Walzer im Schloss - Olaf Hauke - E-Book

Walzer im Schloss E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Auf den ersten Blick wirkt der Mann, der Juliane in der Nacht im Wald anspricht, wie ein Abbild des berühmten blutdürstigen Graf, der in der Nacht umherstreicht, um seinen bedauernswerten Opfern das Blut aus den Adern zu saugen. Er entpuppt er sich zwar als echter, dazu noch äußerst attraktiver Graf, ist jedoch kein Fantasie-Monster, sondern das Opfer von ganz anderen Blutsaugern, die sehr real sind und eher sein Geld und seinen Besitz saugen wollen. Er bittet Juliane um Hilfe. Dabei hat sie schon genug Probleme mit ihren Eltern, für die sie nicht das Leben führt, das die beiden sich für sie erträumt haben. Zwar ist sie eine erfolgreiche Steuerberaterin, leitet ihre eigene Kanzlei. Doch in den Augen ihrer Eltern zählt das nicht. Vater hat sich immer eine Medizinerin als Tochter gewünscht, Mutter einen Stall voller Enkelkinder. Vater ist dabei, seine Praxis aufzugeben und stürzt sich auf die Rettung der sogenannten Mondnacht, einer alten Tradition in der Stadt, deren Ausrichtung ausgerechnet der Mann verhindern will, für den Julianes Herz zu schlagen beginnt und dessen Schloss im wahrsten Sinne des Wortes am Abgrund steht. Juliane stellt sich auf die Seite des Grafens und hat plötzlich nicht nur ihre Eltern, sondern eine ganze Stadt gegen sich. Erst allmählich begreift sie den Ernst der Lage, doch da ist es schon zu spät. Das Dorf hat sich aufgemacht, den Grafen zu jagen und zu fangen ...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Ende

Walzer im Schloss

Olaf Hauke

2020

Copyright 2020

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

T. 01575-8897019

Cover: Pixabay

[email protected]

Kapitel 1

Juliane gähnte herzhaft, streckte sich in ihrem Sitz aus und schob die Hände hinter den Kopf. Jetzt, da sie den Vorort-Zug erwischt hatte, würde ihr noch eine gute Stunde bleiben, bis sie endlich ihr Ziel erreicht hatte.

Langsam fiel die Spannung von ihr ab. Im ICE hatte es zunächst nicht so ausgesehen, als ob sie ihren Anschluss erreichen würde, doch mit einem kompromisslosen Spurt und unter Missachtung sämtlicher Höflichkeitsregeln älteren und jüngeren Menschen gegenüber hatte sie es tatsächlich geschafft.

Im letzten Moment war sie in den Zug Richtung Hofstedt gesprungen und hatte den lauten Warnruf des Schaffners wegen der sich schließenden Tür überhört. Schließlich hatte sie sich unter ihren drückenden Händen wieder geöffnet.

Im Zug selbst befanden sich kaum Gäste. Klar, dachte Juliane, die standen jetzt alle ratlos auf dem Bahnsteig, starrten auf den Fahrplan oder ihr Handy und mussten erfahren, dass der nächste Anschlusszug erst in zwei Stunden kommen würde.

Ja, gute Mädchen kamen an den Bahnsteig, böse an ihr Ziel.

Sie hatte sich eines der abgetrennten Abteile gesucht und hoffte, für die nächste Stunde ohne störende Begleitung zu verbringen. In der Zwischenzeit würde sie die Zeitung studieren und ihre Gedanken einfach treiben lassen. Diese Woche gehörte ihr, sie hatte sich fest vorgenommen, nicht an die Arbeit und das Büro zu denken. Sie würde weder Mails checken noch angeblich wichtige Anrufe entgegennehmen.

Cornelius, mit dem sie zusammen die Steuerberatungsgesellschaft betrieb, hatte alles im Griff, größere Probleme waren nicht zu erwarten. Als sie mit ihm über ihren Plan, ihre Eltern zu besuchen, gesprochen hatte, hatte er ihr aus vollem Herzen zugestimmt.

Sie wusste gar nicht mehr, wann sie sich zuletzt frei genommen hatte. Die vergangenen Jahre waren turbulent und anstrengend gewesen, aber auch erfolgreich.

Die Zahl ihrer Mandanten wuchs jeden Monat, stetig aber dafür in einem gesunden Maß. Möglicherweise würden sie schon bald einen weiteren Partner in ihre Gemeinschaft aufnehmen können.

Julianes Blick wanderte hinaus aus dem Fenster. Die Landschaft zog in behäbigem Tempo an ihr vorbei, erneut musste sie gähnen. Es war höchste Zeit gewesen, ein wenig Abstand zu bekommen, Cornelius hatte vollkommen Recht, auch wenn sie zunächst nicht auf ihn hatte hören wollen.

