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Lesen Sie die dritte Folge des Lassiter-Fünfteilers!
Nach den aufreibenden Ereignissen im Carnegie-Stahlwerk in Pittsburgh führt Lassiters weiterer Weg nach New York. Dort hofft er auf Brody Graham zu treffen, einen jener Drahtzieher, die mit List und Tücke unliebsame Konkurrenten aus dem Geschäft drängen.
Schon bald aber taucht ein hartgesottener Gegner auf, der wie eine Mauer vor Graham steht und selbst mit Lassiters Kampferfahrung unüberwindlich scheint. Und auch Florence Warne hat längst nicht aufgegeben, ihren ehemaligen Mitstreiter töten zu wollen.
Brody Graham aber wäre nicht der erfolgreiche Geschäftsmann, würde er nicht versuchen, aus Lassiters Ansinnen, ihm an den Kragen zu gehen, Kapital zu schlagen. Der Plan, den der Bankier in der Hinterhand hält, ist teuflisch!
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Seitenzahl: 153
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Inferno in der Bowery Bay
Vorschau
Impressum
Infernoin derBowery Bay
von Kolja van Horn
Mit regloser Miene ließ Brody Graham die Depesche sinken. »Schlechte Nachrichten, Sir?«, fragte Bruno Nasbit, sein Sekretär.
»Zumindest keine guten«, gab Graham mürrisch zurück. »Ein Bursche namens Lassiter hat in Pittsburgh gehörigen Ärger gemacht – und nun ist er auf dem Weg hierher.«
»Soll ich ihn kaltmachen lassen?«, fragte Nasbit so ungerührt, als hätte er seinem Boss angeboten, nach einer Droschke zu rufen.
»Nur nichts überstürzen, Bruno.« Graham übergab dem Sekretär das Papier. »Brewster hat beschrieben, wie diese Laus aussieht. Außerdem benennt er den Zug, mit dem Lassiter vermutlich heute Abend die Grand Central Station erreicht. Setze ein paar unserer besten Leute auf ihn an. Zunächst will ich wissen, wer er ist und was er hier in New York vorhat.«
Downtown Manhattan, New York 1889 – fünf Jahre zuvor
»Wer zum Teufel ist dieses vermaledeite Schlitzauge?« Der elegant gekleidete Gentleman mit dem taubenblauen Bowler musste fast schreien, um das Johlen des Publikums unten an den Gitterstäben, die den Ring umgrenzten, zu übertönen. Sein untersetzter, stiernackiger Nebenmann konnte darauf nur ratlos die Schultern heben, auf denen dichtes, rotbraunes Haar wuchs. Was man deshalb sehen konnte, weil er lediglich ein Unterhemd trug, das vor Schmutz starrte. Wie viele andere Gäste der Veranstaltung hatte er so wenig wie möglich am Leib, denn New York lag unter lähmender Hundstage-Hitze, und die Temperatur in der Halle noch um ein paar Grad höher als draußen an den Docks.
Im ehemaligen Schlachthof stank es immer noch nach Fleischabfällen, Blut und Tod, was daran liegen mochte, dass die neue Verwendung der Halle gar nicht so weit entfernt lag von deren ursprünglicher Nutzung.
Ein schmaler Durchlass war in der Arena geöffnet worden. Man hatte den Bewusstlosen an den Handgelenken herausgezerrt und dabei eine doppelte Blutspur auf dem nur dünn mit Sägespänen bedeckten Boden hinterlassen, bevor ein drahtiger, blutjunger Asiate den Ring betrat.
Sein Gegner, ein kahlköpfiger Koloss von einem Kämpfer, rieb sich erwartungsvoll die Hände, deren Bandagen schmutzig rot waren vom Blut seiner Gegner. Der Asiate war bereits sein vierter Herausforderer an diesem Abend, doch der Hüne wirkte nicht im Mindesten erschöpft.
Der Bowlerträger schüttelte missbilligend den Kopf.
