Die Frau mit dem Akkordeon - Olaf Hauke - E-Book

Die Frau mit dem Akkordeon E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Als Markus den Auftrag bekommt, die Tochter des reichen Industriellen Leyfahrdt zu observieren, ahnt er noch nicht, dass dieser Job sein Leben verändern wird. Die junge Frau fasziniert den ansonsten zurückgezogen lebenden Markus mit ihrem geheimnisvollen Doppelleben. Und erst viel zu spät wird ihm nicht nur klar, dass er sich in Die Frau mit dem Akkordeon verliebt hat, sondern dass er ohne es zu wissen Teil einer Intrige ist, die ihr Leben zerstören könnte ...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Ende

Die Frau mit dem Akkordeon

Olaf Hauke

2015/2023

Copyright 2015/23 by Olaf Hauke

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

[email protected]

Cover: Shutterstock/Bojan Dzogan

Kapitel 1

„Das darf doch wirklich nicht wahr sein. Ich bin noch nicht mal eingezogen, und schon geht mir der erste Mensch in diesem Haus auf den Sack!“ Simon stellte die schwere Kiste direkt vor der Wohnungstür ab und schnaufte mehrmals durch. Seine Arme wanderten beinahe schwerelos von ganz allein in die Höhe. Der Schweiß lief über seine Stirn direkt in die Augen und brannte wie Feuer.

„Deshalb musst du noch lange nicht heulen.“ Lukas kam ihm aus der noch völlig zugestellten Wohnung entgegen. Im Gegensatz zu Simon schien ihn das Tragen nicht sonderlich anzustrengen. Aber er war fast eins neunzig groß und spiele halb professionell Eishockey. Da verfügte man über eine ganz andere Kondition. „Hört er immer noch diese Scheiß-Musik?“ sagte er und lauschte in den Flur. Das enthob Simon einer Antwort. Man konnte deutlich den monoton wummernden Bass hören, die Melodie und die Stimme.

„Ist das Helene Fischer?“ fragte Simon, der inzwischen wieder zu Atem gekommen war. Gleichzeitig ärgerte er sich über seine Frage, es war schon mehr als peinlich, dass er diese Schnulze auch noch erkannte.

„Keine Ahnung, die klingen doch alle gleich.“ Lukas kratzte sich in seinem ausrasierten Nacken. „Auf jeden Fall hören wir den Mist schon den ganzen Tag. Ich denke, wenn du nicht gleich was unternimmst, wirst du dieses fiese Gejammer ständig ertragen müssen.“

Simon atmete tief durch und griff nach der Kiste. Warum mussten Bücher nur so verflucht schwer sein? Er wuchtete sie in die Höhe, seine Hände glitten an der glatten Pappe ab. Vergeblich versuchten die Finger, sie noch zu greifen. Die Kiste wäre ihm vermutlich auf die Füße gefallen, hätte Lukas nicht im letzten Moment zugefasst und ihn unterstützt. Gemeinsam schleppten sie die Kiste in den angrenzenden Raum. Es roch nach Farbe, in der Ecke lagen noch die Reste der Plane und die eingetrockneten Rollen. Simon hatte sie eigentlich schon gestern entsorgen wollen, aber dann hatte eine Bekannte Geburtstag gehabt. So hatte sich der ganze Umzug etwas verschoben. Noch heute spürte er die Nachwirkungen des Alkohols in den Knochen.

„Du solltest die Fronten klären“, stellte Lukas fest. „Hast du nicht irgendetwas griffbereit, mit dem wir deinem Nachbarn klarmachen können, was richtige Musik ist?“

„Ist alles noch verpackt“, brummte Simon und ging ins Bad, um Wasser für eine Kopfschmerztablette zu holen. „Ich habe auch keinen Bock, den ganzen Scheiß heute noch auszupacken.“ Ein wenig verzweifelt streifte sein Blick die Berge von Kartons, die sie bereits in die Wohnung geschafft hatten. Im zukünftigen Wohnzimmer standen die Teile des Bücherregals und bettelten um Aufstellung. In der Küche musste der Herd angeschlossen werden. Wenigstens brummte der Kühlschrank bereits und war fast auf Betriebstemperatur.

„Dann gehen wir am besten gleich mal rüber und erklären der Frau, dass sie in Zukunft lieber Kopfhörer benutzen sollte!“ Lukas grinste, seine Schneidezähne schimmerten. Seit zwei Jahren waren sie nicht mehr echt.

„Wieso Frau?“ fragte Simon und hoffte, dass die Tabletten schnell ihre Wirkung tun würden.

„Na, wer hört sonst so einen Müll? Ich schüchtere sie ein bisschen ein, das wird schon reichen. Außer sie ist hübsch, dann laden wir sie ein.“ Er lachte eine Spur zu laut auf. „Aber wer so einen Schrott hört, ist über vierzig, frustriert und geschieden!“

Damit stieg er über einen Karton hinweg und zog seine Jogginghose ein Stück hoch. Wer würde von seinem Anblick nicht erschreckt sein, dachte Simon und war im Grunde genommen erleichtert, dass Lukas ihm die lästige Beschwerde abnehmen würde. Natürlich war es unerträglich, so einen Schwachsinn zu hören, aber Simon ging Ärger lieber aus dem Weg. Er folgte seinem Freund in sicherem Abstand.

Lukas schien sich auf seinen Auftritt regelrecht zu freuen. Er hatte schon immer einen latenten Hang zu Gewalttätigkeiten gehabt, bereits damals in der Schule, als er Mitschüler wegen Kleinigkeiten geschlagen hatte. Doch kaum jemand hatte es gewagt, dagegen aufzubegehren. Und wenn doch, war klar, wer sein nächstes Opfer gewesen war. Simon hatte noch nie wirklich darüber nachgedacht, doch in diesem Moment wurde ihm klar, wie sehr das Eishockey zu Lukas passte.

Nun ja, überlegte er sich, sollte er tatsächlich laut oder grob werden, konnte sich Simon im Nachhinein immer noch entschuldigen und erklären, dass er selbst ganz überrascht vom Verhalten seines Bekannten gewesen war.

Lukas verließ die Wohnung und hielt ohne zu zögern auf die Wohnung des Nachbarn zu. Hier im Block sahen die Türen alle gleich aus, vier davon gab es auf jeder Etage. Das neutrale Namensschild neben der Klingel lautete auf den Namen Preißner. Es verriet nichts über den Bewohner hinter der Tür.

