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Im Sommer flirrte das Licht durch die Bäume und Büsche, wurde der See zum Mückenparadies, duftete es nach Himbeerkompott, ließ der Bernhardiner im Schatten des Kastanienbaums die Zunge hängen. Im Winter krachten das Eis im See und die Buchenscheite im Feuer. brutzelten Bratäpfel und pfiffen die Mäuse. Und zu allen Jahreszeiten gab es unbändig fröhliches und trauriges, herrliches und besinnliches Leben ... Kartoffeln mit Stippe - hinter diesem Titel steckt die aufregend schöne, erfüllte, von Erinnerungen pralle Jugendzeit eines Mädchens in der märkischen Heide: das Leben einer alten Grafenfamilie einem höchst ungräflich einfachen Forsthaus, inmitten einer karg-schönen, von unerreichbarem Horizont begrenzten Landschaft. Die Stationen dieser Erinnerung sind die lustigen und dramatischen, höchst alltäglichen und gemütvollen, gefährlichen, traurigen, merkwürdigen, bösen und erheiternden Ereignisse, die sich im Auf und Ab der Tage in Haus und Hof, in Dorf und Wald abspielen. Und für diese Stationen und Ereignisse verantwortlich sind die Menschen, mit denen dieses Mädchen lebt, die sie trifft: verschrobene Onkel, ehrgeizig-lüsterne Erzieherinnen, hysterische Tanten und Streiche spielende Dorfjungen, liebeshungrige Waldhüter und großstädtische Sommerfrischler, die geliebte Mutter und der bärbeißig-gutmütige Vater, der Bruder und dessen Freunde. die für erste, harmlos-ernste Liebesgeschichten sorgen. Das Mädchen, das sich an diese Zeit schreibend erinnert, ist Ilse Gräfin von Bredow, aus altem märkischen Geschlecht stammend, das Jahrhunderte im Brandenburgischen ansässig war. Mit diesem Buch erweist sie sich auf Anhieb als eine Schriftstellerin, die die fähigkeit hat, die Geschichten wirklicher Menschen in Literatur umzusetzen. »... einen besseren Stoff als die Bredows gibt es in der Mark Brandenburg nicht. Sie sind es, an denen man typisch märkische Tugenden und vielleicht auch kleine märkische Schwächen besser studieren kann als an irgendeiner anderen Familie.« Theodor Fontane
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Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2010
Ilse Gräfin von Bredow
Kartoffeln mit Stippe
Eine Kindheit in der märkischen Heide
Fischer e-books
Städter waren in Vaters Augen eine Heimsuchung, eine Landplage, schlimmer als Rüsselkäfer und Waldbrände. «Dieses Volk» spazierte durchs Dorf wie durch einen Zoo, drang ungebeten in Ställe und Gärten, gaffte durch offenstehende Fenster und benutzte die Hochsitze als Liebesversteck. «Diese Leute» trampelten durch das Getreide und über die Wiesen, als seien es Landstraßen, rissen Pilze mit Stumpf und Stiel aus dem Boden, schlossen nie ein Koppeltor hinter sich und brachten es sogar fertig, auf einem Wildschweinwechsel zu zelten, worüber eine Bache mit Frischlingen so in Harnisch geriet, daß sie das Zelt niedertrampelte. Sie verstießen gegen jede gute Sitte, indem sie nur mit einer Badehose bekleidet ins Dorf kamen, und provozierten Mutter, die sich gern in vieles mischte, zu der Bemerkung: «Wir sind hier schließlich nicht im Busch.» Sie mäkelten an allem herum, was sie im Dorf einkauften – «Die Milch sieht ja ziemlich wässerig aus!» – «Sind die Eier auch wirklich frisch?» –, und gingen in trockenen Sommern reichlich sorglos mit Streichhölzern und Feuer im Wald um.
Trotz unserer ablehnenden Haltung waren sie von uns und dem Dorf begeistert. Dabei war es das mickrigste weit und breit. Es gab weder Wasserleitung noch elektrisches Licht, noch Telefon. Weder Kaufmann noch Gasthaus. Einmal wöchentlich kam der Krämer vom Nachbardorf mit Pferd und Wagen und hielt vor den aus Lehm zusammengepappten, mit Efeu verschnürten Fachwerkhäusern, die sich zwischen zwei Seen unter Linden und Kastanien duckten. Er brachte, was der Mensch so zum Leben braucht: Zucker und Salz, Fliegenfänger und Zwirn. Essig und Hefe. Holzpantinen und Mäusefallen. In regenreichen Wochen verwandelte sich die ungepflasterte Dorfstraße in einen trüben See, an dessen Rand man sich vorsichtig, an den Gartenzäunen Halt suchend, entlangtasten mußte, was in mondlosen Nächten, zumal mit Waldmeisterbowle oder Bockbier im Bauch, einige Schwierigkeiten machte. Die Postfrau kam nur, wenn das Wetter danach war, und statt durch das Läuten von Kirchenglocken wurden wir im Sommer von Frau Trägenapps melodischem Ruf: «Komm, Olle, komm!» geweckt, mit dem sie ihre drei Kühe zum Melken von der Koppel lockte, und im Winter vom Bersten des Eises, das wie Böllerschüsse krachte. Am Tage plagten uns die Bremsen, nachts die Mücken, und wer einmal mit den Hornissen im Baumstamm Bekanntschaft gemacht hatte, vermied es, unter Frau Trägenapps riesiger Kastanie im lauschigen Schatten zu sitzen.
