Alle Zeit dieser Welt - Olaf Hauke - E-Book

Alle Zeit dieser Welt E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Für Friedrich gibt es nur noch ein Ziel in seinem Leben: Er will mit seiner Band das International-Song-Festival gewinnen. Sein Vater, der berühmte Komponist Achim Gassmann, hat dies immer wieder versucht doch nie geschafft. Friedrich weiß, dass er nicht mehr viel Zeit hat, weil ein dunkles Geheimnis sein Leben bedroht. Doch dann stürzt Jasmin, die Sängerin der Band, im Drogenrausch aus dem Fenster – das Ende der Band scheint besiegelt. Geraldine ist als Model gescheitert, sie will ihr Leben neu ordnen und all dem entfliehen, was sie kaputt gemacht hat. In einer Nacht prallen die beiden Leben aufeinander. Das Schicksal stellt die Weichen ganz anders, als es die beiden geplant haben.

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Inhaltsverzeichnis

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Ende

Alle Zeit dieser Welt

Olaf Hauke

2016

Copyright 2016 by Olaf Hauke

Olaf Hauke

Stettiner Straße 5

37083 Göttingen

T. 01575-8897019

[email protected]

Cover Shutterstock

1

„Willst du denn gar nicht nach unten zu den anderen kommen und ein bisschen mitfeiern?“ Emire hatte schon ein bisschen Schlagseite, seine Zunge war schwer und fand nur unter Schwierigkeiten die richtigen Betonungen für die Worte. Er wankte in das Hotelzimmer, nachdem Friedrich ihm den Weg freigegeben hatte und sah sich verwundert um.

„Nanu, was issn’ das für Musik?“ Er stellte die halbvolle Champagner-Flasche wuchtig auf den kleinen Glastisch neben der Sitzgarnitur. Es klirrte, doch die Platte überlebte den Aufprall ohne Sprung.

Friedrich fuhr sich durch die Haare. „Das ist Brahms, das zweite Klavierkonzert.“

Emires Gesicht verzog sich. „Das ist doch Klassik, oder?“ Er schwankte leicht und hielt sich an einem der Polstersessel fest. Dann wischte er sich über die Augen, die schwere Schicht Puder verschmierte. Er trug noch immer sein Bühnen-Outfit: die enge, schwarze Hose, das Shirt mit dem großen Aufdruck einer rauchenden Kate-Moss, dazu diese albernen, silbernen Stiefel im gleichen Farbton. Doch in diese modischen Fragen hatte Friedrich sich noch nie eingemischt.

„Das ist Johannes Brahms, er hat das Konzert Ende des neunzehnten Jahrhunderts komponiert.“ Friedrich blinzelte gegen das Deckenlicht und bemerkte, wie der Schweiß seine Brillengläser verschmiert hatte. Im Gegensatz zu Emire hatte er sich bereits ausgezogen, trug neben der zu engen Unterwäsche nur den Morgenmantel, den das Hotel zur Verfügung gestellt hatte.

„Wusste gar nicht, dass du so was hörst.“ Emire schüttelte leicht den Kopf, ganz so, als wolle er den Gedanken los werden. Seine vollen Lippen kräuselten sich. „Egal, Alter, du musst nach unten kommen, vor allem die Reporter stellen eine Menge Fragen.“

„Es wird Jasmin ein Leichtes sein, sie zu beantworten. Und wenn nicht, zeigt sie einfach ihre Brüste, das kann sie doch sowieso am besten.“ Friedrich verzog das Gesicht. Eigentlich war es gemein, das zu sagen, denn Jasmin war eine ausgezeichnete Performerin, er wusste das genau. Es hatte seinen Grund, dass sie vor den anderen stand und mit ihren kreisenden Hüften, dem lässigen Lächeln und ihrem Augenzwinkern die Leute mitriss. Die Männer sahen in ihr die Frau, die sie mit viel Glück bekommen würden, die Frauen sahen in ihr keine Konkurrenz, sondern eine mögliche attraktive Freundin.

„Hör auf sie zu dissen“, grollte Emire und überlegte einen Moment, was ihm sichtbar schwerfiel. „Du bist der Mann, der den Song geschrieben hat, mit dem wir ganz oben landen werden.“ Er machte eine Bewegung mit der flachen Hand als würde ein Flugzeug abheben. Friedrich merkte, dass auch ihm die abfällige Bemerkung leid tat.

Friedrich ging an die Mini-Bar, die neben dem großen Flachbild-Fernseher stand, öffnete sie und nahm sich eine Cola heraus. Er ließ den Verschluss aufschnappen und nahm einen tiefen Schluck. „Weißt du, dass ich im letzten Jahr fast zwanzig Kilo zugenommen habe?“ fragte er und schmeckte das süße Gebräu nach, dessen Reste sich noch in seinem Mund befanden.

„Die Leute lieben dich, die Leute lieben uns – das ist das Wichtigste!“ Emire griff wieder zu der Champagner-Flasche und nahm einen Schluck. Einige Tropfen liefen an seinen Mundwinkeln herab, er wischte sie achtlos mit dem Handrücken weg und verschmierte dadurch noch mehr von seinem Make-up. Er war ein hübscher junger Mann, sechsundzwanzig, schlank, sehr sportlich, mit Tätowierungen über den Arm-Muskeln und am Hals. Er strahlte diese Mischung aus Exotik und Energie aus. Sein Vater kam aus Gambia, die Mutter war Deutsche. Emire war verheiratet, hatte eine süße, kleine Tochter, doch beide waren für die Öffentlichkeit tabu.