»Was soll der Unsinn? Geht Palmetti das Schlachtvieh aus? Dieses schmächtige Bürschchen da hält doch keine halbe Minute durch, bis Bill ihm das Rückgrat gebrochen hat.« Er warf seinem Nebenmann einen kurzen Blick zu. »Ich frage dich, wie sich bei so armseligem Material eine anständige Wettquote erzielen lässt, Lou?«
Der Angesprochene zögerte mit einer Antwort, weil er durchaus gebannt dabei zusah, wie der drahtige Asiate seinen um zwei Köpfe größeren Gegner konzentriert in den Blick nahm und, beide Arme leicht vorgestreckt, am Rand des Käfigs entlang schlich. Er ignorierte die höhnischen Rufe auf der anderen Seite der Gitter und beschrieb einen Halbkreis.
Butcher Bill drehte sich, um ihn im Blick zu behalten. Nach einer Weile, als er das Gefühl bekam, der schmächtige Bursche würde einfach nur auf Zeit spielen wollen, grinste er höhnisch und warf auffordernd die Hände in die Luft. Die Menge begann zu pfeifen, spöttische und hämische Rufe erklangen.
»Mit so etwas lässt sich kein Geld verdienen«, brummte der Bowlerträger. Milde Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit.
»Abwarten«, erwiderte Lou Harrod, dem oben in Harlem eine Einrichtung gehörte, in der er Straßenjungs im Boxkampf ausbildete. Der ein oder andere seiner Eleven hatte sich auch hier im Käfig von Palmetti die ersten Meriten verdient. »Der Junge bewegt sich wie eine Raubkatze. Außerdem hat Butcher Bill vorhin ein paar ziemlich deftige Leberhaken kassiert. Er ist nicht mehr so fidel, wie er sich gibt.«
Der Bowlerträger zündete sich eine teure Zigarre an, schmauchte und verzog dabei verächtlich die Lippen. »Lächerlich. Bill steht wie eine Eins, das siehst du doch selbst.«
Als wolle Butcher Bill die Worte des Gentlemans unterstreichen, ließ er seine Schultern kreisen, bevor er leicht vorgebeugt in eine Kampfhaltung wechselte und beide Hände zu Fäusten ballte. Er bleckte das Gebiss und senkte den klobigen Schädel. Haltung und Statur waren der Inbegriff von Brutalität.
Sein Gegner schien davon wenig beeindruckt. Er verzog keine Miene, trat Butcher Bill aber ein paar Schritte entgegen, bis die Distanz zwischen ihnen weniger als sechs Yards betrug.
Das Stimmengewirr jenseits der Gitter ebbte ab, als das Publikum bemerkte, dass der Kampf kurz davor stand, zu beginnen. Auch der Bowlerträger und Harrod beugten sich in ihrer provisorischen Loge auf der Galerie des ehemaligen Schlachthofs erwartungsvoll vor. Ihre Blicke weiteten sich, als der Asiate die offene Handfläche vorstreckte und mehrmals einladend die Finger krümmte.
Harrods Mundwinkel hoben sich amüsiert. »Der Junge hat Nerven«, murmelte er. »Das muss der Neid ihm lassen.«
Butcher Bill hingegen schien der provozierenden Geste nichts Heiteres abgewinnen zu können. Er fletschte die Zähne und stieß ein gutturales Grunzen aus.
Dann stürmte er ohne Warnung auf den Asiaten zu wie ein entfesselter Bison.
Der Asiate rührte sich nicht vom Fleck, ging nur mit gespreizten Beinen halb in die Hocke und streckte beide Arme seitwärts von sich wie Flügel, anstatt sie schützend nach vorn zu strecken. Der Bowlerträger verzog die Lippen und verengte den Blick, um sich auf den brutalen Aufprall vorzubereiten, bei dem gleich zweifellos Blut spritzen und Knochen brechen würden.
Doch zwei Sekunden später riss er verblüfft die Augen wieder auf. Denn Butcher Bill lief ins Leere und knallte in vollem Lauf gegen die Gitterstäbe der Kampfarena, die daraufhin sichtbar erbebten. Das Publikum dahinter wich mit lautem Stöhnen zurück.
