Lassiter 2702 - Kolja van Horn - E-Book

Lassiter 2702 E-Book

Kolja van Horn

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Beschreibung

Das Spiel war aus. Die Schusswunde unter dem Schlüsselbein hatte sein Hemd bereits bis zum Bauchnabel mit Blut durchtränkt, und sobald er den Remington heben wollte, tanzten Sterne vor seinen Augen. Egal, es war ohnehin nur noch eine Patrone in der Trommel, und er hatte es mit vier Hurensöhnen zu tun - eine Rechnung, deren Ergebnis auf der Hand lag.
"Hola, Compadre", krähte einer von ihnen. "Wo hast du dich verkrochen?"
Lassiter presste die Lippen zusammen und legte den Kopf gegen den Grabstein in seinem Rücken, der kaum kühler war als die flirrend heiße Luft über dem Friedhof. Sein Blick fiel auf die Ruine der alten Kapelle, die einen Steinwurf entfernt hinter den Reihen der Kreuze aufragte. Wenigstens hätte das Schicksal kaum einen passenderen Ort zum Abtreten für ihn auswählen können.

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Seitenzahl: 139

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Loreleys Totenlied

Vorschau

Impressum

Loreleys Totenlied

von Kolja van Horn

Das Spiel war aus. Die Schusswunde unter dem Schlüsselbein hatte sein Hemd bereits bis zum Bauchnabel mit Blut durchtränkt, und sobald er den Remington heben wollte, tanzten Sterne vor seinen Augen. Egal, es war ohnehin nur noch eine Patrone in der Trommel, und er hatte es mit vier Hurensöhnen zu tun – eine Rechnung, deren Ergebnis auf der Hand lag.

»Hola, Compadre«, krähte einer von ihnen. »Wo hast du dich verkrochen?«

Lassiter presste die Lippen zusammen und legte den Kopf gegen den Grabstein in seinem Rücken, der kaum kühler war als die flirrend heiße Luft über dem Friedhof. Sein Blick fiel auf die Ruine der alten Kapelle, die einen Steinwurf entfernt hinter den Reihen der Kreuze aufragte. Wenigstens hätte das Schicksal kaum einen passenderen Ort zum Abtreten für ihn auswählen können.

Die Leute, die den Friedhof einmal angelegt hatten, mussten diesen Ort schon vor langer Zeit verlassen haben. Viele Gruben waren eingestürzt, die meisten Grabsteine umgefallen. Aber Lassiter glaubte zu erkennen, dass im Dach des Kapellenturms, der nur noch aus einem hölzernen Gerippe bestand und von keiner einzigen Schindel mehr verhüllt wurde, immer noch die Glocke hing.

Merkwürdig, was einem so in den Sinn kam und augenfällig wurde, sobald das Ende nahe rückte.

»Caramba! Du zierst dich ja wie eine eurer Gringo-Jungfrauen, Hombre«, meldete sich der Anführer des Quartetts wieder zu Wort, und Lassiter musste registrieren, dass dessen enervierendes Tremolo nun schon deutlich näher gekommen war. »Weißt du, was ich diesen hochnäsigen Putas immer wieder predige, ehe ich loslege? Beim ersten Mal tut's immer weh. Und dasselbe gilt auch für das letzte Mal – jedenfalls für deines, Amigo.«

Zwei der anderen lachten kehlig. Sie befanden sich links von ihm, etwas weiter entfernt als das Großmaul. Natürlich; sie waren ausgeschwärmt, um systematisch die Gräberreihen zu durchkämmen, und Arschloch Nummer vier würde rechts außen neben seinem Jefe marschieren. Alles Informationen, die hilfreich gewesen wären, hätte Lassiter auch nur eine Hand voll mehr Munition und wären nicht schon ein oder zwei Bierkrüge Lebenssaft aus ihm herausgelaufen.

Der Schweiß auf seiner Stirn fühlte sich auf einmal trotz der Höllenhitze kalt ein. Nichts, was seine Stimmung bessern konnte, sondern die Folge des bedrohlich hohen Blutverlusts.

Kurz streiften die Gedanken an die vergangenen zwei Stunden sein Bewusstsein, und er verzog die Lippen, wobei er sich abermals fragte, wie sie auf ihn aufmerksam geworden waren. Ein verräterischer Lichtreflex auf dem Lauf des Karabiners? Ein Geräusch seines Braunen, dessen Lautstärke er unterschätzt hatte? Mit keiner Geste hatten die Outlaws verraten, wann sie seiner gewahr geworden waren. Und kaltblütig zugeschlagen, als er es am wenigsten erwartet hatte.

