Lassiter 2742 - Kolja van Horn - E-Book

Lassiter 2742 E-Book

Kolja van Horn

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Beschreibung

Die Horde brach über das Anwesen herein wie ein Gewitter aus heiterem Himmel. Über das Tal hatte sich bereits die Dämmerung gesenkt, und die dicht bewaldeten Hügel im Westen, aus denen die Reiter hervor stürmten, lagen in tiefen Schatten. Keiner der Wachposten hatte wirklich eine Chance; nur zweien gelang es, selbst einen Schuss abzufeuern, bevor sie getötet wurden. Die Horde galoppierte auf den Vorhof, sprang aus den Sätteln und stimmte ein wildes Gebrüll an, während sie die Trommeln ihrer Revolver entleerte. Fenster zersplitterten, Blumenkübel gingen zu Bruch, das Gesinde im benachbarten Wirtschaftsgebäude suchte schreiend das Weite. Die Maskierten stürmten das Haus, fanden die junge Pilar Velasquez im Vestibül und nahmen das Kind mit sich.


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Seitenzahl: 151

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Ein Rookie aus El Paso

Vorschau

Impressum

Ein Rookie aus El Paso

von Kolja van Horn

Die Horde brach über das Anwesen herein wie ein Gewitter aus heiterem Himmel. Über das Tal hatte sich bereits die Dämmerung gesenkt, und die dicht bewaldeten Hügel im Westen, aus denen die Reiter hervor stürmten, lagen in tiefen Schatten. Keiner der Wachposten hatte wirklich eine Chance; nur zweien gelang es, selbst einen Schuss abzufeuern, bevor sie getötet wurden.

Die Horde galoppierte auf den Vorhof, sprang aus den Sätteln und stimmte ein wildes Gebrüll an, während sie die Trommeln ihrer Revolver entleerte. Fenster zersplitterten, Blumenkübel gingen zu Bruch, das Gesinde im benachbarten Wirtschaftsgebäude suchte schreiend das Weite. Die Maskierten stürmten das Haus, fanden die junge Pilar Velasquez im Vestibül und nahmen das Kind mit sich.

Sein Vater war mit den meisten Charros oben auf der Mesa bei der Herde, und das erste, was Miguel Velasquez durch den Kopf schoss, als die Kerle die Tür eintraten und ins Haus stürmten, war, dass sie davon gewusst haben mussten. Derart miese Bastardos hätten sich das nie getraut, wenn sein Papá und Ludovigo, der Jefe der Vaqueros, mit den Männern auf der Hazienda gewesen wäre.

Der zweite Gedanke war, oben auf der Galerie nicht entdeckt zu werden, weshalb er sich eine Sekunde, nachdem die Tür scheppernd gegen die Hand stieß, blitzschnell zu Boden warf und durch die Streben des Geländers hindurch nach unten spähte.

Mierda! Pilar kam in seliger Ahnungslosigkeit aus dem kurzen Korridor, der zur Küche führte, als ein halbes Dutzend verwegen aussehender Gestalten mit dunklen Sombreros und Bandanas über den Gesichtern sich in der Eingangshalle breitmachten und umschauten.

Ihre Augen wurden groß und größer, doch statt zu fliehen, blieb Miguels kleine Schwester wie angewurzelt stehen. Er erkannte, wie ihre zarten Hände sich ballten und ihr Mund sich öffnete.

»Das ist sie!«, zischte einer der Bandidos, der einen großen, goldenen Ohrring im linken Ohr trug wie ein Pirat, und stieß seinen Nebenmann grob mit einer Hand voran, auf deren Rücken eine Tätowierung prangte. »Pack sie, Juan – rápido!«

»Nein«, flüsterte Miguel fassungslos, doch der Juan Genannte stürzte vor, griff sich Pilar mit einem Arm und riss sie an sich. Er war groß und kräftig, während das sechsjährige Mädchen gerade mal dreißig Pfund wog. Ein Kinderspiel.