Entschlossen drückte Lukas die Klingel. Hier, direkt vor der Tür, konnte man die Musik klar hören, im Inneren der Wohnung musste die Lautstärke eines Clubs herrschen. Doch niemandem im Haus schien das zu kümmern. Diese Tatsache wurde Simon erst bewusst, als zwischen zwei Liedern eine kleine Pause entstand, die Lukas nutzte, um erneut zu klingeln. „Bei dem Krach hört sie sonst eh nichts“, stellte er mit einem lässigen Grinsen fest.

Ein neues Lied begann, der hämmernde Takt setzte ein. Lukas und Simon stellten fest, dass sich der Pegel der Musik tatsächlich senkte. Lukas wollte etwas sagen, doch im gleichen Moment öffnete sich die Tür. Nein, dachte Simon, das ist mit Sicherheit keine Frau.

Der Mann war so groß wie Lukas, eher noch etwas breiter. Die dunklen Haare auf dem Schädel waren nur wenige Millimeter kurz. Er trug ein enges, schwarzes Shirt, das seine Muskeln nachzeichnete. Kühle graue Augen musterten die beiden jungen Männer. Das Gesicht des Nachbarn war rund, unter dem linken Auge hatte er eine alte, langgezogene Narbe.

Der Mann mochte so um die Vierzig sein, aber er war trainiert und wirkte mindestens so selbstsicher wie Lukas. Er trat nicht einmal besonders aggressiv auf, schien sich seiner Stärke völlig bewusst und sicher zu sein. Die Jeans, die er trug, war einfach geschnitten, keine Marke, so viel war Simon, der auf solche Dinge achtete, sofort klar.

„Ja?“ fragte er mit ruhiger, dunkler Stimme. Unter dem Ärmelansatz seines T-Shirts konnte man eine Tätowierung erkennen.

„Bitte drehen Sie die Musik leiser, sie stört uns!“ Lukas schien sich von der Erscheinung des Mannes keineswegs einschüchtern zu lassen. Im Gegenteil, er wurde noch einige Zentimeter größer, seine Gestalt straffte sich. Er sah dem Mann direkt in die Augen, fixierte ihn geradezu.

Der Mann stand einen Moment lang nur ruhig da, im Hintergrund sang wieder eine Frau. Andrea Berg, dachte Simon ganz mechanisch, und hielt die Luft an. Die Situation roch plötzlich nach Ärger.

„Sie sind wer?“ fragte der Mann und bewegte sich keinen Millimeter. Vermutlich hätte er in der gleichen Haltung ein Paket von einem Boten angenommen.

„Mein Freund zieht hier ein, wir finden diese Schlager zum Kotzen, zumal in dieser Lautstärke. Sie besorgen sich einfach ein paar Kopfhörer und kleistern ihr eigenes Hirn mit diesem Mist zu, okay?“

Fast wirkte es, als würde der Mann es sich tatsächlich überlegen, Kopfhörer zu kaufen. Sein Blick glitt an Lukas vorbei. „Sie sind der neue Nachbar?“ fragte er und blieb dabei merkwürdig ausdruckslos. „Preißner mein Name, Markus Preißner.“ Er schob die schwere Unterlippe ein wenig hervor. Dadurch bildeten sich um seine Mundwinkel einige eigenartige, kleine Fältchen. Erst jetzt sah Simon, dass die Nase ein wenig zu schräg war. Bestimmt war sie irgendwann mal gebrochen worden. Ob der Mann ein Boxer war?

Der Mann sah Lukas wieder ruhig an. „Nein“, sagte er, ohne auf die Beleidigung wegen der Musik einzugehen. Dann drehte er sich ganz ruhig um und schickte sich an, ohne jede Hektik die Tür zu schließen. Simon wollte bereits erleichtert aufatmen, denn dieser Mann, das spürte er sofort, war Lukas auf jeden Fall überlegen. Dieser Mann war kein Schlägertyp, er brauchte keine Gewalt gegen Andere, meist Schwächere, aber er würde keine Sekunde zögern, sich zu wehren.

Im gleichen Augenblick, als Simon schon dachte, der Mann sei verschwunden, schoss der Arm von Luka vor. Er hielt die Tür auf. „Hey, Sie haben mich wohl nicht verstanden, was? Sie sollten den Mist ausstellen, er ist unerträglich!“ Er gab der Tür einen Stoß, sie flog weit auf und traf irgendwo auf etwas Weiches, dass den Knall dämpfte. Nun war der Blick auf den Flur frei, doch dort befand sich lediglich eine Garderobe, an der eine einzelne Jacke hing, und ein Schrank, vermutlich für Schuhe. Es fiel auf, dass es weder Bilder noch irgendwelchen Zierrat zu geben schien.

Der Mann, der sich als Markus Preißner vorgestellt hatte, drehte sich langsam um. Irgendwie erwartete Simon, dass er ein Messer oder etwas Ähnliches in der Hand halten würde. Doch der Mann stemmte lediglich die Hände in die trainierten Hüften. „Sie wollen unbedingt stänkern, oder?“

„Ich will mein Recht auf Ruhe!“ Simon war verwundert, wie sich das Gesicht seines Freundes verändert hatte. Es war hart geworden, die Lippen waren nur noch ein schmaler Strich. Ja, dachte er plötzlich, so hatte er in der Schule ausgesehen oder bei diesem Spiel neulich, bei dem ihm der gegnerische Spieler gefoult hatte. Jetzt würde ihn nichts aufhalten, auch kein trainierter Nachbar.

Lukas stapfte in die Wohnung, schob den Mann einfach beiseite. „Wo ist die verfluchte Anlage? Ich muss kotzen, wenn ich diesen Dreck ... “ Weiter kam er nicht. Der Mann hatte seinen Arm gepackt, ihn mit einem Schwung herumgedreht. Lukas hatte sich wehren wollen, eine Hand war nach vorne geschossen, doch der Mann war einfach wie ein Schatten zur Seite geglitten. Lukas schrie, als er in die Knie ging. Ob vor Wut oder vor Schmerz, das war nicht zu erkennen, vermutlich war es eine Mischung aus beidem.

Er stemmte sich noch einmal gegen den Griff, doch das schien den Schmerz nur zu verstärken. „Hilf mir, verflucht“, stieß er hervor, als er ausgestreckt auf dem Teppich lag.

Simon war sofort klar, dass er gegen den Mann nicht das Geringste würde ausrichten können. Er machte einen unsicheren Schritt nach vorne, seine Finger verknoteten sich. Der Mann sah kaum hoch. „Reicht es?“ fragte er Lukas, dessen Gesicht rot angelaufen war. Lukas schwieg verbissen.