Seit etwas mehr als zwei Wochen und über hundert Meilen war der Mann der Brigade Sieben ihnen mit stoischer Geduld gefolgt. Einen großzügigen Abstand einhaltend und ohne den Versuch zu unternehmen, die Gesetzlosen in Gewahrsam zu nehmen. Nicht, weil Lassiter es nicht mit ihnen hätte aufnehmen können. Sondern weil seine Mission einem anderen Ziel diente.

Esteban Lobo und seine fünf Kumpane hatten nicht nur eine blutige Spur aus Raub und Mord durch den Norden Arizonas gezogen, sondern auch in mehreren Kaschemmen damit geprahlt, zur Bande des Roten Hugo zu gehören – und auf dem Weg in dessen legendären Schlupfwinkel zu sein, der sich irgendwo in den unwegsamen Bergen des Mogollon Rim befinden musste. Endlich bot sich die langersehnte Chance, das Rattennest der Bande aufzuspüren und auszuheben. Allerdings wäre dafür eine Kompanie Kavalleristen vonnöten; so glaubten zumindest Lassiters Auftraggeber und schärften ihm daher ein, sich auf die Aufgabe des Kundschafters zu beschränken und Meldung in Fort Kiowa zu machen, sobald er wusste, wohin er die Uniformierten zu führen hatte.

Grober Präriesand knirschte unter Stiefelsohlen und holte Lassiter in die Gegenwart zurück. Die Schritte waren so nahe, dass er glaubte, den Outlaw atmen zu hören. Er umklammerte den Griff des Remington mit verschwitzter Hand, legte den Finger an den Abzug.

Ein Schatten tauchte neben dem Grabstein auf, gegen den er lehnte, wuchs auf dem Weg zu einer Gestalt mit breitkrempigem Hut heran. Lassiter biss die Zähne zusammen und bereitete sich darauf vor, die letzten Reserven zu mobilisieren, um sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Wenigstens noch einen dieser Höllenhunde konnte und würde er mitnehmen auf die letzte Reise.

Der Schatten auf dem Weg zwischen den Gräbern verharrte für einen Moment. Lassiter hörte ein metallisches Klicken; ein Revolverhahn, der gespannt wurde. Er holte tief Luft, presste die linke Hand neben sich auf den knochentrockenen, harten Untergrund und hob den Lauf des Revolvers. Gerade wollte er sich emporschwingen, als er eine Bewegung im Augenwinkel wahrnahm – von der anderen Seite!

Ein Stiefel traf sein Handgelenk hart genug, um ihm das Schießeisen aus den Fingern zu prellen. Der Sechsschüsser segelte in sanftem Bogen durch die Luft und landete mit einem dumpfen Laut zwischen zwei verwitterten Steinkreuzen. Ächzend drehte er sich um und blickte hinauf in ein von gelblichen Zahnstummeln garniertes Grinsen. Danach registrierte er das schwarze, tödliche Auge des Revolvers, den der Bärtige mit dem zerrupften Sombrero, der ihn entwaffnet hatte, auf seine Stirn richtete.

»Reingefallen«, gluckste der Gesetzlose und zwinkerte ihm dabei spitzbübisch zu, wobei er trotz Lassiters offenkundiger Schwäche vorsichtshalber zwei Schritte zurückwich. Dabei wäre er um ein Haar rückwärts in ein eingestürztes Grab gefallen, aber der Teufel schien heute besonders gut auf seine Jünger achtzugeben.

»Giftig bis zum letzten Atemzug«, knurrte der Anführer hinter ihm, doch Lassiter war zu niedergeschlagen, um sich deshalb zu Esteban Lobo umzuwenden. »Das lobe ich mir. Du warst ein würdiger Gegner.«

»Muchas Gracias«, knurrte Lassiter. »Und ich stimme dir zu, Lobo. Dafür, dass ihr versucht habt, mich im Schlaf umzulegen, habe ich mich noch ganz gut geschlagen.«

»Du hast Caleb und Jaime umgelegt«, erwiderte Lobo, wobei sich seine Stimme eher nüchtern als bedauernd anhörte. »Außerdem hast du Gonzo richtig schlimm erwischt. Die Hand wird er wohl nicht mehr gebrauchen können... die sieht aus, als wäre eine Lokomotive darübergefahren.« Das Grinsen des Sombreromannes, der drei Schritte vor Lassiter stand, war bei Lobos Worten verschwunden und hatte einer hasserfüllten Miene Platz gemacht. Immer wieder war Lassiter fasziniert davon, wie sich die Gefühle eines Mexikaners binnen zweier Herzschläge komplett in ihr Gegenteil verkehren konnten.