„Ich habe so viel zugenommen, weil mein Vater starb!“ Friedrich hob die kleine, bauchige Flasche und leerte den Rest des zuckerhaltigen Getränkes in einem Schluck.

„Ich weiß, es war ein trauriger Tag.“ Emire blinzelte einige Male. Irgendwie wollten die düsteren Gedanken an den Tod nicht in sein vom Erfolg vernebeltes Gehirn eindringen.

Friedrich lachte leise und ging ans Fenster. Er ließ die Vorhänge zu, so konnte er die Lichter sehen, aber niemand sah ihn hinter der Gardine. Tatsächlich hatten sie die große Leinwand, auf der das Spektakel übertragen worden war, noch nicht abgebaut. Videos flackerten bunt und schnell geschnitten, den Ton dazu konnte man nur erahnen, dazu waren die Fenster viel zu gut isoliert. Doch schließlich war das Hotel auch bundesweit eines der besten Fünf, zumindest hatte das auf dem Werbeflyer in der Lobby gestanden, den er aus Langeweile beim Einchecken überflogen hatte.

„Mein Vater hat mich achtundzwanzig Jahre gequält, geprügelt, gezüchtet, zu der Maschine gemacht, die ich geworden bin. Es gab nur ein Ziel: Nach oben, immer an die Spitze.“

Emire schien nur den letzten Teil von Friedrichs Worten mitbekommen zu haben. „Und das schaffen wir jetzt: Du hast den Song geschrieben, der Deutschland auf dem International-Song-Festival vertreten wird. Und schon jetzt ist man sich einig, dass er das Zeug zum Siegertitel hat. Wir vier werden berühmt werden, zu Stars, denen die Welt zu Füßen liegt.“

Friedrich drehte sich um und sah Emire an. „Ja, nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass du vor einem Jahr noch mit deiner Familie in dieser Sozialwohnung von Hartz Vier gelebt habt, oder? Na ja, berühmt wird deine Frau nicht werden, aber sie bekommt vermutlich genug Geld für sich und ihre Tochter.“

Emire zuckte hoch. „Ich muss Clara anrufen“, stotterte er. „Ich muss sofort Clara anrufen!“ Für einen Moment schien er zu begreifen, in welcher Kunstwelt er sich bewegte. Der Atem der Realität hatte ihn gestreift.

Er machte auf dem Absatz kehrt und war in der nächsten Sekunde aus dem exklusiven Hotelzimmer verschwunden. Friedrich stellte die leere Flasche ordentlich in den kleinen Kühlschrank zurück. Natürlich hatte er es geschafft. Er würde das erreichen, was sein Vater nie hatte leisten können.

Er würde den Wettbewerb gewinnen. Und dann würde er mit diesem Preis zum Grab seines Vaters gehen und ihn vor ihm hochhalten. Vater würde weder spotten noch ihn schlagen können. Es gab keinen Raum mehr, den er verschließen konnte, keinen Gürtel mehr, der die Haut auf seinem Rücken aufriss.

Und anschließend würde ihn das alles nichts mehr angehen. Er würde sich völlig zurückziehen, verkriechen, mit knapp dreißig nur noch die Dinge machen, auf die er Lust hatte. Der Rest ging ihn dann nichts mehr an. Die Zeit nach dem Sieg würde ohnehin knapp genug bemessen sein. Doch erstaunlicherweise machte ihm diese Überlegung keine Angst mehr.

Friedrich drehte die Musik wieder etwas lauter, setzte sich auf das Sofa und lauschte den Klängen, den herrlichen Harmonien, die das lächerlich erscheinen ließen, was sie noch zwei Stunden zuvor auf der Bühne präsentiert hatten.

2

„Siehst du, das Mädchen hat Erfolg, die ist ein Star. Aber du, du bist ein Nichts! Nur weil du ein paar Mal im Fernsehen zu sehen warst und über irgendeinen Laufsteg gewackelt bist, heißt das noch lange nicht, dass du jemand bist. Wie viel hast du denn verdient im letzten halben Jahr?“

Jedes Wort, das ihre Mutter ausspuckte, traf Geraldine ins Herz. Sie sprang vom Sofa auf. „Es war ein großer Fehler, dass ich zu dir zurückgekommen bin“, stieß sie hervor. Ihre langen, dunklen Haare fielen in ihr schmales Gesicht. Sie straffte ihre schlanke, große Gestalt.

„Ein Fehler? Es war deine einzige Möglichkeit, weil du pleite warst! Die Wohnung und das Auto gehörten dir doch gar nicht, sondern diesem Sender. Du hast damals bei dieser Show mitgemacht, um groß herauszukommen. Schön, und dann bist du Zweite geworden, das war ein toller Erfolg. Aber die Krone hat die Andere bekommen. Du durftest in dieser Fernseh-Show mitmachen, die schon nach zwei Folgen abgesetzt wurde. Dann hat man dich für diese Creme engagiert, aber da war auch nach ein paar Monaten Schluss. Man hat dir Chancen gegeben, aber du hast sie nicht genutzt.“

Mutter nickte, stemmte sich schwerfällig aus dem Sessel und schlurfte aus dem Wohnzimmer. Geraldine blieb noch einen Augenblick stehen, dann sank sie zurück auf das Sofa.