Trotzdem nannten die Städter unser Dorf ein «reizendes Fleckchen Erde», ein «nettes kleines Anliegen», werteten unser Forsthaus zum «Herrenhaus» und Vaters Baumschule zum «Park» auf. Wenn sie Vater im Wald beim Aufforsten trafen, schenkten sie ihm eine Zigarre und sagten: «Schwere Arbeit, guter Mann. Wo wohnt denn hier der Graf?»
Vater tat alles, um sie sich vom Leibe zu halten. Er weigerte sich, den Weg ins Nachbardorf, der so voller Löcher war wie ein Karnickelbau voller Gänge, ausbessern zu lassen, und lächelte zufrieden, wenn er beim Kaffeetrinken auf der Veranda aus der Ferne das Aufheulen eines Motors hörte. «Schon wieder einer festgebuttert. Ja, ja, Stadt und Land Hand in Hand.»
Um so unverständlicher war es für die Familie, daß ausgerechnet er sich breitschlagen ließ, ein kleines Haus am Dorfeingang an einen Städter zu vermieten. Er war denn auch so entsetzt über seine Tat, daß er stöhnte: «Trudel, ich muß verrückt gewesen sein.»
Für Mutter war das jedoch eine hochinteressante Neuigkeit. «Was denn? Wer denn?» fragte sie aufgeregt.
«Ich glaube, der Mann ist Arzt», sagte Vater lahm, «so ’ne Art Professor.»
«Wie wundervoll!» rief Mutter. «Wenn jetzt einer von uns krank wird, haben wir sogar eine Kapazität in diesem –» Sie verschluckte das Wort Kaff noch rechtzeitig. Vater war da sehr empfindlich.
Die neuen Mieter kamen mit einem proppevollen Möbelwagen, der prompt im Sand steckenblieb. Es gab viel Geschrei und Aufregung, bis die Sachen unter Dach und Fach waren.
«Wir können gar nicht sagen, wie wir uns auf die Stille freuen und die Natur direkt vor der Haustür», dröhnte der Professor, ein schmächtiger Mann mit beginnender Glatze, aber der Stimme eines Aalverkäufers, und schwenkte den ausgestreckten Arm in einer Bewegung, die auch Frau Nirzwickis altes Gerümpel aus durchlöcherten Eimern, Kochtöpfen und zerbrochenen Tellern zwischen Disteln und Kletten einschloß. «Nur mit der Toilette, lieber Graf, da müßte man sich vielleicht etwas anderes einfallen lassen.»
«Natürlich», sagte Vater, «Sie bekommen ein Plumpsklo ins Haus.»
«Nun ja», sagte der Arzt leicht geniert, «wenn Sie es so nennen wollen.»
Eine Woche später meldete sich das Ehepaar zu einem Antrittsbesuch bei uns an. Silber und Lampen wurden geputzt, und eines der großen Tischtücher mit eingewebtem Wappen wurde aus dem Wäscheschrank geholt. Während Mutter mit Lore, unserem Hausmädchen, den Tisch auszog, entbrannte der übliche Kampf um Vaters Anzug zwischen ihr und Vater, der wie immer nur das Jackett wechseln wollte.
«Einfach unmöglich diese Hose!» rief Mutter. «Sie sieht ja mehr wie ein Kartoffelsack aus.»
«Aber man sieht bei Tisch von mir doch nur die obere Hälfte», verteidigte sich Vater.
«Man muß sich schämen, wie du herumläufst», sagte Mutter. «Im Dorf erzählt man sich schon, der Graf sei wohl pleite.»
«Wirklich?» fragte Vater interessiert. «Nur gut, dann pumpt mich wenigstens keiner an.»
«Aber auf mir bleibt es sitzen.» Mutter machte ein Gesicht voller Selbstmitleid. «Mir wird nachgesagt, ich lasse dich verkommen.»