»Was zur Hölle war das denn?«, stieß er entgeistert hervor, weil er kaum wahrgenommen hatte, wie der Asiate dem Angriff entgangen war. Der Kämpfer hatte sich derart schnell bewegt, dass sein Sprung durch die Luft ausgesehen hatte wie eine Sinnestäuschung. Dabei musste er über den Kopf des heranstürmenden Butcher Bill gesegelt und sich hoch über seinem Kontrahenten gedreht haben, denn nun stand er schon wieder kampfbereit, die Hände zu flachen Kanten statt zu Fäusten erhoben, auf dem Boden und starrte ruhig auf seinen Gegner, der sich benommen aus dem Staub erhob.
Butcher Bills stumpfe Nase schien gebrochen und stand nicht mehr in derselben Position im Gesicht wie noch kurz zuvor. Aus einer klaffenden Platzwunde links auf der breiten Stirn lief Blut herab, und er wischte es sich mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Er wirkte wie ein Bär, der gerade zum ersten Mal Bekanntschaft mit einem Wespennest gemacht hatte: überrascht, fast verstört. Aber auch von lodernder Wut erfüllt.
Die linke Faust voran gestreckt, stürmte er brüllend ein zweites Mal auf den Asiaten zu. Harrod schüttelte nur den Kopf, weil er sofort erkannte, wie plump und aussichtslos dieser Angriff daher kam.
Der Asiate blieb wie angewurzelt stehen, und für eine Sekunde hielt das Publikum den Atem an, weil es so aussah, als hätte unerklärliche Angst bei dem jungen Burschen zu einer Art Lähmung geführt. Doch als sich die riesige Faust von Butcher Bill nur noch eine Elle vor dem Gesicht des Asiaten befand, bog der plötzlich das Kreuz nach hinten durch und glitt einen Wimpernschlag danach seitwärts neben dem Koloss hindurch.
Harrod hatte noch nie zuvor gesehen, wie sich jemand derart schnell und biegsam bewegte; es war ein Phänomen, das ihm den Mund offenstehen ließ. Der Chinamann war Schlange, Katze und Falke in einer Person und für seinen Gegner so unmöglich zu fassen wie Nebel.
Immerhin schien Butcher Bill mit einem weiteren Misserfolg gerechnet zu haben, denn der Koloss taumelte diesmal nur zwei Schritte weit ins Leere, bevor er herumwirbelte und einen Schwinger in Richtung des Asiaten zu landen versuchte. Der aber drehte flink den Kopf zur Seite, wich einen Schritt zurück und riss das linke Bein so weit hoch, dass Harrod schon befürchtete, der Bursche würde sich das Hüftgelenk auskugeln.
Stattdessen traf der Schuh des Asiaten Butcher Bill mit Macht unter dem Kinn und trieb den Kopf des Hünen so weit in den Nacken, das der mit den Armen rudernd um sein Gleichgewicht rang.
Der junge Asiate stand bereits wieder auf beiden Beinen, tänzelte einen Moment lang hin und her, taxierte seinen schwankenden Gegner für einen kurzen Moment und entschied dann offenbar, dass es an der Zeit war, den Kampf zu beenden.
Mit einer kurzen Abfolge von Schlägen, so schnell und ansatzlos ausgeführt, dass es Harrod unmöglich war, die Hände des Asiaten auch nur wahrzunehmen, wurde Butcher Bill rückwärts getrieben, bis er mit dem Kreuz schwer gegen die Gitterstäbe der Arena krachte.
Was der Boxtrainer aber sah, war der finale Stoß, den der Asiate ausführte, mit steifen Fingern, die direkt unter Bills Rippenbogen zielten – auf die Leber, die schon der Vorgänger ordentlich malträtiert hatte.
Eindeutig hatte der Kämpfer nicht nur ein überragendes Talent an den Tag gelegt, sondern war anscheinend auch so aufmerksam gewesen, die vorangegangenen Kämpfe zu beobachten und dabei die Schwachstellen seines Gegners zu registrieren.
Das Schlitzauge mochte ein junger Nobody sein, aber er verhielt sich so ausgefuchst wie ein routinierter Straßenkämpfer.