Der dürre Anführer mit dem Ohrring schwenkte sein Schießeisen nervös hin und her. Seine wasserhellen Augen blickten hin und her, bis in die letzten Winkel der Eingangshalle. Dann legte er den Kopf in den Nacken und schaute in Miguels Richtung zur Galerie hinauf, doch der hatte sich bereits geduckt und war rückwärts über den Teppich außer Sicht gerobbt. Nun fiel sein Blick über den Gang bis zur hinabführenden Treppe.

Und dem Gewehrschrank, der sich dort gegenüber einer Standuhr befand. Miguel wusste genau, welche Waffen darin standen: Zwei alte Vorderlader, Erbstücke seines Abuelos, die noch aus der Revolution gegen Maximilian stammten. Eine langläufige Schrotflinte, die Papá für die Bärenjagd benutzte.

Und ein moderner amerikanischer Karabiner.

Alle Gewehre waren geladen, und sein Vater hatte ihm beigebracht, wie man damit umging. Vielleicht, damit er in Fällen wie diesem gewappnet war.

»Wir haben, weshalb wir hier sind«, knurrte einer der Bandidos unten in der Halle. »Lasst uns verschwinden!«

»Und was ist mit dem Geld? Der Safe soll im Salon stehen, gleich da vorn.«

»Scheiß auf den Safe! Es könnte eine Stunde dauern, ihn aufzubrechen.«

Miguel hörte seine Schwester erstickt wimmern. Er riskierte einen kurzen Blick und sah, wie ihm der Kerl, der sie in den Armen an die Brust gedrückt hielt, ihr eine Hand auf den Mund presste. Pilars Augen schienen vor Panik aus den Höhlen treten zu wollen. Er biss die Zähne zusammen, wich bis zur Rückwand des Flurs mit den Türen zu den Schlafzimmern und Waschräumen zurück, dann richtete er sich auf und schlich tief gebückt voran.

»Ich werd nicht einfach so wieder abhauen«, keifte der andere Bandolero erbost. »Schau dich doch mal um, Compadre! Hier kann man richtig fette Beute machen, das sieht selbst ein Blinder.«

»Du bekommst deinen Anteil am Lohn«, gab der Anführer zurück. Er schien der einzige Gringo zu sein, wie Miguel an seiner Stimme und der hellen Haut erkannte. »Solange du tust, was man dir sagt.«

Miguel unterdrückte ein Ächzen, als unvermittelt ein Schmerzimpuls vom Knie bis zum Nacken durch seinen Körper schoss. Die noch immer nicht ganz verheilte Reitverletzung machte Ärger bei jeder auch nur ein wenig falschen Bewegung. Doch dann war er an den Treppenstufen vorbei und hatte den Waffenschrank erreicht. Er atmete zweimal durch, ehe er die linke, verglaste Tür öffnete, auf die ein Kunsthandwerker Jagdmotive in schwarzen Silhouetten gepinselt hatte.

Unten lachte der Gierige kehlig und krähte: »Komm schon, Hombre! Die haben sich doch alle verkrochen, wir können tun und lassen, was wir wollen. Nur eine halbe Stunde!«

»Ich würde gern mal einen Blick in die Küche werfen, zu den Chicas dort«, meldete sich nun ein dritter der Bandidos zu Wort. »Einen Happen essen und ein bisschen Spaß haben ... was ist schon dabei?«

Miguel biss sich kräftig auf die Zunge, während er die Hand nach der Winchester ausstreckte. In der Hoffnung, der Schmerz würde das Zittern seiner Hand beenden. Es half nur wenig.

Besser waren das kühle Metall des Laufs und das schiere Gewicht des Gewehrs, als er es herausnahm. Allein das Gefühl, die Waffe in Händen zu halten, brachte Miguels Herzschlag wieder in eine ruhigere Gangart. Der dicke, harte Kloß über der Kehle war allerdings immer noch da und machte keinerlei Anstalten, sich zu verziehen. Er wusste, er musste den Repetierbügel zurückziehen und wieder vorschieben, damit eine Patrone vor den Lauf gelangte. Und er kannte das Geräusch, dass die Winchester dabei verursachte.

Würden die Hundesöhne da unten es hören? Wahrscheinlich.