«Nun beruhige dich mal», sagte Vater.
Er kam denn auch in einem ordentlichen Anzug zu Tisch, der allerdings noch von seinem Großvater stammte und völlig aus der Mode war. Die Frau des Arztes, Frau Stephanie, wie Vater sie in ihrer Abwesenheit nannte, trug eine mit blauen Blümchen bestickte weiße Batistbluse zu einem langen schwarzen Samtrock. Sie hatte das Schwirrend-Sirrende einer Libelle. Eben noch verharrte sie regungslos auf ihrem Stuhl, im nächsten Augenblick fuchtelte sie ungestüm mit den Armen herum, was Vater, der an Mutters ruhige Bewegungen gewöhnt war, furchtbar erschreckte. Auch hatte sie die Angewohnheit, so leise zu sprechen, daß man sich beim Zuhören anstrengen mußte, um alles mitzubekommen.
Während Lore Rehrücken und Sahnensoße servierte und die Kerzen vom Kronleuchter auf das Tischtuch kleckerten, weil ein Teil der Glasmanschetten zerbrochen war, schleppte sich die Unterhaltung so dahin. Man sprach von dem außergewöhnlich schönen Sommer, der leider außergewöhnlich viel Ungeziefer hervorbrachte, und lobte den zarten Rehrücken, der Mamsell außergewöhnlich gut geraten war. Frau Stephanie drehte den Kompotteller um und sagte: «Aha, Berliner Porzellan», nahm einen Silberlöffel genau in Augenschein und sagte: «Fadenmuster.» Zum Glück kam irgendwann das Gespräch auf Pferde, und damit war der Abend gerettet, denn der Professor entpuppte sich als passionierter Reiter, und mit Pferden kannten wir uns aus.
So unterhielten sich denn die Herren sehr ausführlich über Vollblüter, Halbblüter und Warmblüter, sprachen von Jagd- und Dressurpferden, von Pferderennen und Pferdewetten. Frau Stephanie und Mutter hörten zu, verstanden sich ohne Worte und lächelten sich an. «Männer», schienen ihre Blicke zu sagen.
Nachdem sich die Gäste endlich verabschiedet hatten, schloß Vater erleichtert hinter ihnen die Tür. «Ganz nette Leute soweit», sagte er und gähnte mit knackendem Kiefer. «Vor allem der Mann, der hat sogar mal sein Reitpferd operiert.»
«Mach keine Witze», sagte Mutter und leerte die Aschenbecher.
«Ehrenwort. Mit richtiger Narkose im Operationssaal.»
«Das ist ein Arzt!» sagte Mutter andachtsvoll.
«Muß mit seiner Klinik ein Vermögen verdienen», sagte Vater. «Aber bei dem einen Besuch wollen wir es auch belassen, denke ich. Könnte sonst schnell lästig werden, diese Menschen hier dauernd rumkrauchen zu haben.»
Mutter war da ganz anderer Meinung. Bald sprach sie nur noch von Professors, zitierte Professors und hielt sich mehr bei ihnen als bei uns auf. Sie schleppte ihnen die mit den Bildern von Tanten, Onkels, Großmüttern, Großvätern, Kusinen und Vettern gefüllten Familienalben ins Haus, und Frau Stephanie äußerte ihr Erstaunen über so viel Verwandtschaft. Sie selbst hatte nur einen Onkel aufzuweisen, und an den konnte sie sich auch nur noch recht vage erinnern. Von den Kindheitserinnerungen kam man allmählich auf vertraulichere Dinge zu sprechen. Frau Stephanie sagte zu Mutter, Kinder seien für sie das Höchste, und niemand solle denken, es liege an ihr, daß sie keine habe, und Mutter revanchierte sich mit tiefen Seufzern über Vaters Marotten. Während der Professor auf einer plüschigen braunen Stute, die bisher nur im Reitstall gegangen war und deshalb vor jedem Schatten erschrak, durch die Gegend sprengte und sie mit lautem «Ho! Ho!» zu beruhigen versuchte, wanderten die beiden Damen Arm in Arm durchs Dorf, gingen gemeinsam baden oder Pilze sammeln und fuhren sogar gelegentlich in Frau Stephanies zitronengelbem Adler nach Berlin. Vater fühlte sich vernachlässigt. «Möchte bloß wissen, was du an dieser Mücke findest», sagte er. «Die soll erst mal lernen, anständig den Mund aufzumachen. Das Gehauche kann ja keiner verstehen.»
«Nicht jeder ist so schwerhörig wie du», sagte Mutter.
«Ständig bist du auf Achse.» Vater war verärgert, daß Mutter ihn so viel allein ließ. «Um die Kinder kümmerst du dich überhaupt nicht mehr.»