»Nun ja, es ist ja nur die linke«, schwächte Lobo nach ein paar Sekunden ab. »Ich werde ihn davon überzeugen, ein guter Verlierer zu sein und sich nicht gebührend bei dir zu revanchieren. Aus Respekt. Dafür will ich nur eins wissen: Wer hat dich auf unsere Fährte gesetzt?«

Lassiter versuchte zu schlucken. Es gelang ihm nur mit Mühe, weil seine Kehle so trocken war wie der Staub, der von einem aufkommenden Wind durch die die Luft getragen wurde.

»Sag mir zuerst, was mich verraten hat, Lobo«, krächzte er. »Es muss eine wahre Dummheit gewesen sein, wenn Hornochsen wie ihr sie bemerkt haben.«

Der Hieb kam rasch und unvermittelt. Er traf Lassiter genau zwischen die Schulterblätter und ließ ihn erstickt aufstöhnen.

»Du sagst mir jetzt, wessen Knecht du bist«, zischte Lobo überraschend dicht an seinem linken Ohr. Gleichzeitig bohrte sich ein Revolverlauf in seinen Rücken. »Dann schenke ich dir die Gnade eines raschen Todes. Ansonsten haben wir Zeit, und Gonzo wird sich freuen, deinen Weg in die Hölle so lang werden zu lassen, dass du glaubst, du wärst bereits angekommen.«

Lassiter leckte sich über die trockenen Lippen. Der Bärtige mit dem Sombrero vor ihm wurde unscharf, dann klärte sich das Bild wieder. »Keine Ahnung, wovon du sprichst, Hombre«, stieß er mühsam hervor. »Ich war rein zufällig in der Gegend. Habe eine Meile entfernt mein Lager aufgeschlagen und wollte ein paar Stunden schlafen, als ihr aufgetaucht seid. Den Rest kennst du ja.«

»Coño!« Lobo stieß ihm sein Schießeisen in die Niere, und der plötzlich auflodernde Schmerz raubte Lassiter erst den Atem, dann fast das Bewusstsein. Er sackte zur Seite, spürte vage, wie er mit der Schläfe gegen einen Stein schlug. Unfähig, sich noch einmal aufzurichten, blieb er liegen, während die Stimmen der Banditen wie durch Wasser träge in sein schwindendes Bewusstsein sickerten.

»Legen wir ihn endlich um, Esteban«, krähte der Sombreroträger. »Vielleicht stimmt es ja, und er ist nur ein Vagabund.«

»Ein Vagabund?« Lobo schnaubte. »Der Bastard hat auf uns gelauert. Der hatte sein Schießeisen unter der Decke griffbereit! Caramba, er hat sich bewegt wie ein Berglöwe! Nein, verflucht, der war nicht zufällig hier, er hat uns verfolgt. Und es wäre besser, wir wüssten, warum.«

»Ist doch egal«, gab der andere zurück. »Schau, er ist ohnehin so gut wie tot. Verpassen wir ihm eine Kugel, und dann hauen wir ab. Bis zum Sonnenuntergang können wir in Orcuse sein.«

Lassiter spürte, wie sein Herz immer schneller schlug, doch merkwürdigerweise glaubte er, dass sein Atem nun langsamer die Luft ein- und ausließ. Die Schmerzen zogen sich aus seinem Bewusstsein zurück. Das Licht, das durch die geschlossenen Lider auf seine Netzhaut fiel, wurde allmählich schwächer, als wäre er rückwärts in einen tiefen Weiher gestürzt und würde tiefer sinken, während sich über ihm das glitzernde Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche entfernte.

»Also gut. Bringen wir es zu Ende...«, sagte Lobo.

Dann plötzlich Schüsse. Nicht einer, der Lassiter endgültig aus der Welt schleuderte. Sondern mehrere. Donnernd, widerhallend, von einem oder zwei erstickten Schreien beantwortet.

Und schließlich nur noch Schwärze.

Der Rappe, der die eigentümlich aussehende Kutsche zog, schien sein Ziel zu kennen und den Weg von allein zu finden, denn die junge Frau auf dem Kutschbock hatte die Zügel um die in der Halterung steckende Peitsche geschlungen und hielt stattdessen ein Saiteninstrument in den Händen, das von der Form einer Gitarre ähnlich, aber der zierlichen Figur seiner Besitzerin angemessen um einiges kleiner war als jene, die man sonst zu sehen bekam.

