Muli fand den Weg von allein.

Linker Hand tauchte eine Öffnung im Buschwerk auf, die den Blick auf eine abwärts führende Treppe freigab. Ein paar Fackeln beleuchteten den Weg hinab zum Flussufer, bei dem es sich, wie Lassiter wusste, um eine Abkürzung zu Pacos Kneipe handelte. Also verließ er die Straße und ging die ausgetretenen Steinstufen hinunter, links und rechts gesäumt von Unkraut, Buschwerk und Bäumen. Schwacher Uringeruch vermischte sich mit dem Duft in Knoblauch gebratener Flusskrebse und dem Rauch von Holzkohlefeuern, der durch die Abendluft zog.

Ein schriller Pfiff ertönte von der Straße her, und Lassiter wandte sich um, doch niemand kam ihm nach. Also ging er weiter, den bunten Lichtern entgegen, die von den Laternen vor den Bodegas ausgingen. Er hörte, wie jemand auf einer Gitarre spielte und dazu laut, aber nicht besonders melodisch sang. Gelächter und vom Alkohol befeuerte Gespräche schienen zuzunehmen, je näher er kam. Ein sichtlich betrunkener Caballero kam ihm auf der Uferstraße entgegen und brauchte dafür fast deren gesamte Breite. Stolpernd kreuzte er die Straße in schrägem Winkel, bis er vor den kniehohen Dornensträuchern zurückwich und die Gegenrichtung einschlug. Auch dort bemerkte er rechtzeitig den niedrigen Bordstein, hielt kurz inne und vollführte eine viertel Drehung, bevor er den Weg fortsetzte. »Buenas noches«, murmelte er, als er Lassiter mit gesenktem Kopf und Schultern passierte, hob zwei Finger und wollte sich an die Hutkrempe tippen, verfehlte sie aber knapp und geriet dadurch leicht ins Taumeln.

Mit der Linken fing Lassiter seinen Sturz auf und klopfte dem Mann mit der Rechten auf den Rücken. Im nächsten Moment erregte eine wütende Frauenstimme seine Aufmerksamkeit.

»Gute Nacht«, wünschte er dem Betrunkenen und überließ ihn seinem Schicksal, während er seine Schritte beschleunigte. Denn der Ruf war vom Cangrejo Rojo gekommen, Pacos Bodega, nurmehr einen Steinwurf entfernt.

Die Terrasse war von Pergolas umgrenzt, an denen wilder Wein emporwuchs, und oben an eisernen geschwungenen Streben hingen Laternen, deren bunte Papierschirme im Wind schaukelten. Als Lassiter durch den Bogen des Eingangs trat, sah er, wie sich eine Frau, die an einem der Tische ganz hinten gesessen hatte, gerade erhob und zwei junge Männer anfunkelte, die ihr ganz offensichtlich zu nahe kamen.

»Vete«, zischte sie erbost. Haut ab!

Mit ausgreifenden Schritten bahnte sich Lassiter den Weg zwischen Tischen und Stühlen hindurch. Einer der Youngster lachte, der andere streckte die Hand nach der jungen Frau aus, die daraufhin vor ihm zurückwich.

»Ciudado, Señores!«, rief er mit scharfer Stimme.

Er war fast auf Armlänge heran, als einer der beiden herumwirbelte und zu einem Schwinger ausholte. Lassiter ging in die Knie, tauchte unter dem Schlag hindurch und landete eine zünftige Gerade, die sich tief im Magen seines Gegenübers versenkte.

Der Caballero klappte zusammen wie ein Taschenmesser und plumpste rückwärts mit dem Hintern auf einen Stuhl, der ihm zugewandt wie bestellt direkt hinter den Kniekehlen stand. Er riss die Augen auf, würgte und erbrach sich im nächsten Moment auf seine Hosenbeine.

»Coño!« Der zweite Bursche hob wütend die Fäuste und ging auf Lassiter los, doch er schien schon ordentlich Tequila intus zu haben, weil seine Bewegungen langsam und unsicher wirkten. Lassiter blieb mehr als genug Zeit, um dem Rechtsausleger zu begegnen; er bewegte sich eine Handbreit zur Seite, packte das Handgelenk des Hombre und riss ihn mit einer halben Drehung seines Oberkörpers ruckartig vorwärts, bevor er losließ. Der Möchtegern-Don-Juan stolperte mit überraschtem Blick an ihm vorbei, fiel über einen Schemel, landete schwungvoll auf einer Tischplatte und rutschte bäuchlings darüber hinweg, ehe sein Schädel krachende Bekanntschaft mit den Holzpaneelen der Bretterwand machte, an der der Tisch stand.