«Das ist ja ganz was Neues», sagte Mutter. «Wer predigt denn immer, sie sollen selbständiger werden?»
«Hauptsache, du amüsierst dich», sagte Vater. «An mich denkt sowieso niemand.»
Er war denn auch recht kühl zu Mutters neuer Freundin und verzog sich, wenn er sie nur von weitem sah.
Dem Professor gefiel unser Dorf so gut, daß er beschloß, nicht nur die Wochenenden, sondern auch seinen Jahresurlaub bei uns zu verleben. Frau Stephanie fand das eine gute Idee, bis der Professor zu einem Kongreß mußte und Mutter ihre jährliche Rundreise zu den Geschwistern antrat. Der große Plattenkoffer wurde vom Boden geholt, und er und Mutter wurden zur Kleinbahn gebracht, nachdem sie uns vorher reichlich mit Ermahnungen eingedeckt hatte: «Kein Wasser auf Gurken und Kirschen trinken, nicht ohne Schwimmweste Kahn fahren, nicht barfuß radeln.»
Frau Stephanie, von Mann und Freundin allein gelassen, begann sich zu mopsen. Durch die Brille der Langeweile betrachtet, erschien ihr Vater plötzlich nicht mehr als dösiger Krautjunker, sondern eher als kerniger, sympathischer Naturbursche, der nur darauf wartete, von einer erfahrenen Frau geformt zu werden. Doch erwies es sich weiterhin als schwierig, mit ihm Kontakt zu bekommen. In der Waidmannssprache gesagt: Er sprang ab, sobald er ihre Stimme auf dem Hof hörte.
«Was die Mücke bloß will», flüsterte er mir zu und legte warnend den Zeigefinger auf den Mund, als ich ihn hinter einer Holzmiete versteckt entdeckte. «Kann einen das Mensch nicht in Ruhe lassen?»
Frau Stephanie war beharrlich. Sie ließ sich etwas einfallen, um ihn anzuködern. Aus Berlin brachte sie kostbare Ziersträucher mit und lud sie bei uns im Garten ab. Teils freute sich Vater über das Geschenk, teils bereitete es ihm Unbehagen. Auf jeden Fall kam er nicht darum herum, sich dafür zu bedanken, und sie nutzte sogleich die Gelegenheit, um sich zur Vesper bei uns einzuladen, was seine Laune nicht gerade verbesserte. Verdrießlich sah er sich im Wohnzimmer um. «Räumt hier gefälligst mal auf», scheuchte er uns. «Liegt ’ne Menge Kram von euch rum, und Sie, Lore, sorgen für Blumen in den Vasen.»
«Ich?!» sagte Lore, als hätte man von ihr verlangt, die Schweine zu füttern. «Das ist nicht meine Arbeit, das macht Frau Gräfin immer selbst.»
«Die ist ja nun mal verreist», sagte Vater. «Aber ich möchte es trotzdem ein bißchen hübsch haben. Außerdem bekommen wir Besuch.»
Lore sah pikiert zur Decke. «Ist denn noch Kuchen da?» fragte Vater.
«Mamsell ist zur Stadt gefahren», sagte Lore, «und sie hat’s nicht gern, wenn ich an die Vorräte gehe.»
«Zum Donnerwetter», schrie Vater, «wenn ich heut nachmittag nicht einen tadellos gedeckten Vespertisch vorfinde, dann –» Lore wartete das Ende des Satzes nicht ab, sie verschwand wie der Blitz.
Nachdem sie erst einmal im Haus Fuß gefaßt hatte, eroberte Frau Stephanie unseren Vater so unauffällig wie eine Ameise den Honigtopf – auch wenn Lore ihr Bestes tat, sie daran zu hindern. So vergaß sie ganz aus Versehen, die Tür an der Treppe, die von der Küche nach oben führte, zu schließen, woraufhin Argo, unser Bernhardiner, nach oben wetzte und den Gast mit bedrohlichem Knurren umschnüffelte. Auch wuselte Lore ständig im Wohnzimmer herum und störte die Gemütlichkeit, indem sie die Stühle hochstellte und behauptete, sie müsse jetzt gründlich saubermachen.
Trotz alledem hatte Frau Stephanie ihr Wild bald so weit, daß sie sogar die Abende bei uns verbrachte und Vater ab halb acht alle Augenblick auf die Uhr sah, ob endlich die Zeit gekommen sei, uns ins Bett zu schicken. Vielleicht war Mutter nicht ganz unschuldig an diesem Stand der Dinge, denn sie schilderte zu Vaters Mißvergnügen sehr anschaulich in ihren Briefen, was ihr bei den Geschwistern an Amüsements geboten wurde. Glücklicherweise hielt Lore die Augen offen. Mamsell war gerade dabei, mir das Haar mit Gelbei zu waschen, da kam Lore, das Tablett voller Gläser, in die Küche gefegt. «Sie will mit ihm nach Berlin machen», flüsterte sie Mamsell zu.