Der Mann stand plötzlich auf, ließ Lukas auf dem Boden liegen. Einen Moment lang sammelte Lukas Kräfte, dann stemmte er sich mit verzerrtem Gesicht langsam und taumelnd auf die Füße. Es sah zunächst so aus, als wolle er sich auf den Mann stürzen, der ganz ruhig dastand. Im Hintergrund sang irgendeine Männerstimme, die Simon nicht kannte, von einer Südsee-Insel, auf die er seine Liebste entführen wollte. Die Musik verlieh der Situation etwas Groteskes.

„Das hast du nicht umsonst getan“, flüsterte Lukas wütend. Er stützte sich auf die Garderobe und verließ die Wohnung, hielt sich dabei die Schulter.

„Nein“, wiederholte er, als die Tür in Schloss fiel, „das hat er nicht umsonst getan!“

Kapitel 2

Die Tür öffnete sich mit einem schmatzenden Geräusch. Die beiden Flügel glitten auseinander, zerteilten dabei das Logo der Firma in zwei gleiche Hälften. Die Eingangshalle war riesengroß, die hellen Fliesen des Fußbodens reflektierten die vielen, kleinen Birnen, die man versteckt in der Decke untergebracht hatte. Rechts führte eine bestimmt drei Meter breite Treppe in die obere Etage, die Türen zum Lift lagen daneben. Geradeaus ging es einen Flur entlang, von dem eine unübersehbare Anzahl von Türen abging. Links lag der Empfang, hinter dem zwei hübsche Blondinen etwas zu stark geschminkt auf Besucher warteten.

Die Luft in der Empfangshalle war angenehm klimatisiert und bildete einen wohltuenden Kontrast zu der Hitze draußen. Unmittelbar nachdem Markus die Tür hinter sich gelassen hatte, schlossen sich die Flügel. Für einen Augenblick fühlte er sich wie gefangen. Er sah sich noch einmal etwas unsicher um.

Im gleichen Moment glitten die Türen erneut auseinander, zwei Männer in dunklen Anzügen, beide auf ihre Mobiltelefone starrend, marschierten an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Gerade diese Ignoranz schüchterte den kräftigen Mann mehr ein, als er sich selbst eingestehen wollte. Er straffte seine Gestalt und sah sich um. Eine der Blondinen war längst auf ihn aufmerksam geworden. Sie lächelte ihn geschäftsmäßig an, ihre roten Lippen teilten sich und gaben den Blick auf ebenmäßige, helle Zähne frei. Sie sah aus wie eine dieser Schauspielerinnen in den Serien, in denen die Frauen am Morgen aufstanden und die gleiche Frisur hatten wie in der Nacht zuvor, als sie auf eine Party gegangen waren und die Nacht durchgetanzt hatten.

Als Markus auf den Tresen zuging, sah er aus den Augenwinkeln die Kamera über der Tür, deren Auge ihm unauffällig folgte. Bereits jetzt würde sein Gesicht erfasst und gerastert werden, dessen war er sich sicher.

„Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Die Blondine legte den Kopf etwas schräg, die blonden Locken fielen nach unten und gaben den Blick auf einen kleinen Diamanten frei, der in ihrem Ohrläppchen funkelte. Aber sie nimmt einfach zu viel Parfüm, überlegte sich Markus.

„Preißner, ich werde erwartet“, sagte er schlicht und erhaschte einen Blick über den Tresen. Auf der anderen Seite war es klinisch aufgeräumt, was ihm sofort gefiel. Es gab nur einen Computer und eine große Telefonanlage, daneben zwei Stapel mit verschiedenen Flyern.

Die Frau fragte nicht nach, griff zu keinem Telefon, sie nickte nur. „Ich bringe Sie“, sagte sie mit einer unaufdringlichen Stimme, die jedoch keinen Widerspruch duldete. Sie tauschte einen kurzen Blick mit ihrer Kollegin und kam dann hinter dem Tresen hervor. Sie war beinahe so groß wie Markus, dabei beinahe unnatürlich schlank. Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen, bestimmt um die zehn Zentimeter. Wie konnte man in derartigen Schuhen den ganzen Tag auf den Beinen sein?

Ihre wiegenden Schritte hallten durch die Empfangshalle. Markus musste seinen Blick gewaltsam von den schlanken Unterschenkeln losreißen, die unter dem Bleistiftrock hervorragten und die Figur der jungen Frau zumindest erahnen ließen. Zunächst steuerte sie auf den Fahrstuhl zu, doch dann schien sie sich anders entschieden zu haben und nahm die Treppe. Markus ging neben ihr und überlegte, ob er etwas sagen sollte. Doch da ihm keine passenden Worte einfallen wollten, schwieg er einfach.

Oben angekommen wies sie mit einem Lächeln den Weg nach links, begleitete ihn jedoch weiter. Sie stoppte zielsicher vor einer der vielen, identisch aussehenden Türen, die den Flur säumten, und öffnete sie. Markus sah die kleine, unauffällige, in der Farbe der Decke gehaltene, Kamera, die sofort und lautlos in seine Richtung schwenkte.

„Herr Leyfahrdt ist noch in einem Meeting, es wird noch circa eine Stunde dauern“, stellte sie ungerührt fest. „Was trinken Sie? Einen Kaffee? Einen Mokka? Oder lieber einen Espresso?“

Markus stoppte in der Bewegung, ihr zu folgen. „Eine Stunde? Er hatte den Termin für halb elf bestätigt.“ Markus sah die Blondine durchdringend an.

„Herr Leyfahrdt ist ein wichtiger Mann, schließlich leitet er die Leyfahrdt-Werke.“ Sie klang vollkommen unbeeindruckt und hielt seinem Blick absolut desinteressiert stand. Sie sah aus, als würde sie eine Fliege betrachten, die über ihr Käsebrötchen krabbelte. Markus ging sicher davon aus, dass sie Vegetarierin oder etwas Ähnliches war.

„Na, meinen herzlichen Glückwunsch. Zum Glück leite ich keine Fabrik mit meinem Namen. Sagen Sie ihm, er hat meine Nummer, wenn er mich sprechen will.“ Markus drehte sich auf dem Absatz um und ließ die Frau einfach stehen. Er hasste nichts so sehr, als wenn man ihn für dumm hielt. Und das war hier ganz offensichtlich der Fall.