Mutter hatte sich jedenfalls über ihren Anruf und die Ankündigung ihres Besuches gefreut, bestimmt verbrachte sie seitdem geraume Zeit mit allen möglichen Vorbereitungen, von denen die meisten auf die Hüften wandern würden. Zumindest hoffte Juliane das. Während des Gespräches waren ihr immer wieder Zweifel gekommen, die sie jedoch in ihrer Vorfreude auf die Reise beiseite geschoben hatte.

Natürlich würden sich ihre Eltern nur nebenbei für die Kanzlei interessieren, es würde die üblichen Fragen hageln: Was war mit einem Mann, was war mit einem Kind, gab es jemanden und so weiter.

Und Vater würde wiederholt erklären, wie sehr er es bedauerte, dass sie nicht wie er Medizin studiert hatte. Und sie würde ihm mehr oder wenig geduldig antworten, dass sie kein Blut sehen könnte und sie die Vorstellung, in gewisse Körperregionen eines Menschen vorzudringen, zutiefst abschreckte. Er würde es nicht verstehen, einen brummigen Kommentar geben und sich hinter seiner Zeitung vergraben.

Sollte sie sich darüber ärgern, dass Mutter in ihr die verpasste Chance auf eine Mama und Vater in ihr die verpasste Chance auf eine Ärztin sahen? Sie war eine erfolgreiche, selbstständige Steuerberaterin mit einer schicken Eigentumswohnung im Herzen von Hamburg, hatte ein mehr als respektables Einkommen und besaß einen großen Freundeskreis erfolgreicher Menschen.

Doch irgendwie hatte die Vorstellung einer nahen Zukunft, wie sie sie sich gerade vorgestellt hatte, ihre Laune getrübt. Warum ließ sie es zu, dass in ihrem Kopf Bilder entstanden, die ihr die Stimmung verdarben? Es war nicht gesagt, dass es tatsächlich so kommen musste. Menschen änderten sich im Laufe der Jahre.

Ärgerlich über sich selbst wollte sie zu ihrer Zeitschrift greifen, als die Tür des Abteils aufgezogen wurde.

Sie hatte den kleinen Mann nicht mal bemerkt, doch nun steckte er den runden, kahlen Kopf ins Innere des Abteils.

„Ist hier noch frei?“ fragte er mit einem verschmitzten Blick auf die leeren Sessel. Juliane öffnete den Mund, doch sie hatte keine Zeit für die Vorbereitung auf eine passende und halbwegs glaubwürdige Ausrede gehabt.

Ehe sie etwas entgegnen konnte, hatte er einen altmodischen Koffer in den schmalen Platz zwischen die Sessel geschoben und dabei wenig Rücksicht auf Julianes ausgestreckte Beine genommen.

Juliane lag die Frage auf der Zunge, ob es im gesamten Zug keinen anderen Platz geben konnte, aber die Höflichkeit verhinderte, dass sie die Worte auch tatsächlich aussprach. So zog sie mit einem angedeuteten Augenrollen die Beine zur Seite und sah, wie der Mann sich in den mittleren der drei Sitze fallen ließ und einen langen Blick auf seinen Koffer warf.

Ich bin einfach zu gut für diese Welt, ging es Juliane durch den Kopf als sie sich erhob, ihre Hilfe anbot und den Koffer nach oben in das Gepäcknetz verfrachtete.

Er bedankte sich und nutzte prompt die Gelegenheit, ein Gespräch zu starten, auf das Juliane nicht die geringste Lust verspürte.

„Wohin fahren Sie?“ fragte er und schob seinen Kopf ein Stück nach vorne. Dabei sah er ein wenig so aus wie ein Vogel, der auf der Suche nach einem Wurm war, der unvorsichtigerweise seinen Kopf aus der Erde geschoben hatte.

„Nach Hofstedt“, erklärte Juliane, zog ihre Zeitschrift mit einer energischen Bewegung heraus und faltete mit übertriebener Sorgfalt die ersten beiden Seiten, um darauf hinzuweisen, dass ihr diese Lektüre besonders wichtig war.

Doch das schien den Mann nicht abzuschrecken.

„Ah, ich fahre noch eine ganze Weile weiter, ich besuche meinen Bruder! Es geht ihm nicht sonderlich gut. Äh, Hofstedt? Ja, das kenne ich, hübsche, kleine Stadt. Man kennt ja das Schloss!“

Juliane nickte. Ja, wenn man ein Bild von ihrer Heimatstadt vor Augen hatte, dann war es der stilisierte Waldhügel, auf dem oben das eigenwillig gebaute Schloss thronte, darunter lag zu seinen Füßen die Stadt. Das Motiv gab es auf Keksen, Tassen, Münzen und allerlei Nippes, den man überall im Ort kaufen konnte.

„Ist nicht auch in ein paar Tagen wieder das Fest?“

Der Mann hatte die Worte im Plauderton ausgesprochen, doch Juliane fuhr zusammen. Natürlich, wie hatte sie nur das Fest vergessen können! Sie war einfach zu lange fort, gefangen in ihrer Arbeit und in ihrem Leben in Hamburg.