«Man möchte sprechen, es ist nicht möglich», sagte Mamsell und spülte mein Haar so heiß, daß ich aufjaulte. Dann öffnete sie die Herdtür, setzte mich zum Haaretrocknen davor, band ihre Schürze ab und walzte nach oben. Es blieb ihr großes Geheimnis, wie sie es fertigbrachte, Vater zu beschwatzen, mich und meinen Freund Bruno mitzunehmen. Wahrscheinlich war Vater einfach zu feige, nein zu sagen. Außerdem liebte er es, seine Familie um sich zu haben.
Vater schien sein voreilig gegebenes Versprechen zu bereuen. Jedenfalls musterte er Bruno, der vor Aufregung noch häufiger als sonst an seinen Fingerspitzen schnüffelte, und mich recht muffig und drohte: «Benehmt euch bloß anständig, sonst könnt ihr was erleben!»
Frau Stephanie, die kinderliebe, zeigte bei unserem Anblick nur gedämpte Freude. Vor allem Bruno, der im Dorf den Beinamen «der Krepel» trug, weil er Epileptiker war, betrachtete sie voller Unbehagen, als könne er sich jeden Moment in Krämpfen vor ihren Füßen wälzen.
«Es macht Ihnen hoffentlich nichts aus», sagte mein Vater verlegen.
Frau Stephanie warf ihm einen spöttischen Blick zu und nahm, ohne etwas darauf zu erwidern, hinter dem Lenkrad Platz. Aber Vater war nur empfindsam, wenn es ihm in den Kram paßte.
«Na, dann rein mit euch», sagte er und schob uns auf den Rücksitz. Mamsell kam noch mit harten Eiern und Brause und ermahnte Vater, nicht zu vergessen, Schuhe für mich zu kaufen, Größe 36 und genügend Platz für die Zehen.
Zuerst mußten wir bis zur Hauptstraße den Staub eines Heuwagens schlucken, weil der Weg zum Überholen zu schmal war, und dann wurde es Bruno schlecht. In Berlin fing es an zu regnen. Wir gingen in den Zoo und kauften dann Schuhe für mich und Laubfrösche für die Geschwister. Bruno und ich rempelten ungeschickt die Leute an, die uns empört ansahen und schimpften: «Gute Frau, können Sie nicht besser auf Ihre Kinder aufpassen?»
Vater blieb plötzlich stehen, als fiele ihm etwas Wichtiges ein, und sagte: «Kann ich Sie einen Augenblick mit den Kindern allein lassen? Ich bin in zehn Minuten wieder zurück, muß nur eben zur Bank.» Aber ich sah, wie er mit großen Schritten in einer Kneipe verschwand.
Frau Stephanie sagte gar nichts mehr. Sie war so fertig, daß sie unserem Betteln nachgab und in das Kaufhaus hineinging, vor dem uns Vater zurückgelassen hatte. Sie ließ sich vor einem Tischchen mit Schnittmustern nieder und sagte matt: «Ihr könnt euch in der Spielzeugabteilung umgucken, aber kommt wieder hierher zurück.»
Als wir in der Mantelabteilung angekommen waren, vermißte ich plötzlich Bruno. Soviel ich auch herumrannte und nach ihm suchte, er war nirgends zu entdecken. Ich lief heulend zu Frau Stephanie zurück, und sie alarmierte den Geschäftsführer. Das gesamte Personal beteiligte sich an der Suche nach Bruno, und der Geschäftsführer sagte: «Nichts Schlimmeres als diese Leute aus der Provinz.» Frau Stephanie zischte mich an, das habe man nun von seiner Gutmütigkeit, und der Proletenjunge könne sich auf was gefaßt machen, als Bruno aus einer Mantelreihe hervorgekrochen kam und sagte: «Eins, zwei, drei, Anschlag frei.»
Vor dem Kaufhaus lief Vater bereits unruhig auf und ab, stürzte auf uns zu, als er uns kommen sah, und fragte: «Ist was passiert?» Diesmal machte es keine Schwierigkeiten, Frau Stephanie zu verstehen. Sie schrie so laut, daß sich die Passanten nach uns umdrehten: «Bin ich vielleicht Ihr Kindermädchen?» Und dann schluchzte sie haltlos – so wie Brunos Mutter, wenn sie einen über den Durst getrunken hatte. Vater schob Bruno und mich hastig in eine Konditorei, bestellte für jeden einen Mohrenkopf und eine Tasse Schokolade und sagte: «Ihr bleibt hier sitzen, bis ich euch abhole.» Dann ging er mit der vergrämten Frau Stephanie davon.