Markus überlegte noch, aus welcher Tür sein potentieller Auftraggeber kommen würde. Er musste fast bis zurück zur Treppe gehen, ehe sich eine der Türen öffnete. „Herr Preißner?“ hörte er eine Stimme neben sich.

„Herr Leyfahrdt, nehme ich an?“ sagte Markus, erst dann drehte er sich um.

Der Mann mochte um die Siebzig sein. Er war klein, dünn, mit einem dürren Hals und einem erstaunlich hervorstehenden Adamsapfel. Seine Haare waren unnatürlich dunkel, das zeigte eine gewisse Eitelkeit. Auch der Anzug hatte vermutlich eine Stange Geld gekostet, die Schuhe waren handgenäht, und das bestimmt nicht von chinesischen Tagelöhnern. Aus seinen Augen strahlte Kraft und Energie, seine Stimme, das wusste Markus nach den wenigen Worten, die er gehört hatte, war es gewohnt, Befehle zu erteilen, konnte aber vermutlich auch freundlich und einschmeichelnd sein. Bestimmt war er der typische Patriarch, der nicht von dem lassen konnte, was er aufgebaut hatte.

„Kommen Sie hier herein“, sagte Leyfahrdt und machte eine knappe Handbewegung in Richtung des Büros. Markus zögerte einen Augenblick, dann nahm er das Angebot an. Was hatte er zu verlieren außer einigen Minuten?

„Cecilia, bringen Sie ... ach, bringen Sie irgendetwas!“ Er machte eine fahrige Handbewegung in Richtung der Blondine und ließ Markus in das Büro eintreten. Die schlichte, unauffällige Tür hatte ihn nicht auf das vorbereitet, was er nun zu sehen bekam. In einem Schrank standen antike Erstausgaben, an der Wand hingen mehrere Drucke, die handsigniert waren und ziemlich exklusiv aussahen. Die Ledergarnitur war alt und strahlte die Patina vieler Verhandlungen durch, sie roch nach Tabak und Hochprozentigem. Beides war aus modernen Geschäftsverhandlungen verbannt. Links daneben stand ein passender Schreibtisch. Markus stellte fest, dass er keinen Bildschirm und kein Notebook sah.

„Nehmen Sie Platz, Herr Preißner“, sagte Leyfahrdt. Auch diese Worte klangen eher wie ein Befehl. Markus ließ sich in einen der drei Sessel sinken und verschränkte die Arme vor der Brust.

Leyfahrdt blieb zu seiner Überraschung hinter einem der Sessel stehen und griff nach einem Krückstock mit einem gebogenen, silbernen Knauf. „Fanden Sie diesen Test mit der Wartezeit nicht etwas übertrieben?“ fragte Markus als Gesprächseröffnung und kratzte sich am Kinn.

„Solche Dinge sind manchmal recht aufschlussreich“, brummte sein Gastgeber. „Viele Menschen warten stundenlang.“ Machten ihm diese Spielchen Freude? Markus hatte zumindest den Eindruck, dass es so war.

„Vielleicht brauchen sie eher einen Job als ich“, entgegnete Markus gedehnt.

„Sie meinen, weil Sie die Pension wegen Ihrer Jahre in Nigeria bekommen?“

Markus blieb äußerlich ungerührt, doch tief in seinem Inneren zuckte er zusammen. Natürlich, der Alte mochte langsam morsche Knochen bekommen, aber sein Verstand war scharf genug, um dieses Unternehmen zu leiten. Und wenn er den Auskünften des Internets Glauben schenken konnte, tat er es mit viel Erfolg.

„Ich bin bescheiden, mir reicht das Geld zum Leben“, meinte Markus ausweichend.

„Sie haben damals für die Regierung wichtige und gute Arbeit geleistet. Man erzählt, dass Sie schnell befördert wurden. Mit welchem Rang haben Sie damals ausgemustert?“

Jetzt musste Markus lächeln. Er löste seine verschränkten Arme und betrachtete eingehend seine Hände. „Weshalb wollten Sie mich sprechen, Herr Doktor Leyfahrdt?“ überging er die Frage des alten Mannes.

Ehe Leyfahrdt antworten konnte, öffnete sich nach einem dezenten Klopfen die Tür zum Büro. Die Blondine rollte einen Wagen herein, der Kaffee, einige Snacks und eine Auswahl an Alkoholika enthielt. Sie sah den alten Mann fragend an, der schüttelte nur den Kopf. Sie nickte und verließ geräuschlos das Büro. Also waren alkoholische Getränke doch nicht ganz aus der Mode, dachte sich Markus.

„Eine attraktive Frau, nicht wahr?“ fragte Leyfahrdt Markus, der ihn nur mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Der alte Mann verzog das Gesicht. „Was darf ich Ihnen anbieten? Bedienen Sie sich am besten selbst, mir macht es inzwischen einige Mühe.“

Markus stand auf und nahm sich einen Kaffee. „Also, weshalb bin ich hier?“ fragte er noch einmal, als er die Tasse in der Hand hielt und langsam vom Wagen in Richtung Leyfahrdt ging. Ob der Anfall, wegen dem er stehen musste, plötzlich gekommen war?

Leyfahrdt nickte. Er nahm den Stock fest in die Hand und stützte ich, so kräftig er es vermochte auf ihn, während er zum Schreibtisch ging. Der Weg fiel ihm sichtbar schwer. Doch Markus zeigte weder Ungeduld noch verfiel er in einen Plauderton.

Sah er aus dem Fenster, konnte man die freie Natur sehen, erst im Hintergrund zeigten sich die Ausläufer einer Kiefern-Schonung. Leyfahrdt hatte sein Unternehmen buchstäblich aus dem Nichts auf dem Acker dieses Dorfes gebaut. Im Grunde genommen ein kluger Schachzug, denn hier konnte er schalten und walten wie er wollte. Die Dörfer der Umgebung waren abhängig von seinen Arbeitsplätzen und würden es nie wagen, ihm in irgendeiner Form Steine in den Weg zu legen. Vor einigen Jahren hatte es eine Bürgerinitiative gegeben, doch sie war eher kläglich gescheitert mit ihrer Forderung nach irgendwelchen Umweltauflagen, die Markus im Einzelnen vergessen hatte.

Bereits bei der Herfahrt war Markus der krasse Widerspruch zwischen den Häusern des Dorfes und dem industriellen Neubau der Leyfahrdt GmbH aufgefallen. Hinter dem eigentlichen Dorfkern erstreckte sich ein breites Neubaugebiet mit schmucken Häuschen, die signalisierten, welchen Wohlstand Leyfahrdt in die ländliche Idylle gebracht hatte.