Den Termin hatte sie ihrer Mutter nicht wegen des Festes vorgeschlagen, sondern wegen ihres eigenen Terminkalenders. Hatte sie dabei unbewusst an ihre Kindheit gedacht? An die Straßen, die in dieser Nacht von Fackeln beleuchtet wurden? An den Marsch durch den Wald zum Schloss?

Sie konnte sich noch gut an die Angst erinnern, die sie damals gehabt hatte. All die Schauergeschichten, die man überall den Kindern erzählte. Jeder hatte versucht, den anderen mit gruseligen Details zu überbieten.

Aber das war lange vorbei. Sie war erwachsen, sie war eine erfolgreiche Frau geworden. Gespenster und Vampire waren Märchen, die Erwachsene erfunden hatten.

Der Mann zwinkerte mit den trüben Augen, er musste nicht sonderlich gut sehen können, dachte Juliane. Sein Hemd hätte dringend ein Bügeleisen benötigt, ebenso die dunkle Stoffhose. Doch Juliane war der dicke Ring am kleinen Finger aufgefallen. Nein, ging es ihr durch den Kopf, der Stein war keine eingefärbte Glasscherbe, dafür hatte sie einen Blick.

„Ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte er mit seiner murmelnden, ziemlich gleichförmigen Stimme. „Oder glauben Sie am Ende an Vampire?“

Kapitel 2

Juliane musste auflachen. Indem der Mann es ausgesprochen hatte, war der düstere Zauber der Kindheit verflogen. Sie sah diese alberne Figur auf dem Marktplatz stehen, die Männer mit den dunklen Umhängen, die erst die Kinder erschreckten und ihnen danach Süßigkeiten schenkten.

„Nein, nein, natürlich nicht“, sagte sie mit einem Lachen in der Stimme und lehnte sich ein Stück zurück.

„Ich komme aus Hofstedt, ich kenne die jährliche Feier. Und ich kenne auch die Geschichte, aus der es vermutlich entstanden ist. Damit bin ich aufgewachsen. Obwohl“, sie überlegte einen Moment, „jeder erzählt wohl seine eigene Version dieses Märchens.“

„Na ja, inzwischen sind Sie vermutlich zu alt, um sich von den Schauergeschichten erschrecken zu lassen“, sagte der Herr und lächelte freundlich.

„Das ist über dreißig Jahre her, aber ich erinnere mich noch gut an die Gestalten, die damals nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen zogen. Und überall gab es diese eklige, rote Brause zu trinken. Wir haben uns später auch verkleidet, um die jüngeren Kinder zu erschrecken. Ich hatte so ein weißes Kleid, auf das ich rote Flecken verteilte. Und an den Hals machte ich mir zwei Punkte, die aussahen, als hätte mich dort ein Vampir angefallen. Und selbstverständlich hatte ich auch diese widerlichen Plastik-Zähne.“

Juliane lachte auf. Sie hatte viele Jahre nicht mehr an diese Kindheits-Erinnerungen gedacht, nun hatte sie das Gefühl, als würden die Bilder ihren Kopf geradezu überfluten.

„Dann wollen Sie noch einmal in Ihre Kindheit eintauchen?“ fragte der Mann mit einem milden Lächeln. Juliane bemerkte, dass seine Zähne unnatürlich weiß und regelmäßig in dem müden Gesicht mit den eingegrabenen Falten wirkten.

„Nein, um ehrlich zu sein wollte ich bloß meine Eltern besuchen. Es ist reiner Zufall, dass mein Besuch in diese Zeit gefallen ist. Oder ich habe den Termin unbewusst vorgeschlagen.“

Sie zuckte mit den Schultern. Je mehr sie über die Vergangenheit nachdachte, umso mehr drängten sich unangenehme, schwere Gefühle über diese Erinnerungen, obwohl sie sich nicht Bildern manifestierten.

„Wie lange waren Sie nicht mehr zuhause?“ fragte der Mann. Juliane fiel nicht auf, dass seine Stimme leiser geworden und in den Hintergrund getreten war.

„Viele Jahre“, sagte sie und versuchte, mit einem Achselzucken ihren Worten die Bitterkeit zu nehmen. „Ich hatte viel zu tun, habe meine Steuerkanzlei aufgebaut.“

„Ihre Eltern hatten andere Vorstellungen davon, was Sie aus Ihrem Leben machen wollten?“ fragte der Mann.

„Mein Vater hätte es gerne gesehen, wenn ich Medizin studiert und Ärztin geworden wäre. Aber das hat mich nie interessiert. Und als Hausfrau und Mutter eigne ich mich auch nur bedingt.“

Sie riss ihren Blick von der vorbeifliegenden Landschaft los, die sie in den letzten Minuten gar nicht wahrgenommen hatte. Erst jetzt begriff sie, was sie soeben einem völlig Fremden erzählt hatte.