Miguel schluckte, umklammerte den Karabiner mit beiden Händen und spürte, wie sein Herz von innen gegen die Rippen trommelte.

»Es reicht, ihr Kanaillen!« Der Jefe der Bandidos hatte jetzt die Stimme erhoben, die scharf klang und keinen Widerspruch mehr duldete. »Raus hier, und zwar inmediatamente!«

»Aber ...«

»Du fängst dir gleich ne Kugel ein, Juan!«

Miguel zwang sich dazu, gleichmäßig zu atmen. Er zählte von zehn an rückwärts, bereitete sich darauf vor, an den Treppenabsatz vorzuspringen, die Waffe nach unten zu richten und einen Schuss abzufeuern. Um sich Respekt zu verschaffen, bevor er forderte, dass sie Pilar loslassen sollten.

Er war bei fünf, als erst einer der Bandidos aufschrie vor Wut und Schmerz, und kurz danach seine Schwester krakeelte wie am Spieß.

»Das Miststück hat mich gebissen!«, rief der Outlaw empört, »warte, du Aas, dich werde ich lehren ...«

Miguel bis die Zähne zusammen und ging steifbeinig vor bis zum Treppenabsatz. Mit rauer Stimme rief er: »Lasst sie los! Sofort, ihr Schweine! Sonst schicke ich euch alle zur Hölle!«

Sechs Augenpaare starrten verblüfft zu ihm hinauf. Pilar konnte nicht in seine Richtung sehen, weil der Bursche, der sie hielt, ihr brutal den Kopf zur Seite wegdrehte. Die Hand blutete kräftig, lag jetzt aber wieder fest über Pilars unterer Gesichtshälfte.

Sekunden verstrichen, dann lachten sie. »Runter mit der Knarre, Junge!«, rief der Anführer, und im selben Moment blickte Miguel in fünf Revolvermündungen. »Dann bleibst du vielleicht am Leben.«

Miguel zielte auf den Anführer. Er straffte die Schultern, beugte sich ein wenig vor und wappnete sich für den Rückstoß, wie er es gelernt hatte. Dann betätigte er den Repetierhebel und schoss.

Der Schlag gegen das Schlüsselbein schmerzte, aber sicher nicht so wie die Kugel, die den Jefe in die Schulter traf und ihn halb um die eigene Achse tanzen ließ, während ihm der Revolver aus der Faust glitt und ein Brüllen sich seiner Brust entrang, das Miguel dann doch für etwas übertrieben hielt.

Er lachte triumphierend, schwenkte rasch den Lauf der Winchester und drückte noch einmal ab. Ein Bandolero mit grünem Sombrero und lückenhaftem Gebiss, der zwei Schritte hinter seinem Anführer gestanden hatte und sein Schießeisen nur locker nach unten gerichtet gehalten hatte, wurde mitten in die Brust getroffen, rückwärts geschleudert und landete krachend auf der kostbaren alten Kommode. Deren Füße brachen ab unter dem Gewicht des Gesetzlosen, und das Möbelstück kippte nach hinten um, während der Bandido die Augen verdrehte und seitwärts zu Boden sackte.

Doch dann war der Überraschungseffekt dahin. Keiner der Kerle hatte Miguel zugetraut, dass er wirklich schießen würde. Nun, nach einigen Sekunden, waren sie eines Besseren belehrt und immer noch zu dritt mit Revolvern in Händen, die auf ihn gerichtet waren. Die Schießeisen belferten, und im nächsten Moment wurde Miguel von gleich zwei Kugeln getroffen.

Er fiel hart auf den Rücken, und siedendheißer Schmerz breitete sich in seiner Körpermitte aus. Als er die Finger krümmte, war das Gewehr nicht mehr in seinen Händen, und der Blick auf die Deckenbalken über sich verschwamm mit jedem stolpernden Herzschlag. Er hörte noch die jammernde Stimme seiner Schwester, nur für einen Moment, dann wurde es dunkel um ihn.

El Paso, zwölf Jahre später

Lassiter schnippte das Zündholz fort, das zischend in einer der trüben Pfützen erlosch, die der Regen auf dem umzäunten Hinterhof hinterlassen hatte. Er zog am Zigarillo und blies den würzigen Rauch in die frische Abendluft.