»Madre de Dios!« Lassiter wandte den Blick und sah Paco Chisme durch die Schwingtür auf die Terrasse stürmen. Der Bodega-Besitzer erkannte Lassiter, rollte mit den Augen und warf die Hände in die Luft, während er näher kam. »Qué pasa? Ay ay, ay! Lo siento, Señora!«

Auch Lassiter wurde mit einem entschuldigenden Blick bedacht, ehe Paco den Burschen, der sich benommen vom Tisch aufrichtete, entschlossen im Nacken am Kragen packte und auf die Füße zog. Wortreich schimpfte er auf ihn ein, trat dabei dem anderen nonchalant derart kräftig gegen das Schienbein, dass der aufjaulte, und zeigte mehrfach hinaus auf den Uferweg. Die beiden Caballeros trollten sich kleinlaut, wobei der mit den vollgekotzten Hosenbeinen es immerhin wagte, Lassiter zum Abschied noch einen Blick zuzuwerfen, in dem Trotz, Wut und Scham miteinander um die Vorherrschaft stritten.

»Lassiter, mi Amigo!« Paco klopfte ihm enthusiastisch auf die Schulter. »Gut, du bist gekommen in richtigem Momento.« Sein rundes Gesicht mit dem stattlichen Schnauzbart verzog sich zu einer untröstlichen Grimasse. »Ich gerade war hinter Casa por tragen Unrat hinaus ...« Sein Blick wanderte zu der Frau, die bereits wieder Platz genommen hatte. »Perdón, Señorita! Bitte, sagen Sie, was ich kann tun, damit Sie verzeihen.«

»Todo bien«, erwiderte sie gelassen und winkte ab. »Alles ist gut, Paco.« Sie griff nach ihrem Weinglas und trank es aus. Dabei wirkte sie, wie Lassiter fand, etwas mitgenommener, als sie vorgab.

Sie trug ein offenherziges Kleid in Smaragdgrün, mit geschwungenen Rüschen am breit ausgeschnittenen Kragen, der die Schultern freiließ und auch sonst einige sehr reizvolle Einblicke bot. Ihr Haar umrahmte das bemerkenswert schöne Gesicht in glänzenden, kupferfarbenen Wellen. Auf den geschwungenen Lippen, den Wangen und um die Augen schimmerte sorgfältig aufgetragenes Make-up. Eine zierliche Goldkette mit einer Reihe kleiner Edelsteine schmückte ihr Dekolleté, und um das linke Handgelenk baumelte ein kunstvoll ziselierter Armreif. Derart herausgeputzt passte die unbekannte Schöne etwa so gut in Pacos rustikale Bodega wie ein parfümierter Pudel auf eine Schweinefarm in Minnesota.

Was die Neugier des Mannes der Brigade Sieben weckte.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen, Señorita?«, fragte er höflich, und sie musterte ihn für drei Sekunden, bevor sie nickte. »Eine Karaffe Wein und Tequila, Paco«, wandte er sich an den Wirt, »auf meine Rechnung.«

Paco streckte kopfschüttelnd beide Hände vor. »No, no, no! Sind meine Gäste por toda la noche. Können bestellen, was immer.«

Lassiter nahm Platz, zog seine Silberdose hervor und öffnete sie, bevor er sie der Frau entgegenhielt. Als sie dankend ablehnte, steckte er sich selbst einen Zigarillo in den Mundwinkel, zündete ihn an und nahm einen Zug, bevor er sich vorstellte: »Mein Name ist Lassiter.«

»Esperanza«, antwortete sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Und ich hätte mich im Übrigen durchaus selbst meiner Haut zu wehren gewusst.«

»Okay«, brummte Lassiter. »Ich wollte mich auch keineswegs aufdrängen.«

»Ebenso, wie ich meine Getränke aus eigener Tasche zu bezahlen pflege«, ergänzte sie und hob dabei Kinn und Nase ein wenig empor. »Oder sehe ich aus, als müsse ich am Hungertuch nagen?«

»Keineswegs ...«

»Nicht alle auf dieser Seite des Rio Grande sind Hungerleider.«

»Und nicht alle Gringos schwimmen im Geld«, gab Lassiter zurück. Wobei ihm klar war, dass sein Äußeres noch weniger auf die gut gefüllte Börse in seiner Tasche hinwies als die Garderobe der Frau ihm gegenüber typisch war für eine Besucherin des Cangrejo Rojo. Also fragte er vorsichtig: »Kommen Sie öfter hierher?«

Sie hob die fein geschwungenen, sorgfältig gezupften Augenbrauen. »Was denken Sie?«

Er hob die Achseln und beschränkte sich darauf, einen weiteren Zug von seinem Glimmstängel zu nehmen, bevor er den Rauch wortlos in die milde Abendluft entließ.

Sie öffnete den Mund, hielt aber inne, als Paco mit einem Tablett wieder auftauchte. Er stellte eine Karaffe dunkelroten Weines, eine Flasche Tequila mit zwei Gläsern und einen Krug Bier auf dem Tisch ab und murmelte ein Salud, ehe er sich – offenbar immer noch beschämt über den Ärger, der seinen Gästen widerfahren war – entfernte.