„Oh, entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht langweilen“, sagte sie mit einem ausweichenden Lächeln und versuchte vergeblich, sich ihrer Zeitschrift zu widmen. Sie nahm nicht einmal die Überschrift des Artikels wahr.

„Aber Sie haben mich nicht gelangweilt, ganz im Gegenteil“, sagte der Mann. Er versuchte noch einige Male, das Gespräch wieder aufzunehmen, doch Juliane spürte einen Ärger über sich selbst, dass sie einem Fremden derart schnell so viel von sich erzählt hatte.

Sie lebte ruhig und eher zurückgezogen, ihr Freundeskreis war mehr oder weniger aus ihrem Beruf entstanden. Ja, sie hatte immer wieder ein schlechtes Gewissen gehabt, dass sie so lange nicht mehr ihre Eltern besucht hatte, das war ihr jetzt bewusst geworden. Aber musste sie das ausgerechnet vor einem Fremden ausbreiten?

„Ich wundere mich sowieso, dass der Zug so leer ist“, stellte der alte Mann fest, nachdem er eine Weile aus dem Fenster gesehen hatte.

Juliane, die erst jetzt merkte, dass sie sich kein Wort von dem gemerkt hatte, was sie soeben gelesen hatte, sah auf.

„Wie meinen Sie das? Auf der Strecke liegen doch nur kleinere Städte und Dörfer.“ Sie versuchte sich den Fahrplan in Erinnerung zu rufen. Die Namen waren ihr wohl vertraut, schließlich hatte sie in dieser Region einen Teil ihres Lebens verbracht.

„Nun ja, wenn man bedenkt, dass die Mondnacht schon in einigen Tagen stattfindet, hätte ich doch mit mehr Besuchern gerechnet.“

Juliane zuckte nur mit den Achseln. Zwar wusste sie, dass das Fest, die sogenannte Mondnacht, auch überregionale Besucher anlockte, aber sie ging davon aus, dass die meisten von ihnen mit dem Auto kamen und nicht schon Tage zuvor anreisten.

Als die Durchsage Hofstedt durch den Lautsprecher drang, fühlte sie eine gewisse Erleichterung. Endlich war die lange Fahrt zu Ende, dazu hatte sie sich von dem älteren Mann irgendwie beobachtet und ausgehorcht gefühlt.

Vermutlich war dieser Gedanke blanker Unsinn und der Mann war lediglich ein wenig einsam und auf der Suche nach einer Unterhaltung gewesen. Sie dagegen hatte sich nicht gerade als freundlicher Plauderer erwiesen. Doch das war sie noch nie gewesen.

Sie gab sich Mühe und verabschiedete sich mit einem breiten Lächeln, schob ihren Trolley nach draußen und stieg aus.

Nein, auch wenn man beharrlich das Gegenteil behaupten mochte, in der Heimat roch und schmeckte die Luft nicht anders als bei ihrer Abfahrt in Hamburg. Es war nur ein wenig wärmer und sonniger. Das Gefühl, zu Hause zu sein, sprang sie nicht gerade an.

Der Zug setzte sich hinter ihr wieder in Bewegung. Tatsächlich war sie der einzige Fahrgast gewesen, der an dieser Station den Zug verlassen hatte. Die letzte Bemerkung des Mannes kam ihr wieder in den Sinn. Vielleicht fand das Fest in diesem Jahr am Ende gar nicht statt?

Juliane konnte sich nicht erinnern, ob es in ihrer Jugend jemals ausgefallen war, aber für alles gab es ein erstes Mal. Sie sah sich um, entdeckte jedoch weder ein Plakat noch einen anderen Hinweis auf irgendeine Feier. Nun ja, ihre Eltern würden Licht in die Sache bringen, dessen war sie sich sicher.

Sie nahm ihren Trolley, ging über den Bahnsteig an dem längst geschlossenen Gebäude, das einmal der Bahnhof gewesen war, vorbei zu den Parkplätzen.

Die Sonne stand hoch am Himmel, es war kurz nach halb drei. Um diese Zeit standen hier nur zwei Taxis und einige Fahrzeuge von Pendlern, die diese erst am Abend wieder benutzen würden.

Hier waren Stellplätze für Autos noch nicht solch eine Mangelware wie in Hamburg. Juliane hatte zwar einen Führerschein, da sie in der Innenstadt wohnte und nur wenige Minuten zu ihrer Kanzlei hatte, hatte sie jedoch ihr Auto schon seit einigen Jahren abgeschafft.

Juliane blieb am Durchgang zum Parkplatz stehen, nahm die Wärme der Sonne in ihrem Gesicht auf. Wie viele Tage hatte sie während der letzten Sommer im Büro verbracht?

Das musste sich dringend ändern. Sie war stolz auf sich, dass sie auf der Hinfahrt nicht einmal auf ihr Mobiltelefon geschaut und ihr Laptop im Koffer gelassen hatte.

Vielleicht waren das gute Zeichen dafür, dass sie doch noch nicht arbeitssüchtig war, obwohl Cornelius gerne mal das Gegenteil behauptete.