Das Unwetter war eine wahre Wohltat gewesen und hatte all den Staub und Dreck aus der Luft der Stadt gewaschen, die das Atmen zuvor zur Qual machten.

Er klopfte dem Braunen, den er ans Hitchrack gebunden hatte, auf die Kruppe und schlenderte über den Hof zum Hintereingang der Poststation.

Wenigstens wies das Schild an der Front des Gebäudes es als solche aus, doch die wehrhafte Anlage war noch etwas mehr als nur Haltepunkt für Postkutschen, Raststätte und Telegrafenamt. Im Seitenflügel befanden sich moderne Arrestzellen, darüber Büros, Verhörräume und karg ausgestattete Kammern zum Übernachten. Dieser Bereich war für die Brigade Sieben reserviert, obwohl davon in der Umgebung kaum jemand etwas ahnte.

Man hatte den Stützpunkt in den grünen Hügeln über El Paso del Norte mit Blick auf den Rio Grande erst vor wenigen Monaten eingerichtet. Als diskrete Lokalität zur Vernehmung von Zeugen oder Sicherungsverwahrung von Delinquenten, die über die Grenze in die Vereinigten Staaten verbracht werden sollten.

Manchmal in Absprache mit der mexikanischen Justiz, manchmal ohne. Wenn man Lassiter gefragt hätte, wäre seine Vermutung gewesen, dass deutlich öfter Letzteres der Fall war.

Er war heute in El Paso eingetroffen, um Oscar Tindale abzuholen, ein ausnehmend widerwärtiges Beispiel menschlicher Niedertracht. Tindale war bereit, in einem Prozess in San Antonio gegen die Hintermänner eines Schmugglerkartells auszusagen, um damit den eigenen feisten Hals aus der Schlinge zu bekommen. Unterstützung würde Lassiter dabei von einem jungen Rookie bekommen, unerbeten. Denn der Brigadeagent sah sich durchaus in der Lage, eine erbärmliche, fettleibige Made wie Tindale allein nach Texas zu schaffen. Und das wussten auch seine Auftraggeber. Es ging daher vielmehr darum, den Frischling unter seine Fittiche zu nehmen und ihm im Rahmen einer vergleichsweise harmlosen Mission den nötigen »Feinschliff zu verpassen«, wie Ronald DeBruer, sein Kontaktmann in San Pedro, sich ausgedrückt hatte.

Den Mentor zu spielen, war seine Sache nicht, dafür fühlte Lassiter sich noch zu jung. Außerdem fehlte es ihm an Geduld, Einfühlungsvermögen und Geschwätzigkeit. Sollte er dem Greenhorn vielleicht am Lagerfeuer Anekdoten aus seinem abenteuerlichen Agentenleben aufdrängen, bis der endlich gähnte und einschlief?

DeBruer hatte sämtliche Einwände geduldig zur Kenntnis genommen und ihm dann beschieden, dass die Aufgabe nicht verhandelbar sei. Außerdem würde der junge Bursche ihm sicher Freude bereiten. Er war mit Bestnoten von der Akademie gekommen und als erster mexikanischer Staatsbürger in Dienst genommen worden, schon das eine Auszeichnung an sich.

Das hatte Lassiter nicht verstanden. Schließlich hatte er in den vergangenen Jahren mehrfach erfolgreich mit Mexikanern gekämpft, was machte da eine offizielle Ernennung zu einem inoffiziellen Geheimagenten für einen Unterschied?

Nun, im Grunde konnte es ihm egal sein. Die Fahrt nach San Antonio würde höchstens eine Woche beanspruchen, und so lange der Rookie sich zu benehmen wusste und ihn nicht dauernd mit Fragen belästigte, würden sie schon miteinander klarkommen.