Das Furchtbare war, dass ihre Mutter mit jedem Wort, das sie gesagt hatte, recht hatte. Geraldine hatte ihren Job aufgegeben, den sie ohnehin gehasst hatte. Und sie hatte eine Welt kennengelernt, die sie geblendet hatte: Kameras, aufgeregte Anspannung, Drehtage, den Wettbewerb. Und noch mehr hatten sie die Leute beeindruckt, die wichtigen, reichen Menschen, die sich mit ihr hatten fotografieren lassen. Doch nach dem Bild waren sie so schnell verschwunden wie sie gekommen waren. Niemand war bei ihr geblieben. Hübsche junge Frauen gab es schließlich genug.

Ihr Manager hatte ihr irgendwann eine Rechnung geschickt, die sie nicht verstanden hatte. Die hatte ihr dann ein Bekannter erklärt. Aus den ganzen Monaten, die sie im Scheinwerferlicht gelebt hatte, waren genau achthundertfünfzehn Euro übriggeblieben. Das war weniger als sie in der Boutique in einem Monat verdient hatte.

Alle hatten sie ausgelacht. Ja, waren sie sich alle einig gewesen, so war Geraldine, die schon in der Sendung den Ruf der Zicke, der Schlange bekommen hatte. Sie hatte es verdient: Hoch zu wollen, aber dann tief zu fallen, das gefiel den Menschen da draußen, dem Internet, den Bekannten, der eigenen Mutter.

Sie hatte sogar ihre Webseite schließen müssen, da dort nur noch hämische, beleidigende Kommentare abgegeben wurden. Natürlich war nicht mehr an Aufträge zu denken. Wer engagierte schon die Schlange, den gefallenen Engel?

Sie sah auf den Bildschirm, dessen Ton abgestellt war. Jasmin winkte in die Menge. Sie sah strahlend schön aus: Schlank, schulterlange, blonde Haare, dunkelblaue, schimmernde Augen, ein trainierter Körper, jede Zelle angefüllt mit dem Selbstbewusstsein der Siegerin.

Geraldine hatte auch immer gerne gesungen. Als sie damals in der Show den zweiten Platz gewonnen hatte, hatte es sogar Angebote für die Produktion eines Songs gegeben, eine Probeaufnahme in einem richtigen Studio. Doch daran dachte jetzt niemand mehr.

Sie griff zur Fernbedienung. Jemand hielt Jasmin, der Sängerin von Soul on Fire ein Mikro unter die Nase. „Es ist unglaublich“, stammelte die hübsche Blondine hinein, „der absolute Wahnsinn! Nie im Leben hätten wir damit gerechnet, Deutschland vertreten zu dürfen. Aber wir werden kämpfen, um einen guten Platz zu bekommen.“ Sie blickte direkt in die Kamera, in ihren Augen standen ganz kleine, fein akzentuierte Tränen. „Wir kämpfen bis zum Letzten. Und wir brauchen euch, euch da draußen!“ Ein Zeigefinger mit perfekten French-Nails wies auf jeden einzelnen Zuschauer.

Im Hintergrund wurden deutsche Fahnen geschwenkt, lachende Menschen tanzten durch das Bild. Die Reporterin lachte ebenfalls, strahlte in die Kamera und tat so, als würde sie von den Menschen überrascht sein. Sie schwankte, als ob sie stolpern würde, auch das Bild wackelte.

Geraldine schaltete den Apparat ab und hörte die Spülung des Klos. Kurz darauf kam ihre Mutter ins Wohnzimmer zurück. „Warum hast du ausgeschaltet?“ grollte sie sofort und schnappte sich die Fernbedienung. Doch inzwischen war die Übertragung des Vorentscheides für den internationalen Wettbewerb beendet, die Nachrichten fingen an und zeigten irgendeinen Krieg zwischen dunkelhäutigen Soldaten.

Mutter grunzte und drehte den Ton leise. „Jedenfalls hat die Gammelei ja Gott-sei-Dank bald ein Ende“, brummte sie und hustete.

„Ich weiß, ich weiß, Mutter.“ Geraldine schickte sich an aufzustehen. Sie war noch kein bisschen müde, aber die Aussicht, weiterhin mit Mutter in der zu engen, vollgestopften Wohnstube zu sitzen, reizte sie noch weniger als das Bett in ihrem ehemaligen Kinderzimmer.

Ja, in zwei Wochen würde sie in der Drogerie anfangen. Damit war ihr Ausflug in eine andere Welt endgültig vorbei, der Alltag würde jede Allüre in ihr auffressen. Eventuell würde sie noch mal jemand erkennen, ein Selfie machen oder eine blöde Bemerkung. Aber Geraldine hatte sich vorgenommen, am Tag vor dem Arbeitsantritt ihre Haare schneiden zu lassen. Außerdem würde sie einfach mehr essen und ein paar Kilo zunehmen. Das dürfte schon reichen, um ein Wiedererkennen zu verhindern.

„Nacht Mutter“, presste sie hervor und drückte sich an dem Sessel vorbei. Sie ging über den kleinen Flur in das dunkelgrün geflieste Bad. Dabei trällerte sie ganz leise den Siegertitel For the sake of love vor sich hin ohne es zu merken.

3

„Hast du etwa daran gezweifelt, dass wir gewinnen?“ Friedrich putzte sich ausgiebig die Brille und streckte die Beine aus. Der Rest der Band hatte sich hinter ihm versammelt wie eine Legion hinter ihrem Feldherren.