Ihr Blick wanderte nach links, wo die Hauptstraße hinunter in die kleine Altstadt führte. Sie konnte einige Neubauten erblicken, vielleicht hatte man die alten Fassaden auch lediglich renoviert.

Sie zog ihre Zigaretten heraus und ließ das Feuerzeug aufschnappen. Ihre Eltern würden sowieso über das Rauchen meckern, Vater würde sich vermutlich zu einem seiner gefürchteten Vorträge über die Lunge herablassen. Die Welt störte sich an ihrem Laster, also konnte sie es nur in der Einsamkeit ausleben.

Vor einigen Wochen hatte Cornelius ihren Bildschirmschoner ausgetauscht. Für einige Tage war dort immer wieder das Bild einer jungen Frau mit einem Loch im Hals aufgetaucht, bis sie jemand aus dem Fachgeschäft an der Ecke davon befreit hatte.

Ja, dachte sie, eine einsame Insel hat nicht zu unterschätzende Vorteile. Trotzdem sog sie den Rauch tief ein und legte den Kopf in den Nacken, wo sich bereits Schweiß gesammelt hatte. Sie zog ihre Sonnenbrille hervor und drückte nach einigen weiteren Zügen die Kippe in einen der bereitstehenden Aschenbecher am Zaun des Durchgangs.

Erst jetzt bemerkte sie, dass die beiden Taxis inzwischen das Weite gesucht hatten. Sie ging samt Koffer hinüber zu den Standplätzen, doch es gab weder ein rufbereites Telefon noch eine Nummer. Hier in der Provinz tickten die Uhren in vielerlei Hinsicht anders.

Juliane überlegte einen Moment, dann begriff sie, dass das Warten hier ziemlich sinnlos wäre. Ihre Eltern wollte sie nicht behelligen, also griff sie entschlossen nach ihrem Trolley und marschierte, durch die Plastikräder ein lautes, scharrendes Geräusch produzierend, Richtung Altstadt. Von da aus würde sie sich rechts halten und hätte die Strecke innerhalb einer guten halben Stunde bewältigt.

Viele der kleinen Läden, die die Straße gesäumt hatten, waren inzwischen verschwunden. Es gab die gleichen Ketten wie man sie in jeder Stadt Deutschlands finden konnte. Nur ganz selten hatte ein einzelnes Geschäft überlebt, an das Juliane Erinnerungen knüpfte.

Beim Weg in die Stadt fiel ihr erneut auf, dass es weit und breit keine Werbung für das bevorstehende Fest in Hofstedt gab. Sie konnte sich noch gut an die großen Plakate erinnern, die man früher an den Straßenlaternen befestigt hatte. In jedem Jahr waren es abgewandelte Motive gewesen, doch jeweils mit gewissen Wiedererkennungs-Merkmalen.

Da war der runde gelbe Mond gewesen, dazu der stilisierte Schatten eines Vampirs, wie man ihn sich vorstellte. Und der Schriftzug Mondnacht war stets in leuchtend roten Lettern gehalten worden mit mehreren Blutstropfen an den Enden des Ms und des Ns. Natürlich gehörte auch das Schloss im Hintergrund dazu.

Sie konnte sich noch erinnern, dass es immer wieder Initiativen gegeben hatte, die angeblich für Kinder zu schaurigen Bilder zu entfernen. Vielleicht hatten sie inzwischen gesiegt, die Werbung war verboten worden.

Eigentlich schade, dachte Juliane während das Geräusch der rollenden Plastikrädern in ihren Ohren dröhnte, ich hätte mich auf einen Spaziergang über den kleinen Festplatz in der Altstadt gefreut. Irgendwann hätte es dann diesen verrückten Fackelzug durch den Wald gegeben, junge Burschen hätten mit alten Heugabeln und Holzstöcken wilde Trommel-Orgien veranstaltet.

Schließlich wäre man über den breit ausgebauten Wanderweg an das Schloss gekommen, wo es diese fiesen, meist stark alkoholischen, Getränke gegeben hätte – ein Stück Jugenderinnerung, das nun vermutlich nie wiederkehren würde.

Die Hitze des frühen Nachmittags machte sich bemerkbar, sie überlegte, ob es nicht eine gute Idee wäre, sich für einen Kaffee irgendwo in der Innenstadt ein nettes Plätzchen zu suchen.

Bei dieser Gelegenheit konnte sie auch erkunden, ob es die alten Kneipen und Cafés noch gab – obwohl sie sie in ihrer Jugend eher selten aufgesucht hatte, die Zahl ihrer Freunde hatte sich damals in überschaubaren Grenzen gehalten.

Für einen Moment machte sich eine schwere Bitterkeit in ihrer Brust breit. Die Straßen schienen ein Stück enger gegeneinander zu rücken, die Sonne verdüsterte sich. Langsam kroch die Unke der Wahrheit zurück in die Bilder ihrer Jugend.