Als Lassiter die Stufen zur Hintertür erklomm, wurde diese vor ihm so heftig aufgestoßen, dass das Türblatt gegen die Außenwand prallte und das Fenster darin erbebte. Er konnte noch die linke Schulter zurückziehen, vermochte es aber trotzdem nicht zu verhindern, dass der herausstürmende Bursche ihn rüde anrempelte, ehe er mit einem weiten Sprung in eine Pfütze trat und danach mit ausgreifenden Schritten und hochgezogenen Schultern quer über den Hof stiefelte.

»Hey, verdammt ...« Lassiter blickte dem Kerl stirnrunzelnd nach, doch der schaute sich noch nicht einmal kurz um. Für einen Moment war er versucht, dem Rüpel zu folgen, um ihm Manieren beizubringen, beschloss dann aber, dass es der Mühe nicht wert war. Stattdessen betrat er die Station und erreichte nach wenigen Schritten eine Treppe, die nach oben führte.

Am Ende eines langen, kaum beleuchteten Korridors wurde er von zwei schweigsamen Männern empfangen, die ihn nach der Nennung seines Namens und eines Passworts, dass er von DeBruer bekommen hatte, durchließen. Jenseits der Tür war die Einrichtung zweckmäßig und karg. Nicht einmal Teppiche oder Läufer bedeckten die dunklen Bodendielen, und auch dieser fensterlose Flur war wieder nur von zwei kümmerlichen Gasfunzeln beleuchtet, die die einzigen Details an den nackten, schlammfarben verputzten Wänden bildeten.

»Die Zellen unten können kaum deprimierender sein«, bemerkte Lassiter, als er durch die offenstehende Tür das Büro von Winston Decker betrat. Sein Kontaktmann saß hinter einem schäbig aussehenden Schreibtisch und hatte die Hände über dem ausladenden Bauch gefaltet. Er lächelte säuerlich, wohl, weil er Lassiter kaum widersprechen konnte.

Der Brigadeagent nahm auf dem Stuhl Platz, den Decker ihm mit einem Wink zuwies, und sah sich demonstrativ um. Der Mittfünfziger, der nach wie vor ein Faible für kostspielige, elegante Garderobe hatte, wirkte deplatziert in dem Raum, der aussah wie das armselige Refugium eines Winkeladvokaten kurz vor dem Bankrott. »Was haben Sie verbrochen, Decker?«

Der Anwalt lächelte wieder traurig. »Vermutlich will die Brigade nicht, dass man sich hier allzu wohl fühlt.«

»Sie arbeiten für die, Gefangene sitzen eine Etage tiefer«, murmelte Lassiter. »Dachte ich.«

»Man hat uns zugesichert, es sei nur für ein paar Wochen, als Provisorium.«

»Wann war das?«

Decker winkte ab, bückte sich und zauberte eine Flasche Kentucky Bourbon hervor. Er öffnete eine Schublade und holte zwei Gläser hervor. »Ein Drink?«

»Sicher.« Lassiter starrte auf den leeren Stuhl neben seinem eigenen. »Wo bleibt das Greenhorn?«

Decker verzog die Lippen, hielt kurz inne, dann füllte er beide Gläser großzügig, ehe er antwortete: »Oh, ich fürchte, der Señor hat es sich im letzten Moment anders überlegt.«

Lassiter furchte die Stirn unter dem Stetson. »Was meinen Sie, Sir?«

Mit einer schwungvollen Bewegung, die eines Bartenders würdig gewesen wäre, ließ Decker Lassiters Glas über die Schreibtischplatte rutschen. Es kam präzise zwei Fingerbreit vor der Kante und dem Agenten zum Stehen, ohne dass ein Tropfen über den Rand geschwappt war.

»Nun ...«, erwiderte Decker gedehnt, hob sein Glas und prostete Lassiter zu, ehe er einen kräftigen Schluck nahm, »der junge Mann hat plötzlich entschieden, dass eine weit dringlichere Unternehmung anstünde als der Dienst eines Eliteagenten. Deshalb hat er ebendiesen quittiert, bevor er eigentlich begonnen hat.«

»Was? Wann ...?«

Decker hob die Achseln. »Well – vor ein paar Minuten erst.« Er sah Lassiter an. »Eigentlich müsste er Ihnen noch über den Weg gelaufen sein.«