„Das alles hier habe ich aufgebaut“, meinte der alte Mann wie beiläufig, als hätte er die Gedanken von Markus gelesen. Doch vermutlich gehörte dazu nur etwas Beobachtungsgabe und die richtige Deutung seines Blickes. „Vor zwanzig Jahren war hier nichts als Acker, inzwischen wächst das Dorf mit derartiger Geschwindigkeit, dass sich die Grundstückspreise verdreifacht haben.“ Er räusperte sich. „Aber das wollten Sie gar nicht wissen, nicht wahr?“ Er lachte und klang dabei verblüffend hoch. Markus blieb ausdruckslos.

„Ich möchte, dass sie in den nächsten Monaten auf meine Tochter Acht geben“, sagte er unvermittelt und drehte sich dabei von dem Sessel weg, der ihm Stand geboten hatte.

Markus schob sich einen Schoko-Keks in den Mund, der Alte hatte ihm ausgezeichnetes Gebäck servieren lassen, wie er feststellte. „Was ist mit Ihrer Tochter, wird sie bedroht?“ fragte er ganz automatisch. Ein Auftrag über Monate? Das klang entweder nach einer Menge Ärger oder nach einer Menge Geld. Markus lebte bescheiden, aber ein paar Rücklagen würden nicht schaden, wie er erst neulich festgestellt hatte, als sein Wagen ihm wieder mal den Dienst versagt hatte.

„Nein, zumindest weiß ich nichts davon. Meine Tochter und ich … nun, wir haben uns ein wenig entfremdet. Doch es gibt Niemanden, der die Firma übernehmen kann, sie wird das alles hier erben. Ich möchte von Ihnen eher Antworten haben: Was für ein Mensch ist sie? Wie lebt sie, was tut sie? Mit wem ist sie befreundet?“ Der alte Mann ging jetzt, da er offenbar keine oder deutlich geringere Schmerzen verspürte, sicher zu dem Wagen mit dem Kaffee und bediente sich an einer Flasche mit hochprozentigem Inhalt.

Markus beobachtete ihn erstaunt. Eine Observation für alltägliche Dinge? Wäre es da nicht sinnvoller gewesen, der alte Mann hätte sich sein Telefon geschnappt und angerufen? Er beschloss, bei einem weiteren Keks über diese Frage nachzudenken.

Kapitel 3

Markus öffnete den Umschlag, den ihm die Blondine beim Verlassen des Gebäudes ausgehändigt hatte. Er hatte sich an seinen Wohnzimmertisch gesetzt und die Rollos heruntergelassen, denn die Sonne schien am Nachmittag ungehemmt in seine Wohnung und heizte sie derart auf, dass er sich kaum konzentrieren konnte. Selbst die Zeit in Afrika hatte es nicht geschafft, dass er gegen die Hitze völlig immun war. Das Klima war zudem hier in Europa völlig anders, feuchter, niederdrückender.

Da er allein war, hatte er sich einfach bis auf die Unterhose entkleidet. Einer der Vorteile, wenn man selbstständig arbeitet, dachte er grinsend. Im Büro hätte er kaum so sitzen können.

Er zog die wenigen Papiere aus dem Umschlag und verteilte sie über den Tisch. Von nebenan hörte er hämmernde Bässe und die schreiende Stimme eines aggressiven Mannes. Die beiden jungen Männer schienen sich, nachdem sie mit ihrem Auftreten eher das Gegenteil erreicht hatten, auf kleine Provokationen zu verlegen. Mit der Fernbedienung schaltete Markus das Radio an, die bitteren Klänge wurden von freundlichen, sanften Harmonien überdeckt.

Diese Narren, dachte er. Sie geben sich wütend und aggressiv, weil sie nie wirkliche Wut und Aggression erlebt haben. Aufgewachsen in Frieden und Wohlstand wissen sie beides nicht zu schätzen. Er sah das Ghetto vor sich, die staubige Fahrbahn. Armut konnte man nicht nur sehen, man konnte sie vor allem riechen, das hatte er in den Jahren in Afrika gelernt. Die grenzenlose Freundlichkeit der Menschen, die westlich geprägte Menschen oft als Dummheit auslegten, aber gleichzeitig auch die ungeheure, ungebremste Brutalität, alles eingefangen in diesen eigentümlichen, herben Geruch.

Markus schreckte aus seinen Gedanken hoch. Woher hatte der alte Mann von seinen Jahren in Afrika gewusst? Andererseits, er leitete ein bedeutendes Unternehmen, kannte mächtige und einflussreiche Leute. Informationen waren ein Eckpfeiler seiner Macht, die vor allem Macht über andere Menschen bedeutete. Seine Zeit dort unten war kein Geheimnis. Es musste Aufzeichnungen geben, bei der Polizei, beim Militär.

Sollte er sich über ihn erkundigt haben, wovon Markus sicher ausging, würde er zwangsläufig auch auf Afrika gestoßen sein. Und dieser kleine Brocken Information war dann geeignet, jemand anderen zu verblüffen und ihm die eigene Macht vorzuführen.

Markus betrachtete die beiden Fotografien, während im Hintergrund ein Tanzorchester Hits der fünfziger Jahre intonierte. Die Bilder mussten etliche Jahre alt sein. Überhaupt war Markus erstaunt, wie dünn die Informationen waren und wie wenig aktuell. Die Frau hieß Heike Leyfahrdt, war jetzt siebenunddreißig Jahre alt, nicht verheiratet, keine Kinder. Sie hatte ein Wirtschaftsstudium abgebrochen, das musste bereits etliche Jahre her gewesen sein. Zuvor hatte sie eine Lehre gemacht.

Die Fotos zeigten eine Frau, die um die Zwanzig war und als Studentin durchgehen konnte. Die Mutter war vor etlichen Jahren verstorben. Sie hatte dunkle Locken, ein schmales Gesicht, erstaunlich klare, grüne Augen. Sie sah an der Kamera vorbei, ganz so, als suche sie etwas in der Ferne, was sie noch nicht gefunden hatte.

Über die Frau fand er nichts im Internet, die Suchmaschinen spuckten nur nichtssagende Informationen aus, die ihm nicht weiterhalfen, bestimmt nicht einmal zu der Frau auf den Bildern gehörten. Was machte sie beruflich? Wie war ihre Adresse? Auf derart grundlegende Fragen fand Markus keine Antwort.