„Aber nein, du warst der Favorit, von Anfang an. Die Umfragen haben dich mit weitem Abstand vorn gesehen. Aber das konnten wir ja den Zuschauern schlecht sagen, oder? Immerhin sollten sie anrufen, damit haben wir die Show bezahlt.“

Hermann Anders war der offizielle Manager der Band. Am Morgen nach dem großen Sieg im nationalen Vorentscheid hatte Friedrich die übrigen Mitglieder bereits um neun Uhr in seinem Büro zur ersten Besprechung geladen – was im Grunde genommen einem Befehl gleichkam. Emire und Till waren kaum in der Lage, die Augen offen zu halten. Auch Hermann hatte gefeiert, es nicht mal geschafft, sich zu rasieren.

Jasmin saß still in der Ecke ein Stück hinter Friedrich. Wenigstens schien sie geduscht zu haben. Auch ungeschminkt war sie eine ungemein attraktive Frau. Einzig die dunklen Augenränder und das ständige Kratzen an den Unterarmen verrieten, was in ihr schlummerte.

„Wir haben acht Wochen bis Paris“, stellte Friedrich mit ruhiger Stimme fest. Auch Hermann war von Friedrichs Entscheidungen abhängig. Wenn Friedrich eins in den letzten zwanzig Jahren von seinem Vater gelernt hatte, dann, wie man Menschen für sich einspannte, abhängig machte und für sich arbeiten ließ.

„Du hast schon einen PR-Plan erstellt?“ Er sah Hermann scharf an. Der kratzte sich am Kinn und begann, heftig zu nicken.

„Natürlich, Friedrich, das hatten wir ja so besprochen. Die Kampagne wird sich vor allem auf Jasmin konzentrieren, sie wird sozusagen das Gesicht.“

„Das ist auch gut so.“ Er drehte sich um und sah Till und Emire fest an. Beide strafften ihre Gestalten, so gut es ging. „Ich will von euch in den nächsten Wochen nur die offiziellen Statements hören, ist das klar? Emire, du hältst nur verdeckten Kontakt mit deiner Familie. Wenn ich höre, dass du zu ihnen rausgefahren bist, dann Gnade dir Gott. Und Till, es werden keine minderjährigen Fans mehr gevögelt, hast du das verstanden?“

Till, der Schlagzeuger, öffnete den Mund. „Du brauchst mir nichts zu erzählen. Das Mädchen war höchstens vierzehn oder fünfzehn. Zum Glück hat sie niemand außer mir gesehen. Wenn du dich nicht zusammenreißt, dann ist Endstation für dich.“

„Ich habe nicht ... “

„Hör zu, mein Freund. Du siehst gut aus, du kannst sogar den Takt halten – was im Grunde überflüssig ist, da der Rhythmus vom Band kommt. Aber ich mag Perfektion, auch im Bild. Nichts ist dümmer als ein Schlagzeuger neben dem Beat. Doch da draußen gibt es viele, die den Takt halten können. Ich glaube, mehr muss ich nicht sagen.“

Till schwieg, er wusste, dass jedes weitere Wort nur noch größeren Ärger bedeutet hätte. Was konnte er dazu, wenn die kleine Maus so verführerisch ausgesehen hatte?

Friedrich wandte sich an Jasmin, sein Gesicht wurde eine Spur weicher. „Jasmin, du musst dich in den nächsten Wochen zusammenreißen, versprichst du mir das?“ Er übersah das finstere Gesicht von Hermann. „Auf dich kommt es an, du bist das Aushängeschild. Aber bevor wir nachher in den Krieg ziehen, gehst du noch einmal zu Doktor Mahnhold, verstanden? Er wird dir etwas geben, das dir hilft.“

„Ich bräuchte auch etwas, dass ... “

„Emire, kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, in Ordnung?“ Friedrich atmete noch einmal durch. „Gut, dann war es das. Ihr geht jetzt ins Hotel und lasst euch aufhübschen. In zwei Stunden werdet ihr abgeholt, oder?“ Er wandte sich an Hermann, der nur ergeben nickte. „Ausgezeichnet!“

Damit war der Rest der Band entlassen und marschierte stumm aus dem riesigen Büro. Friedrich stand auf und bat um einen weiteren Kaffee. Dann trat er ans Fenster und sah nach draußen. „Ich liebe die Aussicht von hier“, sagte er und blickte ernst in die Ferne.

Hermann wartete mit einer Antwort, bis die Sekretärin den Kaffee mit einigen Keksen serviert hatte. Erst als die Tür sich wieder schloss, holte er Luft. „Denkst du, sie wird durchhalten?“ Seine Stimme verriet ernsthafte Zweifel.

„Natürlich hält sie durch.“ Friedrich nahm einen Schluck Kaffee. Hermann verstand zu leben, auch der Kaffee war fast besser als der im Hotel. Er schob sich ein Plätzchen in den Mund. „Ich habe mit Doktor Mahnhold gesprochen, er hat begriffen, worum es für uns geht. Du bist mir dafür verantwortlich, dass sie weitgehend die Finger von dem Zeug lässt. Und wenn sie kurz vor dem Durchdrehen ist, besorgst du ihr etwas, aber nicht dieses billige Dreckszeug, ist das klar?“

„Woher soll ich ... “

„Ach Hermann, mein Freund, das müssen wir nicht nochmal durchkauen, oder?“ Friedrich drehte sich um und legte dem Manager die Hand auf die Schulter. Er schüttelte den Kopf und betrachtete sein Spiegelbild. Er wurde immer dicker, daran gab es wirklich keinen Zweifel. Aber für die Leute war er der Sohn von Achim Gassmann, dem berühmten Komponisten und Produzenten unzähliger Hits der siebziger und achtziger Jahre.