Nachdem wir den letzten Kuchenkrümel aufgetitscht und den kleinsten Rest Schokolade aus der Tasse geleckt hatten, begannen wir uns in der Konditorei umzusehen. Wir gingen zum Kuchenbüfett, und das Wasser lief uns im Munde zusammen. Die Serviererin hieb Bruno mit ihrer Serviette auf die Finger und drohte: «Untersteht euch, hier was anzufassen.» Und zu ihrer Kollegin gewandt: «Recht merkwürdig. Zwei Stunden läßt man jetzt die Kinder schon hier allein.» Dann brachte sie jedem von uns aus lauter Herzensgüte ein Glas Wasser und zwei Strohhalme.
Fast hätte die Dame hinter dem Büfett die Polizei geholt, als Vater und Frau Stephanie endlich zurückkamen. Frau Stephanie roch nach einem wunderbaren Parfüm, und ihre Augen glänzten. Vater bestellte eine Flasche Sekt und für uns großzügig Torte und Schlagsahne, und die Serviererin sagte: «Gnä’ Frau, was für reizende Kinder.» Frau Stephanie war wie umgewandelt und behielt ihre gute Laune auch auf der Rückfahrt, obwohl einer der Laubfrösche aus dem Karton hüpfte und zwischen ihrem Fuß und dem Gaspedal sein Leben aushauchte.
Zwei Tage später kam Mutter von ihrer Reise zurück. Ich zeigte ihr gleich meine neuen beigen Schnallenschuhe, und Mutter sagte: «Wie unpraktisch», während ich ihr erzählte, was wir in Berlin erlebt hatten. Mutter sagte «so, so» und «hm, hm» und war recht kühl zu Vater. Als ich mit ihr allein war, benutzte ich die Gelegenheit, Lore eins auszuwischen, weil sie mir ihr Rad nicht borgen wollte. Ich flüsterte Mutter ins Ohr: «Lore hat gesagt, Vater ist ein alter Idiot.» Und Mutter antwortete ohne jeden Zusammenhang: «Hoffentlich bleibt sie uns noch recht lange erhalten, mein Kind.»
Ein paar Tage darauf fragte Vater Mutter: «Bist du denn schon bei Frau Stephanie gewesen?» Mutter sagte: «Du tust gerade so, als ob ich nichts Besseres vorhätte. So wichtig sind mir diese Leute nun wirklich nicht.» Vater sagte einlenkend: «Ich denke, ihr seid Freundinnen?»
«Das ist wohl leicht übertrieben», sagte Mutter, «dazu sprechen wir nicht dieselbe Sprache. Sie hat mir irgendwie leid getan. Diese Städter wissen ja nichts mit sich und ihrer Zeit anzufangen. Muß ziemlich scheußlich für dich gewesen sein, sie so viel auf dem Hals zu haben, wie ich von Mamsell gehört habe.»
Vater wechselte das Thema und sagte: «Schön, daß du wieder da bist.»
Es muß im selben Jahr gewesen sein, daß eine von Mutters unverheirateten Kusinen starb und meine Schwester als ihr Patenkind in ihrem Testament bedachte. So erbte die zehnjährige Vera sechs leicht verbogene silberne Gabeln, einen Spitzenschal, einen Elfenbeinfächer, drei Wappentischtücher für zwanzig Personen und vierhundert Reichsmark. Überwältigt von dem plötzlichen Reichtum, zog sie sich auf die alte Eiche am See zurück, um in Ruhe darüber nachzudenken. Als sie sah, daß ich ihr folgte, kletterte sie an dem Eichelhähernest vorbei bis in die Baumkrone, wo die Äste kaum noch trugen. Wütend machte ich kehrt. Ich zog um dem Stamm mit dem Absatz einen Kreis und sprach den Zauberbann. Annelise Reimers hatte ihn mir gegen eine Stange Lakritze anvertraut. Nun würde Vera dort oben hocken müssen, bis sie zu einer Vogelscheuche geschrumpft war. Zu meiner Überraschung erschien sie jedoch eine Stunde später bereits wieder frisch und munter zum Mittagessen.