Lassiters Miene verfinsterte sich. »Gut möglich. Und was soll dieser Unsinn? Hat er wenigstens einen Grund genannt für sein Benehmen?«

»Um der Wahrheit die Ehre zu geben«, entgegnete Decker, »war Señor Velasquez recht wortkarg. Immerhin sagte er, es ginge um seine Schwester und er müsse dringend nach Tucson. Die Sache dulde keinen Aufschub.«

»Tucson?« Lassiter musterte den Anwalt auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Was ist mit seiner Schwester?«

»Gegenwärtig?« Decker hob die Hände. »Keine Ahnung. Aber wenn es ihn so aufgeregt hat ... Pilar Velasquez wurde entführt, müssen Sie wissen. Vor zwölf Jahren. Und sie ist nie wieder aufgetaucht.«

Lassiter griff nach seinem Drink und nahm einen Schluck, bevor er fragte: »Eine Entführung ... wurde denn Lösegeld gezahlt?«

Decker schüttelte sein fast kahles Haupt, das von einem lockigen, eisengrauen Haarkranz umsäumt wurde. »Es gab nicht einmal eine Forderung. Tragisch und mysteriös, diese Angelegenheit. Natürlich wurde alles getan, um die arme Pilar zu finden. Don Diego, der Vater, ist ein Mann mit großem Einfluss in dieser Region. Aber das Mädchen blieb wie vom Erdboden verschluckt, bis heute.«

»Bis heute ...« Lassiter nickte nachdenklich. Der Rookie musste auf irgendeinen unverhofften Hinweis darauf gestoßen sein, dass seine Schwester noch am Leben war. Eine andere Erklärung gab es kaum für das idiotische Verhalten des ehemaligen Musterstudenten.

Er erhob sich. »Tucson, sagten Sie? Dann wird er zum Bahnhof gegangen sein.«

Deckers Brauen hoben sich. »Was haben Sie vor, Lassiter?«

»Mit dem Jungen reden.«

»Aber ... was ist mit Mr. Tindale?«

»Der läuft uns nicht weg, oder?«

Der Bahnhof von El Paso wirkte zu dieser späten Stunde fast wie ausgestorben. Zwei Männer in Latzhosen über nackten, hageren Oberkörpern kehrten den Unrat auf dem breiten Bahnsteig zusammen, und auf einer der Bänke hatte sich ein Mann ausgestreckt und den Sombrero über das Gesicht gelegt, um laut schnarchend seinen Rausch auszuschlafen.

Niemand sonst befand sich auf dem Bahnsteig, um auf einen Zug zu warten, weil der letzte vor einer Stunde El Paso verlassen hatte, wie Lassiter wusste.

Niemand außer dem jungen Kerl, der am Ende des Podests gegen einen der Stahlträger lehnte, die das Dach trugen, und eine Zigarette rauchte. Langsam ging Lassiter auf ihn zu, ohne dass der Mexikaner von ihm Notiz zu nehmen schien.

Velasquez trug einen dunkelgrünen Poncho, darunter ein besticktes Bolerowams und enge Hosen, um die Körpermitte war ein roter Bauchgurt gebunden. Typische mexikanische Landadel-Kleidung, bei dessen Anblick ein spöttisches Lächeln über Lassiters Züge huschte, vor allem angesichts der blond gefärbten Haare, mit denen der Caballero scheinbar sein südländisches Äußeres abzumildern versuchte. Eine seltsame Kombination.

»Hier fährt heute kein Zug mehr«, brummte Lassiter, während er ein paar Schritte vor dem jungen Mann stehenblieb.

Der würdigte ihn immer noch keines Blickes, zog an seiner Zigarette, starrte in die andere Richtung, in der die Gleise nach Nordosten verliefen in Richtung des großen Flusses und sagte: »Weiß ich.«

»Nicht mehr vor morgen.«

»Ich werde warten.«

»Nach Tucson sogar erst morgen Mittag.«

Ein Zucken des Mundwinkels, dann drehte Velasquez den Kopf in Lassiters Richtung, schaute ihm kurz in die Augen und knurrte: »Sie sind Lassiter, stimmt's?«