Die Frau schien sich entweder ganz auf ihr Zugtier zu verlassen oder nicht groß darum zu scheren, wohin es sie verschlug, denn sie zupfte die Saiten und sang gedankenverloren mit einer so schönen wie traurigen Stimme ihre Lieder, ohne dabei auch nur einmal über Rücken und Kopf des Pferdes zu schauen. Stattdessen blickten ihre bernsteinfarbenen Augen ein Stück weit über den Horizont, wobei ihr Geist wohl nicht die Bergkette im Nordosten wahrnahm, sondern in anderen Sphären unterwegs war.

Die Lady mit dem Sonnenblick,

stets lächelnd und mit viel Geschick

zog sie die Mädchen in den Bann,

als Mutter, Schwester, Freundin spann

sie ein Netz, 'ner Spinne gleich

rund um ihr finst'res Lügenreich...

Die melodische Stimme verstummte abrupt, als der Knall von Schüssen, von den Bergen widerhallend, über die weite Prärie rollte.

Der Rappe schnaubte, wurde langsamer und kam zum Stehen, während die junge Frau das Instrument hinter der Lehne im Fond der Kutsche ablegte und sich eine einzige, kleine Falte über der Nasenwurzel bildete. Sie zupfte sich den Kragen ihres Kleides zurecht und schaute nach Süden. Eine Minute verstrich, dann zwei, ohne dass sie oder das Pferd sich rührten.

Dann wieder Schüsse; diesmal zählte sie acht. Verschiedene Waffen, aber alles Revolver. Das mehrfache Echo deutete darauf hin, dass die Schießeisen ein paar Meilen südlich abgefeuert wurden. Nach kurzem Überlegen tippte sie auf den alten Friedhof an der Kapelle von San Jacinto.

Sie zuckte die Achseln. Das lag auf dem Weg. Konnte nicht schaden, mal nachzusehen, wer da auf wen ballerte.

»Bist du bereit, Sam?«, fragte sie, und der Rappe wackelte schnaubend mit dem Kopf, als hätte er die Frage verstanden.

Loreley lächelte, denn sie war fest überzeugt davon, dass dem so war. »Dann los, mein Freund«, rief sie, und das Pferd setzte sich in Bewegung.

Es dauerte etwas über eine halbe Stunde, bis sie eine Anhöhe erreichte, an der Loreley die Kutsche zum Stehen brachte. Währenddessen waren nur noch einmal zwei Schüsse gefallen, und das war bereits eine Weile her, weshalb ihre Zuversicht sank, an diesem Tag noch jemandem das Leben retten zu können – ungeachtet dessen, wie sehr sie sich das wünschte. Schließlich war da eine Schuld abzutragen, und sie hatte sich geschworen, bei sich bietenden Gelegenheiten alles zu tun, um die Balance wieder herzustellen.

Also war sie auch nicht bereit, vorschnell aufzugeben. Sie griff sich das Fernrohr und richtete sich vor dem Kutschbock auf, um hinab in die breite Senke zu spähen, in der sich der alte Friedhof befand, vor den Berghängen, deren Ausläufer sich wie Krallen riesiger Urzeitwesen in den Präriesand erstreckten.

Es dauerte nicht lang, bis sie die Situation erfasst hatte.

Ein totes Pferd lag eine viertel Meile vor dem Gräberfeld auf der Seite, vier Reiter hatten gerade vor dem Tier Halt gemacht. Loreley ließ das Fernglas wandern und entdeckte eine Gestalt, die sich – offenbar verletzt – zwischen den Reihen der Gräber hindurch in Richtung Kapelle schleppte.

Die vier Kerle glitten aus den Sätteln und zogen ihre Revolver. Die Gewehre ließen sie in ihren Scabbards, offenbar wussten sie, dass ihre Jagdbeute keine große Bedrohung mehr darstellte. Die Männer lachten und schienen entspannt zu sein, sich ihrer Sache sicher.

Loreley schwenkte das Fernrohr zurück zum Friedhof. Nach ein paar Augenblicken hatte sie den Flüchtigen wieder ausgemacht. Er hatte sich hinter einem großen Grabstein verschanzt, und sie sah, dass er einen langläufigen Revolver in der rechten Faust hielt.