Lassiter füllte das Weinglas von Esperanza auf, dann goss er Tequila in ein Glas, bevor er den Flaschenhals über dem zweiten verharren ließ und sie fragend anschaute.

»Worauf warten sie?«, forderte Esperanza ihn heraus, und er schenkte ein. Sie prosteten sich zu, und die Latina kippte den Schnaps in einem Zug wie ein ganzer Kerl. Ohne zu husten oder auch nur das Gesicht zu verziehen.

Nachdem sie das Glas abgestellt hatte, bemerkte sie eher beiläufig, aber mit einem verstohlenen Augenaufschlag: »Ich bin auf der Flucht.«

Lassiter horchte auf und sah sie forschend an. »Vor wem?«

Esperanza schmunzelte. »Vor einer sterbenslangweiligen Fiesta familiar, unten im Alcazar. Kennen Sie das?« Sie griff nach der Flasche mit dem Tequila und goss beide Gläser voll bis fast zum Rand.

Lassiter nickte. Das Alcazar war ein mondäner Bau im Osten der Stadt. Ein Hotel, Luxusrestaurant und Festsaal für besondere Anlässe begüterter Gäste, der noch zu Zeiten Kaiser Maximilians errichtet worden war und den Glanz europäischer Noblesse ausstrahlte. Nun verstand er auch Esperanzas Aufmachung.

»Mi abuelo ...« Sie seufzte. »Er feiert seinen ... cumpleaños setenta, comprende?«

»Den siebzigsten Geburtstag?« Lassiter hob den Bierkrug. »Dann auf sein Wohl ...«

»Der Bastardo soll von mir aus noch heute Abend verrecken!«, knurrte Esperanza, ignorierte das Weinglas und griff stattdessen nach dem Tequila. Wieder leerte sie das Glas in einem Zug, während Lassiter sie stirnrunzelnd musterte.

»Sie scheinen Ihren Grandpa nicht besonders zu mögen«, stellte er zurückhaltend fest.

»Ich hasse den alten Heuchler«, pflichtete sie ihm bei und verzog dabei die Lippen. »Ihn und den ganzen Haufen an Speichelleckern, der ihn umgibt. Deshalb musste ich fort, bevor ich etwas tue, was ich später bereue.«

Lassiter lehnte sich zurück, nahm noch einen letzten Zug vom Zigarillo und drückte ihn dann in der Schale aus Steingut aus, die auf dem Tisch stand. »Was ist denn so schlimm an Ihrer Familie?«, fragte er. »Immerhin müssen Sie nicht Hunger leiden wie so viele in Mexiko.«

»Por supuesto!« Sie zielte mit dem Finger auf Lassiter, als hätte er sich mit der Frage auch die Antwort darauf gleich selbst gegeben. »Meine Familie lässt es sich gut gehen, und seit der General das Land an euch Gringos verschachert, geht es uns immer noch besser. Das ist der Lohn für die wenigen, die treu und brav ihr Haupt beugen und das Spiel mitmachen.«

Der General ... damit meinte Esperanza zweifellos den ehemaligen Militär Porfirio Díaz, dem es nach zwei vergeblichen Versuchen gelungen war, in das Amt des Präsidenten gewählt zu werden. Seitdem hatten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Mexiko zwar grundsätzlich verbessert, allerdings profitierten nur wenige davon. Díaz ließ immer mehr Investoren aus den USA ins Land, gleichzeitig verloren Kleinbauern ihren Grund und Boden und waren gezwungen, für Hungerlöhne als Pächter den ehemals eigenen Acker zu bewirtschaften.

Lassiter nahm einen langen Schluck aus dem Bierkrug. Esperanza sah ihm dabei zu und schien auf eine Antwort zu warten, also sagte er: »Díaz wurde gewählt. Auch von jenen, die jetzt gegen ihn aufbegehren.«

Esperanza lachte auf. Doch es klang bitter, nicht amüsiert. »Claro! Ihr Americanos mit eurer Arroganz glaubt, man kann sich immer darauf herausreden, wenn es so etwas wie Wahlen gab! Selbst schuld, die Idioten, de verdad?« Sie schüttelte den Kopf, so heftig, dass ihr Haar über den Schultern tanzte.

Lassiter rieb sich die Stirn, weil leichter Schwindel in ihm aufstieg. Sein Mund fühlte sich trocken an, also trank er noch einen Schluck Bier – um festzustellen, dass der Krug danach leer war. Er presste die Lippen zusammen, während Esperanza sich vorbeugte. Ihre Augen nahmen seinen Blick gefangen.

»Benito Juárez hat die Kirchen entmachtet, und das war richtig«, dozierte Esperanza weiter. Dabei schien sie ihn zu taxieren, als wolle sie sich seiner ungeteilten Aufmerksamkeit versichern.