Konnte es tatsächlich sein, dass Leyfahrdt nicht den geringsten Kontakt zu seiner Tochter hatte und nun mit Hilfe eines privaten Ermittlers mehr über sie erfahren wollte? Vielleicht konnte er sie deshalb nicht anrufen, weil er schlicht ihre Nummer nicht hatte? Und nun beschaffte er sich mit der Hilfe von Markus dieses Wissen und konnte dann bei einem möglichen ersten Kontakt sein Desinteresse, das er über viele Jahre hinweg gezeigt hatte, vertuschen.

Weshalb bediente er sich nicht seiner vielen Kanäle? Aber die waren unter Umständen zu abgehoben, zu politisch. Außerdem hätte er seine Suche begründen müssen. Einen kleinen Ermittler mit wenig sozialen Kontakten hier in Deutschland konnte man eher benutzen, er würde stillhalten.

Auch würde in der Firma wenig getratscht. Markus merkte, wie ihn diese Überlegung einleuchtete, aber gleichzeitig nicht wirklich befriedigte. Es war vermutlich einfach zu warm, um vernünftig denken zu können.

Er nahm sich sein Mobiltelefon, stellte die Musik etwas leiser und ging in die Küche, um sich ein Getränk zu holen. Auch hier war alles spartanisch eingerichtet, nur auf das Notwendigste beschränkt. Markus trank ein Glas Wasser aus dem Hahn, nahm einen tiefen Schluck und wählte dann eine Nummer aus dem Kurzwahlspeicher.

„Schön, dass ich dich noch erreiche“, sagte er lachend. „Ich dachte, ihr Beamte macht alle um drei Uhr schon Feierabend.“

„Nein, ich bin müde und schlafe heute länger“, kam die postwendende Antwort. „Wolltest du stänkern oder kann ich was für dich tun?“

„Heike Leyfahrdt, ich brauche von dir alle Auskünfte, die du kriegen kannst. Soll ich dir den Nachnamen buchstabieren?“

„Schreibt sich wie die Firma? Ah, dann weiß ich schon Bescheid. Einen Moment – so, ich habe allerdings keine Frau, die so heißt.“

Markus nagte an der Unterlippe, fragte noch einmal nach, bekam aber die gleiche, negative Antwort. Also bedankte er sich, riss noch einen albernen Witz und beendete das Gespräch. Müde ging er zurück ins Wohnzimmer. So kam er also nicht weiter. Er nahm das Bild und betrachtete es. Wenn diese Frau also Heike Leyfahrdt war, lebte sie nicht unter ihrem richtigen Namen hier, vermutlich lebte sie nicht mal hier in der Stadt.

Markus nahm sein Smartphone und scannte das Bild ein. Einige Augenblicke später konnte er es auf dem Display seines Telefons bewundern. Immerhin, dachte er, auf diese Weise lohnt sich der ganze neumodische, technische Aufwand auch einmal. Er lud das Bild einer Suchmaschine für soziale Netzwerke und andere Fundstellen, eben überall, wo solch ein Foto entstanden sein konnte. Diese Maschine war nicht öffentlich zugänglich, aber ein paar Dinge hatte er gelernt in seiner Zeit beim Militär, vor allem, an Stellen zu kommen, an die man nicht so ohne Weiteres kam. Hier machte das Internet keinen Unterschied zum Leben jenseits der virtuellen Realität.

Die Anfrage dauerte eine geraume Weile. Markus merkte, wie es ihn anstrengte, konzentriert zu bleiben. Immer wieder kamen Informationen, die er nicht brauchen konnte und verwerfen musste, denn sonst stellte die Maschine ihre Dienste ein.

Plötzlich öffnete sich ein Kasten mit der Anschrift einer Schule. Daneben tauchte das Bild einer Klasse auf. Der Hintergrund konnte auf jeden Fall passen. Markus vergrößerte das Foto, er musste nicht lange suchen. Da hatte er sie tatsächlich gefunden. Das Bild, das ihm Leyfahrdt mitgegeben hatte, war der Ausschnitt von dieser Fotografie. Er suchte in der Namensliste und zog die Augenbrauen hoch. Die junge Frau hieß Neja Melchior. Allerdings war die Schule eine bekannte Schule am Ort, nicht irgendwo in Mexiko oder Korea. Kurzentschlossen wählte Markus noch einmal die Nummer seines Bekannten und gab den zweiten Namen durch.

„Du hast wohl zur Abwechslung mal einen Job, was? Bundesweit soll ich suchen? Na, das wird aber eine Weile – nein, es dauert gar nicht, ich habe sie gefunden. Sie wohnte tatsächlich mal hier. Aber sie ist verzogen, hier wird sie als ‚unbekannt’ geführt.“

Markus fluchte leise in sich hinein und notierte trotzdem die alte Anschrift. Viel mehr hatte sein Informant in der Behörde nicht zu bieten. Markus bedankte sich und beendete unzufrieden das Gespräch. Eigentlich war das seine beste Karte gewesen, sie hatte nur zum Teil gestochen. Er betrachtete sich noch einmal das Foto der Schulklasse. War das nun Heike Leyfahrdt oder Neja Melchior? Oder waren beide Frauen ein und dieselbe Person?

Er versuchte es bei zwei Anbietern für Mobiltelefone, um an eine Nummer zu kommen, doch zumindest dort war sie nicht registriert. Außerdem fand er heraus, dass sie nicht sozialversicherungsrechtlich gemeldet war. Blieb im Grunde nur die Steuer, doch an solche Informationen kam er nicht so ohne weiteres heran, er kannte niemanden beim Finanzamt.

Er starrte missmutig auf den kleinen Zettel mit den wenigen Informationen. Bereits zu Beginn erwies sich sein Auftrag schwieriger als erwartet. Markus sah auf seine Uhr. Immerhin hatte Leyfahrdt seinen Tarif ohne mit der Wimper zu zucken akzeptiert. Auch wenn Markus es nie ausgenutzt hätte, gab es keine Grenze für die Spesen. Er war lediglich gehalten, alle zwei Tage einen Bericht zu liefern.

Heute Abend hatte er sowieso nichts vor, weshalb nicht die Zeit nutzen? Markus schlüpfte in Jeans und T-Shirt, steckte sich eines der Bilder ein, dazu den Zettel mit der Adresse. Auf dem Rückweg würde er noch einige Dinge einkaufen, zumindest warf er im Vorbeigehen noch einen Blick in den Kühlschrank.

Als er die Wohnung verließ, sah er aus den Augenwinkeln, wie sich die Tür seines Nachbarn öffnete und, vermutlich aufgrund seines unerwarteten Auftauchens, sofort wieder schloss. Kopfschüttelnd machte sich der Ermittler auf den Weg.