Bei Tisch gab es zwischen den Eltern das übliche Gezerre über die Anschaffung eines Telefons. Ich beschäftigte mich damit, die Kirschkerne auf meinem Kompotteller auszuzählen: «Der erste macht’s um die Dukaten, der zweite um ein schön Gesicht, der dritte, weil man’s ihm geraten, der vierte, weil Mama so spricht, der fünft und sechste sind so dumm, die wissen selber nicht, warum. Der erste …»
«Ich will mir ein Fohlen kaufen», dröhnte meine Schwester in die Auseinandersetzung der Eltern.
«Kinder bei Tisch – stumm wie ein Fisch.» Vater ärgerte sich, daß Mutter ihn schon wieder mit dem Telefon behelligte. «Vielleicht könntest du deiner Tochter abgewöhnen, ständig dazwischenzuquatschen.»
«Wo wir in dieser ‹Hütte› und dieser Wildnis schon kein elektrisches Licht und keine Kanalisation haben», sagte Mutter, die groß im Überhören war.
«Damit mir die Telefonmasten den Wald verschandeln!»
«Braucht nur mal jemand krank zu werden.»
«Ein ordentlicher Mensch wird nicht krank.»
«Ich will mir ein Fohlen von dem Geld kaufen.» Veras Stimme war weiß Gott nicht zu überhören.
Die Eltern blickten sie an. «Es handelt sich um die vierhundert Mark von Tante Ellinor», fühlte Mutter sich bemüßigt, Vater aufzuklären, «und nun –»
«Leide ich an Gedächtnisschwund?» unterbrach sie Vater und schnitt mit künstlerischer Sorgfalt lauter kleine Kreuze aus seiner Scheibe Brot, beschmierte jedes Kreuz dick mit Butter und schob eins nach dem anderen in den Mund.
«Warum willst du durchaus ein Pferd? Das kostet nur. Ich werde das Geld lieber für dich anlegen.»
Für Vater gab es nichts Schöneres, als jeden aus dem Forstgut herausgewirtschafteten Groschen in ein todsicheres Unternehmen mit hoher Rendite zu stecken – meist nach einem Geheimtip, den er von irgendeinem legendären Regimentskameraden aus dem Krieg bekommen hatte –, das dann ebenso todsicher Konkurs machte. «Nehmen wir mal an …» Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und errechnete mit Zins und Zinseszins einen sagenhaften Gewinn in zehn Jahren. Wir verstanden kein Wort.
An Mutters Hals zeigten sich rote Flecke. «Das Kind soll sich lieber was Hübsches zum Anziehen kaufen. Ich werde mit ihr nach Berlin fahren …»
Mutter bekam ihren Einkaufsblick. In unseren Schränken hingen Kleider, die sich gut in einem Ballsaal ausgenommen hätten, aber für Spiele in Kuhställen und auf Heuböden kaum geeignet waren.
«Ein Fohlen», wiederholte meine Schwester mit ihrer Trompetenstimme.
«Wir haben es nur gut gemeint», sagte Vater beleidigt – da ihrer beider Vorschläge auf Ablehnung gestoßen waren, Mutter großmütig mit einbeziehend. «Wie du willst, es ist dein Geld, obwohl ich mich frage, wo ich das Geld für all den Hafer hernehmen soll.»
Ich weiß nicht, wie viele Dörfer der Umgegend wir mit unseren Rädern abstrampelten, wie viele Pferdebeine wir fachmännisch abtasteten. Vater hatte es längst satt bekommen, uns dabei zu begleiten. Das Fohlen, für das wir uns schließlich entschieden, übertraf seine schlimmsten Erwartungen. Es war eine Mißgeburt, eine Katastrophe, eine elende Krücke, das Futter und Stroh nicht wert.
Vera war ein spontanes Kind. Es scherte sie nicht, was wir über ihren Kauf dachten. Seit das Fohlen aus einem dunklen Verschlag herausgetapert gekommen war und begonnen hatte, gierig an einem ihrer Zöpfe zu nuckeln, hatte es ihr Herz berührt.
Unser älterer Bruder Billi, der nur noch in den Ferien zu Hause war, blickte geringschätzig auf die Eselsohren, den kleinen Kopf auf dem zu kurzen Hals, die dicken Stampferchen fern von jeder rassigen Schlaksigkeit, dann schob er seine Schiebermütze ins Genick und gab kund, was wir alle dachten: «Du hast sie ja wohl nicht mehr alle …»
«Pah!» machte Vera selbstsicher. Sie war glücklich. Der Bauer nicht minder. Zuvorkommend bot er sich sogar an, das Fohlen in seine neue Heimat zu bringen.
Wilhelm Wenzel, unser Stallknecht, stand, die Daumen in den Hosenträgern verhakt, in der Stalltür und beobachtete, wie das Fohlen schwächlich über den Hof trappelte.