Für die Öffentlichkeit hatten er und sein Vater sich geliebt, waren ein Herz und eine Seele gewesen. Und nun schickte sich der Sohn an, das Werk seines Vaters zu vollenden. Sechs Mal hatte sein Vater an dem internationalen Wettbewerb teilgenommen, einmal war er Zweiter, einmal Dritter geworden.

Die Lieder waren in Deutschland zu echten Gassenhauern geworden. Aber er hatte nie gewonnen, das hatte immer in ihm genagt. Es war eine der wenigen Spitzen gewesen, die Friedrich gegen seinen Vater hatte verteilen können. Die Schläge danach hatten ihn nicht getroffen, weil er wusste, dass Vater sich selbst schlug in ohnmächtiger Wut. Vier Punkte hatten damals in Madrid gefehlt, vier lächerliche Punkte.

„Hör zu, ich habe mit dem Mist schon vor langer Zeit aufgehört.“ Hermanns Versuch war zu schwach, um zu Friedrich überhaupt durchzudringen.

„Ja, ja, aber deine Verbindungen hast du noch. Hör zu, ich will doch nicht, dass du sie über Jahre mit Drogen zuballerst, aber die Wochen bis Paris bist du mir dafür verantwortlich, dass sie klar genug bleibt, das Richtige zu nehmen.“

Hermann brauchte einen Moment, bis er Friedrich verstanden hatte. Er nickte leicht, Friedrich trank einen Schluck Kaffee. Er merkte, dass er müde war, obwohl er gut geschlafen hatte. Er würde sich aus dem kommenden Rummel weitestgehend zurückziehen, seinen Triumph still genießen. Die schreienden Medien waren ihm zuwider.

Am liebsten hätte er nur im Hintergrund agiert, aber dafür war es zu spät, dafür hatte sein Vater gesorgt. Wenigstens würde er sich eine ordentliche Wampe anfressen, eine Karikatur auf das Schönheitsbild seines schlanken, strahlenden Vaters mit dem weiß schimmernden Flügel, den weißen Hemden und den polierten Schuhen.

Er erklärte Hermann, was er zu tun hatte, ging mit ihm noch einmal die Abläufe der nächsten Woche durch. Danach zog er sich zurück. Inzwischen waren die zwei Stunden fast um.

Er würde sich frisch machen und die Narren für sich tanzen lassen. Den Auftritt am Abend würde er nicht vermeiden können, doch morgen hatte er frei und freute sich auf ein schönes Stück Kuchen und die Aufnahme des Violine-Konzertes von Tschaikowski. Das würde seinen Kopf wieder etwas klarer machen nach all dem Lärm der vergangenen Tage.

4

In letzter Zeit blieben immer mehr Haare in der Bürste hängen. Geraldine beugte sich vor und starrte in den kleinen Spiegel, an dessen Ränder sich bereits braune Flecken bildeten. Sie hatte das Gefühl, als ob ihr langsam aber sicher die Haare ausfielen. Auch der Schimmer war dahin, es wirkte genauso stumpf wie ihr gesamtes Gesicht, ihre Augen. Ihre Lippen waren nicht mehr voll und glänzend, sie waren spröde und platzten auf. Alles, was sie sich erarbeitet hatte, schmolz dahin wie Schnee in der Sonne.

Sie zog die Haare aus der Bürste und warf sie in die Toilette. Deutlich sah sie den gelblichen Rand, die Spritzer unter der Brille. Mürrisch nahm sie etwas Reiniger, goss ihn ins Klo und bürstete nach. Machte das eine Zicke? Anschließend polierte sie den Spiegel im Bad, wischte über die kleine Lampe, räumte die Kosmetika von den Ablagen und putzte auch hier.

Wenn man sie so hätte sehen können. Ach nein, überlegte sie sich, die Kommentare wären vermutlich gewesen, dass sie endlich etwas gefunden hätte, was ihrem Talent entsprach. Sie sprühte die Wände der Duschkabine mit Reiniger ein und beobachtete versonnen, wie die kleinen Schaumwolken aufplatzten, zu Rinnsalen wurden und langsam nach unten flossen. Sie nahm einen Schwamm und verteilte den Reiniger, dann spülte sie mit der Dusche nach.

„Du hast noch keinen Kaffee aufgesetzt“, dröhnte Mutters Stimme aus der Küche.

„Ich putze das Bad“ rief sie zurück und schloss die Augen. „Oh“, sagte sie zu sich selbst, „das ist aber lieb von dir, Geraldine, vielen Dank.“

„Du machst es ja auch schließlich dreckig“, kam die Antwort aus der Küche. Die junge Frau rollte mit den Augen.

„Oder so“, kommentierte sie niedergeschlagen. Wie lange würde es dauern, bis sie sich von dem Gehalt der Drogerie selbst eine kleine Wohnung würde leisten können? Bestimmt mehrere Monate, die Mieten waren hoch, die Qualität des bezahlbaren Wohnraums mies.

Geraldine wischte noch einmal durch das Waschbecken, spülte den Schwamm aus und schob ihn zwischen die Rohre unter das Becken. Dann trocknete sie sich die spröde gewordenen Hände und ging in die Küche. „Guck nicht so auf deine Finger, Arbeit hat noch niemandem geschadet!“ Manchmal hatte sie das Gefühl, als könne ihr Mutter direkt in den Schädel sehen.

„Wir haben kein Brot mehr“, stellte sie fest, nachdem sie die altmodische Kaffeemaschine in Betrieb gesetzt hatte.