Kapitel 4

„Nein“, sagte die alte Frau und beäugte misstrauisch die Visitenkarte und den Ausweis von Markus. Er war extra ein Stück zurückgetreten, um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle an ihr vorbei in die Wohnung stürmen. „Ich habe keine Ahnung, wohin die Frau, die vor mir hier wohnte, verzogen ist.“ Sie warf einen weiteren Blick auf das Foto des Passes.

„Ja“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln in der Stimme, „das hatte ich mir beinahe schon gedacht. Dann entschuldigen Sie die Störung.“ Er streckte die Hand nach seinem Ausweis aus. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend!“ Die Treppenstufe knarrte, als er sich drehte.

„Neja Melchior“, murmelte die Frau, als wolle sie sich selbst noch einmal fragen. Sie war circa sechzig Jahre alt, schmal und trug ein altmodisches, dunkelgrünes Twinset mit einer schwarzen Hose, an der unübersehbar Katzenhaare klebten. Die Frau schüttelte den Kopf und schloss die Tür, ohne noch etwas zu sagen.

Markus, der ohnehin keine besondere Hoffnung in die alte Adresse von Neja Melchior gehabt hatte, zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. Er hatte nicht mehr damit gerechnet, doch in der Drehung sah er, dass sich die Tür erneut öffnete. „Das Akkordeon“, sagte die Frau und schlug sich vor den Kopf. Markus hielt inne und machte kehrt. Wieder meldete sich die Treppenstufe.

„Das Akkordeon?“ wiederholte er ratlos. Der Geruch eines scharfen Reinigers stieg ihm in die Nase, an den Füßen der Frau tauchte eine schwarze Katze auf, brummte und strich der Frau um die Beine.

„Ich wusste doch, da war noch etwas. Ich habe damals die Wohnung übernommen, weil unser Viertel renoviert worden war und ich die Miete dort nicht mehr aufbringen konnte. Die junge Frau damals war sehr freundlich, zeigte mir die Räume. Sie wollte weg, aber ich weiß nicht mehr, wohin. Aber ich bin mir sicher, sie blieb in der Stadt.“ Die Frau sprach langsam und zögerlich, sie ordnete beim Reden ihre Gedanken. Markus unterbrach sie nicht, sah sie nur fragend an.

„Ja, sie zeigte so großes Interesse an meinem Akkordeon. Dabei kann ich das Instrument nicht mal bedienen, aber ich hatte es noch im Keller stehen, mein Neffe hatte es mit auf den Umzugswagen gepackt. Mein Mann hat viele Jahre auf Feiern gespielt. Tja, dann verstarb er. Erst wollte ich es nicht mitnehmen, aber ich brachte es nicht übers Herz, es einfach wegzuwerfen. Und am Umzugstag übergab sie mir die Schlüssel und sah es auf dem Wagen stehen. Sie sagte, sie spiele selbst.“ Sie zögerte. „Haben Sie ein Foto von der Frau?“

Markus zeigte ihr das Bild der jungen Frau vor der Schule. Die Frau bat ihn, einen Moment zu warten und schloss die Tür. Als sie wiederkam, hatte sie eine Brille auf der Nase und gab ihm das Foto zurück. „Das ist aber schon ein älteres Bild“, stellte sie fest. „Aber ich wollte sichergehen. Nein, nein, für Gesichter habe ich ein gutes Gedächtnis. Wissen Sie, ich war dreißig Jahre Schulsekretärin und erkenne bis heute Schüler, die bei uns zur Schule gingen. Ich habe die Frau noch einige Male wiedergesehen. Obwohl, in ihrem Fall war es weniger ihr Gesicht, das muss ich zugeben. Dafür waren die Begegnungen doch zu oberflächlich.“

Markus zeigte sich interessiert, doch er maß den Worten der Frau keine besondere Relevanz zu. „Wann denn?“ fragte er höflich.

„Na, sie ist die junge Frau, die ich schon einige Male vor dem Friedhof habe spielen sehen. Sie sitzt dort und spielt Akkordeon.“

Jetzt war Markus doch einigermaßen überrascht. „Sie … Sie sind sich sicher?“ Nein, dachte er, das kann nicht sein. Schließlich hatte er den Betrieb ihres Vaters gesehen. Die Frau verwechselt etwas.

„Doch, ich war ja selbst verwundert. Gut, das hier ist nicht gerade ein Villenviertel, aber die Leute, die hier wohnen, sind keine Bettler. Sie allein hätte ich vermutlich nicht mal erkannt, doch das Instrument fiel mir natürlich auf. Ich habe allerdings getan, als würde ich es nicht bemerken.“

„Oh, Sie haben ihr das Akkordeon damals geschenkt?“

„Warum nicht? Sie machte den Eindruck, als hätte sie nicht viel Geld. Und ein Instrument gehört in gute Hände, die damit umgehen können. Wenn es ihr jetzt hilft, ihr Leben zu bestreiten, dann würde mich das freuen. Wissen Sie, Paul hatte die Angewohnheit, jedem Bettler ein paar Münzen zu geben. Irgendwie passt das doch, nicht wahr? Außerdem spielte sie ganz zauberhaft.“

Markus nickte. „Also, Sie haben diese Frau kennengelernt, weil sie hier vor Ihnen wohnte. Am Umzugstag schenkten Sie ihr das Akkordeon Ihres Mannes. Und seither haben Sie sie einige Male am Friedhof damit sitzen sehen, wie sie für Passanten spielte, um ein paar Münzen zu erhalten, habe ich das richtig verstanden?“ Markus war noch dabei, die Informationen der Frau zu verdauen.

Die Frau nickte und griff nach der Katze, die sich sofort auf ihrer Armbeuge ausstreckte und herzhaft gähnte.

„Sie wissen aber nicht, wo Sie jetzt lebt, oder?“

„Nein, ich habe keine Ahnung. Ich wollte sie ja zuerst ansprechen, schon wegen des Instrumentes. Aber es war mir dann doch zu peinlich. Vielleicht“, sie senkte die Stimme, „hat sie ja was mit Drogen zu tun oder so.“

„Hat sie denn so berauscht gespielt?“ fragte Markus ganz spontan, doch die Frau sah ihn nur mit großen Augen an und kraulte ihre Katze. Ganz offensichtlich teilte sie seinen Humor nicht.