Juliane atmete tief durch und entdeckte eine Eisdiele am Rande der Fußgängerzone, an die sie sich nicht erinnern konnte. Um diese Zeit waren nur wenige der kleinen, runden Tische belegt. Juliane enterte einen Tisch neben dem Eingang im Schatten und bestellte einen Cappuccino.

Auf der Speisekarte standen lediglich verschiedene Eisbecher, Juliane merkte jedoch, dass sie keine Lust auf eine Überdosis Zucker verspürte. Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und blinzelte die Serviererin an, die ihr die Tasse auf den Tisch stellte.

„Sagen Sie, was ist eigentlich aus der Mondnacht geworden? Sie müsste doch in diesen Tagen stattfinden?“

Das Gesicht der jungen Frau verzog sich in einem Anflug von Ärger.

„Sie sind wohl nicht von hier und wissen nichts von dem Theater?“

Sie sah Juliane fast wütend an, als wäre sie schuld an dem, was auch immer vorgefallen war.

Juliane zuckte mit den Schultern. Sie war überrascht, dass die Frau auf ihre eher banal gemeinte Frage so massiv reagierte.

„Ich bin hier geboren, aber ich lebe seit vielen Jahren in Hamburg“, erklärte sie, um die Wogen zu glätten.

Die Züge der jungen Frau entspannten sich ein wenig. Sie musste Mitte Zwanzig sein, hatte ein hübsches, etwas rundes Gesicht und dunkle Locken, die ihr über die Schulter hingen. Sie ließ das braune Tablett sinken und verzog noch einmal die vollen Lippen.

„Es ist der verdammte Graf, er ist schuld an allem“, stieß sie wütend hervor.

Kapitel 3

„Der verdammte Graf?“ echote Juliane und zog ratlos an ihrer Zigarette.

Einen Tisch weiter saß ein jüngeres Pärchen, das bisher ausschließlich mit sich selbst beschäftigt war. Doch irgendwie schien die Bemerkung der Serviererin etwas in ihnen ausgelöst zu haben, denn sie ließen die fest umklammerten Hände des Partners los und drehten sich zu Juliane um.

„Im letzten Jahr ist der alte Graf gestorben“, sagte der junge Mann, ein hagerer Typ mit einem stacheligen Bart am Kinn und einer Tätowierung auf dem Handrücken.

„Und der neue Graf, der den Schuppen geerbt hat, hat erklärt, dass der Festzug nicht durch den Wald ziehen kann, angeblich wegen der Brandgefahr.“

Juliane dachte kurz an die offenen Feuer. Der Gedanke an einen möglichen Waldbrand war ihr noch nie gekommen, war aber irgendwie nicht völlig von der Hand zu weisen. Warum hatte in all den Jahren niemand diese Überlegung angestellt? Vermutlich hatten mit einem neuen Grafen auch neue Gedanken Einzug gehalten.

„So ein Blödsinn, es ist nie etwas passiert“, schnappte die Begleitung des Pickligen, die die Gedanken von Juliane anscheinend erraten hatte. Zwei weitere junge Männer kamen aus dem Café und blieben bei dem Pärchen stehen. Allmählich rottete man sich gegen einen imaginären Feind zusammen. Juliane merkte, wie sie die Situation als zunehmend unangenehm empfand.

Sie beeilte sich zu versichern, dass sie viel zu wenig Ahnung hätte, um die Situation beurteilen zu können. Die Tatsache, dass sie einen Waldbrand für gar nicht unwahrscheinlich hielt, behielt sie lieber für sich.

„Aber man könnte doch einfach ein Fest in der Innenstadt veranstalten und auf den Fackelzug verzichten“, wagte sie zu einzuwerfen. Juliane hatte das Gefühl, als hätte sie mit einem Ast in einen Bienenkorb gestochen.

In den folgenden Minuten wurde sie von allen Seiten mit lautstark vorgetragenen, anscheinend in den letzten Monaten oft wiederholten, Argumenten bombardiert. Im Wesentlichen basierten sie auf Tradition und der Tatsache, dass der Wald in den letzten dreißig Jahren nicht abgebrannt wäre.

Juliane fand zwar, dass die Argumente nicht sonderlich schlüssig, sondern vor allem laut waren, nickte jedoch immer wieder und verspürte nicht die geringste Lust auf eine Diskussion über ein Thema, das ihr im Grunde völlig einerlei war.

Schließlich zahlte sie und war froh, als sie sich mit ihrem Koffer auf den Weg zu ihren Eltern machen konnte.

Möglicherweise waren viele Bewohner über das Verhalten des jungen Grafen derart verärgert, dass sie in den nächsten Tagen oder Wochen tatsächlich einen Marsch Richtung Schloss antreten würden.

Die jungen Leute hatten nicht unbedingt den Eindruck gemacht, als wären sie vernünftigen Argumenten zugänglich.