„Du könntest ja zur Abwechslung von deinem Geld etwas kaufen“, kam die sarkastische Antwort. Mutter hatte es sich in der kleinen Sitzecke gemütlich gemacht und die Beine unter dem Tisch ausgestreckt.

Geraldine sah sie nur an, es hatte keinen Sinn. Egal, was sie sagen würde, es würde einen Streit provozieren. Stattdessen tat sie etwas, womit ihre Mutter nicht gerechnet hatte: Sie lächelte.

„Was für Brötchen möchtest du?“ fragte sie und legte all ihre Freundlichkeit in die Stimme. „Müsli? Körner? Weizen?“

Mutter schüttelte den Kopf. „Brötchen wären nicht schlecht, einfach Brötchen. Da gibt es doch eh keine Unterschiede.“

„Doch, die ... nein, Mutter, du hast recht, es gibt keine Unterschiede.“ Mutter verzog angesäuert das Gesicht und rieb demonstrativ ihr Bein. Sie hatte schon mehrfach gejammert, das Knie tat also wieder weh.

„Du kannst dir deine Boshaftigkeit sparen!“

Geraldine nickte. „Das werde ich gerne beherzigen, Mutter!“ Aber diese Zustimmung behagte Mutter noch weniger als offener Streit.

„Es wird Zeit, dass du arbeiten gehst“, zog sie ihren letzten Trumpf, der immer stach. Als Geraldine nicht sofort antwortete, lehnte sie sich fast entspannt zurück.

„Ich werde unmittelbar nach dem Frühstück losziehen und schauen, ob ich wenigstens einen Aushilfsjob finden kann.“ Mutters Augen verengten sich. Ihr blieb nichts übrig, als zu nicken.

Geraldine schlüpfte in ihre Jeans-Jacke. „Ich bin gleich zurück“, rief sie in die Küche und zog die Tür hinter sich zu.

Aufseufzend lehnte sie sich gegen die Tür und rieb sich die Augen. Selbst schuld, sah sie die Internet-Kommentare wieder vor ihrem geistigen Auge. Hochmut kommt vor dem Fall! Typisch Schlampe, alle gleich!

Sie leckte sich die trockenen Lippen und rief den Fahrstuhl, der sie nach unten brachte.

Mutters Wohnung lag in einer uniformen Siedlung, in der die Häuser alle gleich aussahen. Die einzelnen Gebäude waren durch schmale Grünstreifen getrennt, auf denen man einige Bänke gestellt oder Spielplatzgeräte aufgestellt hatte. Vor vierzig Jahren war hier alles schick, neu und modern gewesen. Doch seitdem hatten immer wieder die Besitzer gewechselt, denen es vor allem um Profit ging. Die Häuser verfielen langsam, die Mieten stiegen dafür an.

Geraldine trat aus der Tür und blinzelte in die Frühlingssonne. Sie griff in ihre Jackentasche und holte einige Münzen heraus. Das war wortwörtlich ihr letztes Geld. Noch nie war ihr das eigene Versagen so deutlich vor Augen geführt worden als in diesem Augenblick. Sie sah die Stücke an, zählte knapp zwei Euro, die sie jetzt beim Bäcker lassen würde. Zwei Euro bis zum Abgrund! Sie hatte das Gefühl, als würde in ihrem Kopf ein Wecker klingeln.

Normalerweise dachte man über eine derartige Summe kaum nach, aber in ihrem Fall war es das unweigerliche Ende, danach kam nur der Diebstahl. Sie rieb mit dem Daumen über das Geld. Nein, dachte sie, das ist Unsinn. Sie machte einige Schritte auf dem Weg und sah nach oben, dorthin, wo das Fenster zu ihrem Zimmer war.

In den letzten Wochen hatte sie viel Zeit damit verbracht, auf dem Sofa zu liegen, die Decke anzustarren und sich selbst zu bemitleiden. Natürlich war ihre Mutter keine sympathische Frau, aber ihr Schicksal lag, so wie sich Geraldine benahm, einzig und allein in ihrer Hand. Ihre Lage hatte jedoch auch einen großen Vorteil: Es konnte nur noch nach oben gehen.

Nein, sagte sie sich, diese letzten Euro werde ich nicht für ein paar Brötchen ausgeben. Sie schob die Hände in die Tasche und machte sich auf den Weg. Es würde eine Weile dauern, bis sie die Stadt erreichen würde, aber sie musste endlich damit aufhören, sich selbst zu bemitleiden. Sollten die Arschlöcher doch denken, schreiben und sagen was sie wollten, sie würde wieder auf ihre Beine kommen. Komisch, überlegte sie, warum fällt mir das ausgerechnet beim Gang zum Bäcker ein?

Als erstes brauchte sie Geld. Für Geld musste man arbeiten. Arbeit würde sie kaum in ihrem ehemaligen Kinderzimmer finden. Also würde sie in die Stadt gehen.

Ihr war, als würde sie plötzlich aus einem langen, schweißtreibenden Albtraum aufwachen. „Hör auf zu jammern und geh los“, sagte sie sich. Eine Frau kam an ihr vorbei und schaute sie befremdlich an, doch Geraldine war es in diesem Moment einerlei. Zum ersten Mal seit vielen Tagen verzog sich ihr Mund wieder zu einem Lachen. Mutter würde noch einen Moment auf ihr Frühstück warten müssen!