Doch seine Bewegungen wirkten matt, und das mochte an dem dunklen Fleck liegen, der die obere Hälfte seines Hemds dunkel gefärbt hatte. Einer der vier hatte den Mann übel erwischt.

Er war völlig chancenlos gegen die vier finsteren Galgenvögel, die nun gelassen auf den Friedhof zumarschierten.

Loreley verzog die Lippen, dann ließ sie das Fernrohr sinken, legte es ab und sprang vom Kutschbock. Sie zog eine Stange, die an der Spitze eine V-förmige Gabel trug, aus einem der Seitenfächer des Fonds. Danach nahm sie ein langläufiges Gewehr zur Hand, das trotz seiner Größe offenbar kein Gewicht besaß, welches der zierlichen Frau Mühe bereitete. Denn sie trug die Waffe und die Eisenstange eilig und zielstrebig an der Kutsche und dem Pferd vorbei bis zur Hangkuppe, rammte die Stange in den grasbewachsenen Boden jenseits des Weges und verengte die Augen, ehe sie noch einmal hinab spähte zum Friedhof.

Eine leise Melodie summend, klappte Loreley das Magazin auf und prüfte die Ladung.

Acht Patronen. Mehr als genug.

Sie schob den Lauf der Waffe auf die V-förmige Stangenspitze, bevor sie die Schutzkappe vor dem Zielfernrohr abzog. Eine leichte Brise wehte ihr das Haar ins Gesicht, und sie strich es sich ungeduldig aus der Stirn.

Loreley bog den Rücken durch und versuchte, eine entspannte und gleichzeitig stabile Position einzunehmen. Sie schloss das linke Auge, legte den Finger an den Abzug, während Lauf und Zielfernrohr des Gewehrs langsam wanderten.

Die Kerle hatten den Verletzten fast schon erreicht. Sie durfte nicht mehr lange fackeln.

Lassiter glaubte weder an eine Hölle noch an das Himmelreich, doch als er nur halb bei Bewusstsein des engelsgleichen Gesichts gewahr wurde, das sich über ihn beugte, zog er kurz in Erwägung, diese Sache vielleicht noch einmal zu überdenken.

»Ich bin Loreley«, sagte die Schönheit und lächelte. »Meinen Sie, Sie können aufstehen?«

Ich kann es versuchen, wollte er antworten, aber es kamen nur ein paar unverständliche Laute über seine Lippen. Trotzdem sah er sie nicken, als hätte sie ihn verstanden.

»Okay. Ich werde gleich hier einen Druckverband anlegen, sonst sind Sie vielleicht tot, ehe wir die Kutsche erreichen. Aber danach werden Sie mir ein wenig helfen müssen, ja? Einen so großen Burschen wie Sie kann ich unmöglich bis zum Tor schleppen, und mit Sam und der Kutsche komme ich nicht bis hierher. Der Weg zwischen den Grabsteinen ist zu schmal.«

Sie gab ihm Wasser aus einer Feldflasche, und Lassiter trank durstig, ehe er sich etwas aufrichtete, damit Loreley ihm eine aufgerollte Decke unter den Nacken und die Schultern schieben konnte. Danach ging sie zielstrebig und geschickt vor; sie riss ihm das Hemd vom Oberkörper, wusch und desinfizierte die Schusswunde, wobei sie ihn darüber informierte, dass die Kugel seinen Oberkörper glatt durchschlagen hatte. Dann strich sie eine streng riechende hellgraue Salbe auf die Wundöffnungen und legte einen festen Verband an, was schmerzhaft war, ihn aber auch bei Bewusstsein hielt.

Ansonsten erlebte der Brigadeagent die Prozedur mehr oder weniger wie in einem Fiebertraum. Die Bilder seiner Retterin im blutroten Kleid, das mit seinen Bäuschen und Rüschen aussah, als wäre sie soeben von einer Varieté-Bühne herabgestiegen, kamen ihm an diesem Ort so bizarr und unwirklich vor, als hätte man ihm eine Droge verabreicht. Dazu passte, dass er seinen Sinnen nicht recht trauen mochte. Ihre Stimme hallte wie in einer Tropfsteinhöhle, ihr Gesicht verschwamm immer wieder, wurde unscharf und verblasste, wenn sie sich bewegte.

Und als er, fertig verbunden, auf die Füße kommen sollte, schwankte die Welt, als stünde er an Deck eines Bootes inmitten stürmischer See. Für eine Sekunde kippte der Horizont nach unten, doch dann hatte sie ihn fest im Griff und verhinderte den Sturz.