Markus bedankte sich höflich und verließ das Haus. Gedankenverloren schlenderte er zurück zu seinem Wagen, den er einen Block weiter hatte parken müssen, da er sich hier an einer belebten Hauptstraße mit wenig Abstellflächen für Fahrzeuge befand.

Die Spur war natürlich purer Zufall gewesen. Offenbar war die Frau weder bei der Krankenkasse noch beim Einwohnermeldeamt registriert. Hatte der Alte schon nach ihr suchen lassen? Doch dann wäre er fast zwangsläufig auf die Frau gestoßen, Markus hatte sie ja schließlich auch nach wenigen Stunden ausfindig machen können.

Einen Scanner für fotografierte Gesichter setzte Markus bei einem Mann wie Leyfahrdt voraus, auch wenn er ihn nicht selbst bediente. Und die Anekdote mit dem geschenkten Akkordeon war reiner Zufall gewesen, ein Glückstreffer.

Markus blieb vor einem kleinen Nachbarschaftsgeschäft stehen. Er mochte solche Läden und erledigte hier seine Einkäufe. Er war nicht wählerisch, was die Produkte betraf, insofern hatte er schnell alles beisammen, was er benötigte. Dazu kaufte er noch einige Dinge, die er für die kommenden Tage benötigen würde. Er hatte das Gefühl, dass die Suche noch nicht zu Ende war und eine Weile dauern würde.

Kapitel 5

Am nächsten Tag war Markus früh auf den Beinen. Ehe er seine Suche nach Heike Leyfahrdt fortsetzte, ging er im nahe gelegenen Park eine Stunde laufen, anschließend duschte er und frühstückte. Um diese Uhrzeit war es noch verhältnismäßig frisch, so dass er die Wohnung gut durchlüftete, während er sich Kaffee kochte. Dies tat er noch in einem altmodischen, leicht verbeulten Kupfertopf mit frisch gemahlenen Bohnen ganz nach Art der Afrikaner und Araber. Aus dem Radio quoll die Stimme von Vicky Leandros, die einer verlorenen Liebe nachtrauerte.

Ich habe diese Trauer lange aufgegeben, dachte sich Markus, goss vorsichtig den Kaffee ab und schenkte sich eine großzügig bemessene Tasse ein. Er begnügte sich mit einem Joghurt und einigen Trockenfrüchten. Dabei streckte er die vom Laufen erwachten Beine unter dem Küchentisch aus und sah nach draußen. Bereits jetzt kündigte sich ein warmer Sommertag an. Unten auf der Straße stockte der Berufsverkehr.

An Tagen wie diesen, wenn die Sonne sich langsam über das Laminat seiner Wohnung in den Raum tastete, überkam ihn häufig die Sehnsucht. Jedes Mal fragte er sich, ob er hier zu Hause war, jedes Mal kannte er die Antwort, jedes Mal überhörte er die Stimme in seinem Kopf. Es hätte so viele Dinge gegeben, die er irgendwann noch klären wollte, dazu kamen einige Orte, die er gerne noch einmal besuchen würde. Stand das Haus überhaupt noch? Er hatte so überstürzt fliehen müssen.

Die Gedanken verursachten Kopfschmerzen, wie fast jedes Mal. Markus machte einige Atemübungen und entschied sich dann doch für eine Pille, die den Schmerz überdeckte, aber ihn nicht vertreiben konnte.

Markus packte sich etwas Wasser und einige Müsli-Riegel in eine kleine Umhängetasche und machte sich schließlich auf den Weg zum Friedhof. Er musste ungefähr zwanzig Minuten laufen, entschied sich dagegen, das Auto zu nehmen. Er ging davon aus, dass Heike Leyfahrdt, sollte sie tatsächlich auftauchen, wohl ebenfalls eher zu Fuß kommen würde als mit einem Wagen. Und wenn er sie beobachtete, wollte er so schnell oder langsam sein wie sie. Er hatte beschlossen, sie so zu nennen, wie er den Namen vom alten Leyfahrdt erfahren hatte.

Menschen hasteten an ihm vorbei, einmal schoss ein Radfahrer quer über den Fußweg nur Zentimeter an ihm vorüber und beschimpfte ihn. Markus sah nicht einmal hoch, er war mit den Gedanken bereits auf dem Friedhof. Die Frau mit der Katze hatte ihm nicht verraten, wo sie Heike Leyfahrdt gesehen hatte, aber sie würde kaum mit dem Instrument hin und her laufen, so dass Markus sicher davon ausging, sie zu finden, wenn sie sich dort aufhielt.

Der Friedhof lag gegenüber einer Siedlung mit Reihenhäusern, dahinter begannen die ärmeren Teile der Stadt zu wachsen. Die Zahl der Wohnungen pro Haus wuchs, das Einkommen pro Wohnung fiel. Doch der Vorteil dieser Hochhaus-Fluchten war, dass man hier ziemlich anonym leben konnte, wenn man es denn wollte. Insofern konnte der Friedhof durchaus passend für die Frau sein, wenn sie etwas Geld brauchte, sich dies aber unauffällig und trotzdem einigermaßen legal beschaffen wollte.

Markus öffnete das große, eiserne Tor und betrat den Friedhof. Langsam schlenderte er durch die Reihen mit den Gräbern, warf hin und wieder einen Blick auf die Grabsteine, den Schmuck und die Sinnsprüche, ohne sie näher zu beachten. Um diese Uhrzeit waren hier wenige Menschen unterwegs, die meisten von ihnen kürzten lediglich den Weg zur Arbeit ab und hatten keinen Blick für die Toten rechts und links vom Weg. Sie wussten nicht einmal, dass sie da waren.

Inzwischen war es deutlich wärmer geworden. Am Himmel zeigten sich nur wenige, verstreute Wolken, die dem Blau ein fast kitschiges Postkarten-Gesicht schenkten. Irgendwie lag der Duft gerösteter Mandeln in der Luft. Markus sah sich um und beschloss, dann den Friedhof von außen zu umrunden.

Der Friedhof wurde von einer fast drei Meter hohen, massiven Steinmauer umgeben, die den Eindruck erweckte, dass sie schon viele Jahre die Ruhe der Toten vor dem Lärm der Stadt schützte. Um die Mauer herum führte ein breiter Fußweg, der zu dieser Tageszeit noch im Schatten der hohen Bäume lag, die jenseits der Mauer wuchsen. Auch hier kamen Markus nur wenige Passanten entgegen.

Er umrundete zwei Mal den gesamten Friedhof, was jedes Mal ungefähr eine Viertelstunde dauerte.

---ENDE DER LESEPROBE---