«Einen schönen Schinder habt ihr euch da andrehen lassen. Und wer hat die Arbeit? Natürlich wieder ich.» Er bewegte unzufrieden mit der Zunge einen seiner großen gelben Vorderzähne, der ihm wie ein Stück Runkelrübe aus dem Mund hing und ihm schon seit Wochen zu schaffen machte.
«Es heißt Wintermärchen», sagte Vera stolz.
«Komischer Name für ’n Hengst.» Er schnaubte kräftig in ein riesiges rotkariertes Taschentuch, das früher einmal ein Zuckersäckchen gewesen war und ihm, mit vier Knoten versehen, auch als Sonnenschutz diente.
«Na ja, mir soll’s recht sein. Eins mehr oder weniger, was macht das schon.»
Er und Vera waren dicke Tunke. Sie verbrachte ganze Nachmittage bei ihm im Stall, saß auf der Häckselkiste und sah zu, wie er das Stroh wendete, Heu aufstakte oder Futter mischte. Er ließ sie von seinem Kautabak priemen, zeigte ihr, wie man einer Glucke das Brüten abgewöhnt – «Mußte einen Tag in ’n Kartoffelsack stecken und aufhängen» – wie man Kaninchen mit einem Handkantenschlag ins Genick tötete und daß die Milch vom Wolfskraut das beste Mittel gegen Warzen ist. Als einzige von uns durfte Vera ihn in seiner rumpeligen Küche mit dem offenen Kamin über dem Herd besuchen, pechschwarzen Zichorienkaffee trinken, Speckbrot übern Daumen essen und mit seinem Schäferhund Leoleinichen spielen. Er kaufte ihr beim Lumpenhändler straßbesetzte Schuhschnallen und Lakritze, die sie mir hämisch unter die Nase hielt.
Mutter sah diese Freundschaft nicht gern.
«Was ist schon dabei», sagte Vater.
«Immerhin hat er schon mal gesessen.»
«Aber nicht wegen Verführung Minderjähriger.» Vater grinste.
«Ist Brandstiftung vielleicht nichts?»
«Ach, das bißchen Scheune», sagte Vater milde.
Wie Wenzel behauptete, hatte er aus reiner Gefälligkeit die hochversicherte Scheune seines früheren Arbeitgebers angezündet. Dabei waren ihm seine Kurzsichtigkeit und sein Übereifer zum Verhängnis geworden. Als er die Drillmaschine in die brennende Scheune schob, hatte er den Landjäger übersehen, der ihn, hinter einem Leiterwagen versteckt, beobachtete. Der Landjäger wurde befördert, und Wenzel kam ins Gefängnis. Seitdem saß ihm die Angst in den Knochen. Wenn irgendwo eine Feldscheune oder eine Strohmiete in Flammen aufging und das Feuerhorn zu hören war, begannen seine Hände zu zittern. Dann lief er aufgeregt im Hof herum: «Ich hab’s nicht angezündet! Ich hab’s nicht angezündet!» Wenzels Vergehen wurde in der Umgegend mit der gleichen Nachsicht beurteilt wie Wildern oder Holzdiebstahl.
«Alfred», sagte Mutter, «du weißt sehr gut, was ich meine. Sag, was du willst, mir bleibt der Kerl unheimlich.»
Auch ich mochte Wenzel nicht, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Er verpetzte mich, wo er konnte, bei Vater und behauptete, ich sei nur darauf aus, ihn und sein geliebtes Leoleinichen zu ärgern. Dabei war der Schäferhund so bissig, daß ich froh war, wenn er an der Kette lag. Ich ärgerte mich, daß meine Schwester sich so viel bei ihm herausnehmen durfte, und glaubte fest, daß er es gewesen war, der mein Ziegenlamm zum Krüppel gemacht hatte. Vater hatte mir erlaubt, mein Ziegenlamm Schnucki in einer leeren Box im Pferdestall unterzubringen. Eines Tages fand ich es kläglich meckernd mit gebrochenem Bein auf dem Stroh ausgestreckt. Wahrscheinlich hatte Wenzel es beim Ausmisten mit dem Besenstiel geschlagen, und das verängstigte Tier war auf die Krippe gesprungen. «Du bist schuld!» hatte ich ihn, außer mir vor Wut, angeschrien.
«Für dich immer noch Herr Wenzel und Sie.» Sein grauer Schnurrbart zuckte. «Kann ich was dafür, wenn das Aas so wild ist?»
Da hatte ich das böse Wort gesagt: «Oller Brandstifter!»
Der Peitschenriemen biß in meinen Oberarm. Ich kreischte und floh.
«Dich erwisch ich schon noch!» schrie er hinter mir her. «Komm du mir noch mal in die Quere!»