Auf dem folgenden Weg verloren sich die Gedanken über die abgesagte Feier und den möglichen Ärger, der dadurch entstanden war. Juliane war zu sehr damit beschäftigt, Erinnerungen zu verarbeiten, die die Gebäude und Straßen in ihrem Kopf wachriefen.

Viele verschüttete Bilder kamen in ihr hoch. Sie hatte etliche dieser Bilder verdrängt, schmerzhafte Erinnerungen, vergangene Kränkungen.

In den letzten Jahren hatte sie sich eine Existenz in jeder Hinsicht aufgebaut, berufliche Anerkennung, der private Bekanntschaften folgten. Aber als junge Frau war ihr Leben ein ganz anderes gewesen.

Vor ihrem geistigen Auge erschien die überschlanke, hochgewachsene Frau mit den hellblonden, kurzen Haaren, die sie so sehr gehasst hatte. Ihre Haut war immer viel zu blass gewesen. Auch jetzt hatte sie auf die Arme und im Gesicht einen starken Sonnenblocker aufgetragen.

Sie hatten über die magere Figur gelacht, über die starke Brille, die sie schon als Kind hatte tragen müssen. Heute trug sie längst Kontaktlinsen und die Sehstärke ihrer Augen waren mit Lasern verbessert worden. Sie war immer noch schlank, würde wohl nie in ihrem Leben wirklich zunehmen, egal was und wie viel sie aß. Heut war es Mode, so schlank wie möglich zu sein, heute war es ihr einerlei.

Längst hatte sie die Altstadt hinter sich gelassen, steuerte auf die Seitenstraße zu, an deren oberem Ende das Haus ihrer Eltern lag. In der kleinen Innenstadt hatte sich viel verändert, doch hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein.

Das gelbliche Haus mit dem flachen Dach und dem kleinen, blauen Teich an der Ecke gab es noch immer. Auch die breite Mauer, die das Grundstück zu der Straße hin abgrenzte, sah noch so aus wie vor zwanzig Jahren.

Zum ersten Mal fing Juliane an wirklich zu rechnen, wie lange sie nicht mehr hier entlang gelaufen war. War es fünf Jahre her? War es länger?

Sie konnte sich nur mit Hilfe des Standes ihrer damaligen beruflichen Entwicklung ungefähr orientieren.

„Juliane?“

Das große, weiße Auto stoppte neben ihr, die Seitenscheibe fuhr nach unten, Vater sah sie unvermittelt mit großen Augen an.

Juliane blieb stehen und blickte verwirrt in das Fahrzeug zurück, brauchte einen Moment, ehe sie begriff, was gerade geschehen war. Zu sehr hatten ihre Gedanken an der Vergangenheit geklebt und mussten sich erst wieder lösen, um in die Gegenwart zu finden.

„Du hast einen neuen Wagen“, sagte sie noch ein wenig geistesabwesend, nachdem ihr Vater ausgestiegen und um das schwere Auto herumgelaufen war. Sie war sich erst anschließend bewusst, was es für eine dämliche Begrüßung gewesen war.

„Ja, hat Mutter dir das nicht erzählt?“

Er nahm einfach ihren Koffer und wuchtete ihn wie selbstverständlich in den Fond des Wagens, obwohl es nur noch wenige Meter bis zum Haus waren.

Vater telefonierte nur höchst selten mit ihr, sie gratulierte ihm zum Geburtstag, tauschte anschließend einige Floskeln aus, das war es.

Vor zwei oder drei Jahren waren ihre Eltern zwischen den Jahren und über Sylvester in Hamburg gewesen. Juliane dachte noch heute mit einem gewissen Schaudern an diese Tage zurück.

„Vielleicht, ja, kann sein“, sagte Juliane und kletterte auf den Beifahrersitz, der für ihre langen Beine viel zu weit nach vorne geschoben war.

„Dann bist du also die Überraschung, von der Mutter gesprochen hatte“, stellte Vater fest und startete den Motor. In dem gleichen Tonfall hätte er auch über Zahnschmerzen klagen können.

Langsam fuhr er den Hügel hinauf.

„Du hast immer noch kein Auto?“

„Nein“, antwortete Juliane gedehnt und sah nach draußen. Die Häuser sahen nicht anders aus als bei ihrem letzten Besuch, vielleicht ein wenig älter und verstaubter, träger im Sonnenlicht des Nachmittags.

„Aber deine, äh, Kanzlei läuft doch, oder?“

Juliane zog die Augenbrauen hoch. Es würden lange und unerträgliche Tage werden, wenn sie sich schon jetzt mit ihrem Vater stritt.

„Meine Steuerberatung läuft ausgezeichnet. Aber in der Hamburger Innenstadt fährt niemand mit dem eigenen Wagen. Ich habe ein Stadtteil-Auto!“

„Also ich würde mein Auto nie mit jemandem teilen“, kam die prompte Antwort.

Juliane verkniff sich eine Retoure, denn in diesem Moment hatten sie bereits ihr Elternhaus erreicht. Vater fuhr den übertrieben schweren SUV in die Einfahrt und bremste.