5

„Und natürlich stehen Ihre Spenden in keinem direkten Zusammenhang mit Ihrer Teilnahme am International-Song-Festival!“ Der Reporter lehnte sich genüsslich zurück. Auch einige seiner Kollegen feixten. Es waren ständig die gleichen Gesichter, die das gleiche taten oder sagten. Friedrich unterdrückte ein Gähnen. Sie waren so langweilig und wussten es nicht mal. Oder ahnten sie es zumindest und wollten mit originellen Tüchern um den Hals und teuren Turnschuhen, ach Verzeihung, Sneakern, exklusiv und individuell wirken? Aber letztlich glichen sie sich wie die Eier in einer Legebatterie.

„Doch, mit dem eingenommenen Geld wollen wir die internationale Jury bestechen, damit wir möglichst viele Punkte bekommen.“ Hermann konnte so herrlich dämlich aussehen, wenn man solche Äußerungen machte. Die Reporter auf der Pressekonferenz nahmen es gelassener, Friedrich erntete sogar einige hämische Lacher mit seiner Bemerkung.

„Aber im Ernst“, fuhr er ruhig fort, „ich habe die Auktionen schon lange vor unserer Teilnahme zum Vorentscheid bekannt gegeben. Haben Sie etwa die Infos nicht gelesen?“ Mit gespieltem Tadel schüttelte Friedrich den Kopf. „Die Dinge, die zur Auktion gekommen sind, gehörten meinem Vater. Ich hoffe, dass sie viel Geld bringen für das Kinderheim.“ Er legte eine kleine Kunstpause ein. „Mein Vater hätte es so gewollt.“

Einige im Raum ahnten, dass der alte Gassmann es vermutlich für alles mögliche ausgegeben hätte, nur nicht für ein Kinderheim. Doch niemand hatte auch nur ansatzweise den Mut, es auszusprechen. Vater war immer viel zu geschickt gewesen und hatte seine Affären vertuscht und verheimlicht. Soweit es Friedrich auf den Kontoauszügen gesehen hatte, hatte das Schweigen einige Male eine Stange Geld gekostet.

Doch die Tantiemen flossen reichlich, Mutter lebte in einer anderen Welt, in der sie dann schließlich auch verstarb. Friedrich sah seinen Vater, wie er um sie getrauert hatte. Er erinnerte sich an die Bilder seiner Gestalt vor dem offenen Grab. Warum war er eigentlich Musik-Produzent und nicht Schauspieler geworden?

Doch das interessierte heute niemanden mehr, sie waren beide tot. Friedrich erinnerte sich nur an eine junge Blondine, die irgendwann mal bei ihnen zu Hause aufgetaucht war. Doch damals hatte er die Geschehnisse nicht verstanden, er war viel zu abgeschottet von der Welt gewesen. Im Grunde war er das bis heute, nur dass es ihn jetzt nicht mehr störte.

„Gibt es einen persönlichen Grund dafür, dass Sie das Geld ausgerechnet einen Kinderheim spenden wollen? Was ist mit Ihren eigenen Kindern?“ Neben ihm zuckte Hermann zusammen. Man hatte den Reportern doch ausdrücklich erklärt, dass private Fragen tabu waren. Doch natürlich hatte Friedrich damit gerechnet.

Er faltete seine Hände, betrachtete einen Moment die Tasse Kaffee vor sich auf dem Tisch, dann sah er auf, seine Augen suchten den Fragesteller. Es war ein junger, schlaksiger Mann mit Drei-Tage-Bart und zu langen, ins Gesicht gekämmten Haaren.

„Es gibt Dinge, die ich nicht in die Öffentlichkeit bringen möchte“, sagte er in einem düsteren Tonfall und lehnte sich dann wieder nach vorne. So konnte man Gerüchte in die Welt setzen, ohne auch nur das Geringste dafür zu tun.

Friedrich war weder liiert noch hatte er Kinder, aber die Aussicht auf eine möglichst traurige Geschichte hinter dem unnahbaren Star, das war eine verlockende Aussicht. Weitere Fragen zu diesem Thema gab es nicht, sie waren auch überflüssig.

Nach weiteren zehn Minuten war die Pressekonferenz beendet, Friedrich schüttelte noch einige Hände. Die Konferenz hatte in einem Zelt hinter dem Anwesen stattgefunden, in dem er zumindest offiziell noch wohnte. Niemanden ging es etwas an, dass dieses Haus für Friedrich seit dem Tod seines Vaters eher ein Museum war, das langsam verschwinden sollte. Einzig das Studio im Keller war Friedrich noch wichtig.

„Es hat Anfragen nach Fotos mit den Dingen, die versteigert werden, gegeben“, flüsterte ihm Hermann ins Ohr. Friedrich nickte.

„Such du die passenden Leute aus. Nicht zu viele, vielleicht ein Dutzend. Wir machen Bilder vor dem Flügel und zwischen diesen beiden fürchterlichen Gemälden.“ Friedrich lächelte schmal.

Hermann würde die nötigen Vorbereitungen treffen, Friedrich ging mit raschen Schritten hinüber ins Haus. Er verspürte zunächst das dringende Bedürfnis, seine Blase zu leeren und anschließend festzustellen, dass der Teil des Hauses, durch die Hermann die Journalisten führen würde, bewohnt aussah.

Für diesen Zweck hatte Friedrich ein älteres polnisches Ehepaar engagiert. Die hatten damals ihr Glück kaum fassen können, für das Wohnen in einem solchen Haus auch noch bezahlt zu werden. Und Friedrich zeigte sich in diesen Dingen großzügig, ganz im Gegensatz zu seinem Vater. Geld machte Leute gewogen.