„Wenn du Probleme hast, musst du es mir nur offen sagen“, stellte er fest und sah dabei nicht wie jemand aus, dem man seine Sorgen anvertrauen konnte, ohne einen entsprechenden Vortrag über das eigene Fehlverhalten zu bekommen.

Er war älter geworden, die Haare waren fast vollständig vom Schädel verschwunden. Dafür waren die Augenbrauen buschiger geworden. Sein Kinn wirkte schwerer, die Lippen schmaler, die straffe Haltung sank langsam in sich zusammen.

„Nein, Vater, es ist alles in Ordnung – und außerdem freue ich mich, wieder zu Hause zu sein.“

Vater nickte, seine Lippen verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns. Das war das höchste Zugeständnis, das seine einzige Tochter bekam.

Juliane kletterte aus dem Wagen und lud, ehe Vater es für sie machen konnte, den Koffer aus. Im gleichen Moment sah sie Mutter, die aus dem Haus gelaufen kam. Ihre grauen Haare flatterten aufgeregt um ihren schmalen, länglichen Kopf.

Sie stürzte auf Juliane zu und nahm sie mit einem kräftigen Druck in die Arme.

Wenigstens einer, der sich freut, dass ich da bin, ging es Juliane durch den Kopf. Sie spürte einen Kloß im Hals bei diesem Gedanken.

Kapitel 4

„Und was gibt es bei euch Neues?“ fragte Juliane und versuchte, dabei möglichst locker und aufgeräumt zu klingen.

Mutter schien die Frage als eine Art Startsignal zu empfinden, denn sie sprang vom Tisch auf und begann mit vorgeschobener Eile, das Geschirr abzuräumen, obwohl es dafür keinen Anlass gab, denn weder Juliane noch ihre Eltern hatten etwas verabredet.

Während des Essens hatte Mutter die ganze Zeit über in verschiedenen Variationen erklärt, wie tragisch es war, dass Juliane ihre Heimatstadt verlassen und nach Hamburg gegangen war. Immer wieder streute sie kleine, meist ziemlich indiskrete Fragen nach Julianes Liebesleben dazwischen. Sie wechselten sich ab mit der Feststellung, wie süß die Kinder der Nachbarin geraten waren und was für ein Glück es war, sie beim Spielen mit der zufriedenen Mutter beobachten zu können.

Da Juliane solche oder ähnliche Bemerkungen vorausgesehen hatte, ging sie einfach nicht näher darauf ein und antwortete mit irgendwelchen Allgemeinplätzen. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Natürlich kannte sie die Nachbarin von früher, aber sie war ihr in den letzten Jahren egal gewesen.

„Ich habe beschlossen, mich langsam aus der Praxis zurückzuziehen“, sagte Vater und blickte dabei über die Terrasse in den gepflegten Garten.

Die roten Blumen im Beet sahen aus wie Soldaten, die bereit waren, für ihren König in die Schlacht zu ziehen. Der Rasen wirkte wie ein dunkelgrüner Teppich. Bis vor ein paar Minuten hatte ein künstlicher Regen ihn mit Wasser versorgt.

Vater wirkte bei diesen Worten nicht sonderlich zufrieden, obwohl er sich alle Mühe gab, den gegenteiligen Anschein zu erwecken.

„Und wie geht es dann weiter?“ fragte Juliane.

„Ach, ich werde meinen Ruhestand genießen. Ich habe fast vierzig Jahre gearbeitet, sollen sich andere abschuften. Ich habe meinen Garten und den Sportverein.“

Der Garten machte nicht den Eindruck, als ob er zwei weitere Hände benötigte, aber das sprach Juliane lieber nicht aus.

„Und wer übernimmt die Praxis?“

„Frau Doktor Schuster wird meinen Teil mit übernehmen. Es wird zwar eine Menge Arbeit für sie, aber vor ihrem Einstieg habe ich auch alle Patienten alleine gewuppt. Und ihre Kinder sind inzwischen größer. Sie hat ja ziemlich früh angefangen, nun kann sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren.“

Er sah Juliane mit einem undurchdringlichen Blick an. Ja, schien er sagen zu wollen, wenn du wirklich mal ein Kind bekommen solltest, geht deine Kanzlei, die eigentlich niemand braucht, den Bach herunter. Aber das ist deine eigene Schuld.

Juliane hatte sich geschworen, nicht schon nach wenigen Stunden einen Streit vom Zaun zu brechen. Warum nur hatte sie beständig den Eindruck, als ob ihr Vater es geradezu darauf anlegte?

„Na, du wirst ihr alles in einem tadellosen Zustand hinterlassen, da bin ich absolut sicher“, stellte Juliane betont lässig fest und streckte die langen Beine aus.

Es entstand ein Moment des Schweigens, den sie als eher belastend und unangenehm empfand.

---ENDE DER LESEPROBE---