Die beiden hatten sich als unbedingt verlässlich erwiesen, gerade bei solchen Veranstaltungen. Im Kühlschrank war Essen, sogar einige Kleidungsstücke von ihm waren im Bad, auch benutzte Handtücher. Friedrich nahm sich einen frisch gebackenen Kringel in der Küche und ging dann in das ehemalige Musikzimmer, wo sich die Meute inzwischen versammelt hatte.

„Was ist das Gefühl, sich von dem Flügel zu trennen, auf dem Ihr Vater so viele Hits komponiert hat?“ wollte einer der Journalisten wissen. Friedrich stellte sich neben das Instrument, Kameras klickten und surrten durcheinander.

„Ein Gutes, denn ich weiß, mein Vater wäre stolz darauf, dass sein Werk so viel helfen kann.“ Oh Gott, dachte er, nicht mal ich glaube mir diesen Mist. Doch die Journalisten schienen angetan. Außerdem blieb ja das düstere Geheimnis. Es fiel Friedrich leicht, die Hand auf den Flügel zu legen und dabei zu lächeln. In einigen Wochen würde er den Preis gewinnen, den sein Vater zeitlebens gejagt hatte. Und hier war ein weiterer Schritt, denn auch ausländische Presse war anwesend.

Danach würde die Tür hinter ihm ins Schloss fallen, kein Mensch wusste, wie viel Zeit ihm noch bleiben würde. Aber es zählte nur das Hier und Jetzt, alles andere war unwichtig.

6

Geraldine musste einen Augenblick warten, bis die Besitzerin der Boutique von hinten aus den Personalräumen kam und Zeit für sie fand. „Guten Tag“, lächelte Geraldine, „ich komme wegen des Schildes in Ihrem Schaufenster. Sie suchen eine Aushilfe?“

Die Besitzerin war so um die Vierzig, blondiert, stark geschminkt. Sie trug eine zu enge Hose, dazu einen mit Pailletten bestickten Pullover. Sie zögerte einen Moment, dann lächelte sie. „Ja, das stimmt.“ Sie streckte ihr die schmale, vertrocknete Hand entgegen und schien ehrlich erfreut über Geraldine und ihr Erscheinen. Gleichzeitig schien sie das Gefühl nicht loszuwerden, dass etwa nicht stimmte an dieser Bewerbung.

„Kommen Sie, gehen wir nach hinten, Frau ... äh?“

„Gruber“, half Geraldine sofort aus. Sie folgte der Frau in ein kleines, muffiges, mit Akten und Belegen vollgestopftes Büro.

„Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht mal einen Platz anbieten, die neuen Kollektionen sind angekommen, das ist immer ein Haufen Arbeit.“ Sie machte eine kleine Pause. „Haben Sie denn Erfahrung im Mode-Bereich?“

„Nun, ich habe eine Ausbildung und ein Jahr Erfahrung im Verkauf. Ich war bei Jeans-On, Sie kennen den Laden bestimmt.“

Die Frau nickte und lächelte. „Und warum wollen Sie wechseln?“

„Nun, ich habe einige Zeit ... gemodelt, es läuft nicht mehr so gut, ich brauche einen Job, verstehe etwas von Mode und kann Menschen beraten.“

Die Besitzerin der Boutique sah Geraldine an. „Ja, das glaube ich, Sie machen einen selbstsicheren Eindruck.“ Das täuscht, dachte Geraldine, die einfach funktioniert hatte, seit sie in den Laden gekommen war. Erst jetzt begriff sie langsam was sie überhaupt tat. Die Frau würde doch weitere Fragen stellen, wer würde das nicht?

So eine blödsinnige Idee, warum tust du nur so etwas? Plötzlich fühlte sie sich wie nach der Zusage durch die Produktionsfirma. Auch damals hatte sie ein Video von sich mit dem Handy gedreht, ohne darüber nachzudenken. Heute war sie so pleite, dass sie nicht mal ein Mobiltelefon besaß.

„Ich kann Sie mir schon gut in meinem Geschäft vorstellen, ich brauche dringend Entlastung, sonst kann ich gleich hier einziehen.“ Das Gesicht der Frau zuckte zum ersten Mal. „Ich brauche zunächst nur eine Aushilfe, kann Sie nur auf Basis beschäftigen, aber wenn Sie gut ... “ Das Gesicht der Frau zuckte zum zweiten Mal. Man konnte den Groschen förmlich hören, der bei ihr gefallen war.

„Mein Gott, Gruber – Geraldine Gruber, nicht wahr?“ Sie trat einen Schritt zurück und stieß gegen einen Ordner mit Unterlagen. „Sie sind die Frau aus der Sendung?“

Geraldine nickte resigniert. Toll, ging es ihr durch den Kopf, das war es also mit deiner Bewerbung. Sie sah sie wieder alle vor sich: ihre Mutter, die Jury, die anderen Frauen. Sie las die Kommentare im Internet, studierte die Nachrichten auf ihrem Smartphone.

Die Frau schien eine Sekunde nachzudenken, dann schoss ihre Hand vor. „Annette Schmidt“, sagte sie einfach. Erst jetzt begriff Geraldine, dass sich die Besitzerin gar nicht vorgestellt hatte. Sie war weitaus aufgeregter als sie es sich selbst eingestand. Aber auch ihr Gegenüber wirkte plötzlich angespannt, eine Tatsache, die Geraldine nicht richtig begriff.

---ENDE DER LESEPROBE---