Rund um den Käfig und auch auf den Rängen herrschte jetzt atemloses Schweigen, während Butcher Bill die Augen aus den Höhlen zu treten drohten. Der Koloss öffnete den Mund, schnappte nach Luft, und sein massiger Schädel lief dabei erst rot, dann blau an.
Der Asiate ließ die tödlichen Hände sinken und trat mehrere Schritte zurück, ohne Butcher Bill aus dem Blick zu nehmen.
Ein gequältes Röcheln entrang sich endlich dem Brustkorb von Butcher Bill; verzweifelt kämpfte er darum, seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen, doch es gelang ihm nicht. Er streckte die rechte Faust aus, starrte seinen Gegner aus blutunterlaufenen Augen an, hustete, wobei ihm dunkles Blut über die Lippen trat und sein Kinn färbte wie ein feucht glänzender Bart.
Dann kippte der Riese langsam nach vorn wie eine gefällte Eiche.
Es dauerte nahezu eine halbe Minute, bevor frenetischer Applaus aufbrandete. Das Publikum krakeelte, schlug gegen die Gitterstäbe und klatschte – völlig entfesselt vom unerwarteten Höhepunkt eines blutigen Abends.
Der Asiate schien das Getöse gar nicht zu bemerken. Ohne den Blick zu wenden, trat er auf seinen reglos am Boden liegenden Gegner zu und verneigte sich leicht, als würde er ihm Respekt zollen.
»Da hol mich doch der Teufel!« In der Stimme des Bowlerträgers mischte sich Verblüffung mit Frustration. »Ich habe gerade siebenhundert Dollar verloren! Lou, du Mistkerl! Du hättest mich warnen müssen!«
Ein wenig beunruhigt wandte Lou Harrod den Blick, weil er wusste, dass es mehr als unangenehm werden konnte, sollte man die Gunst seines äußerst wohlhabenden Begleiters verlieren.
»Ich hatte keine Ahnung, Sir. Mein Wort darauf«, beteuerte er.
Und registrierte erleichtert, dass der Gentleman neben ihm schmunzelte. »Schon gut. Auch verlieren will gelernt sein, nicht wahr? Allerdings«, der Bowlerträger deutete mit der Hand, zwischen deren Fingern die Zigarre klemmte, hinunter in die Arena, und seine grauen Augen hatten einen eigentümlichen Schimmer, »wirst du mir diesen Jungen da kaufen, kapiert? Ist mir egal, was Palmetti für ihn haben will.«
Harrod nickte. »In Ordnung, Sir. Er ist wirklich talentiert. Aber ich bin mir sicher, ihm noch das ein oder andere beibringen zu können.«
Der Bowlerträger nahm einen Zug von seiner Zigarre, bevor er erwiderte: »Ich vertraue dir, Lou. Aber sei vorsichtig. Das ist ein Diamant, und wenn du ihm beim Schleifen auch nur einen Makel zufügst, werde ich dich dafür persönlich zur Verantwortung ziehen.«
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Es widerstrebte Lassiter, die stinkenden Schlote von Pittsburgh hinter sich zu lassen, nur um sich in den seiner Ansicht nach nicht minder abstoßenden Moloch New York zu begeben, der Mutter aller menschlichen Ameisenhaufen, in denen alles, was schlecht war an der angeblichen Krönung von Gottes Schöpfung, so üppig und allgegenwärtig gedieh wie Schmeißfliegenlarven in einem Misthaufen.
Auf der Zugreise rekapitulierte er die Erlebnisse in Pittsburgh und musste sich eingestehen, dass er nur wenig Ansatzpunkte für weitere Ermittlungen in New York vorweisen konnte.
Da war nur ein Name – Brody Graham – und die Wallstreet als Hort gesichtsloser Investoren, die hinter den dramatischen Ereignissen im Carnegie-Stahlwerk stehen mochten und deren Skrupellosigkeit das Leben so vieler Menschen nicht nur verschlimmerte, sondern auch den Tod Unschuldiger in Kauf nahm. Das war denkbar wenig, um weiterzukommen. Daher reifte in ihm die Erkenntnis, dass er Verbündete und Informanten in New York benötigte.
Zwei Personen, die ihm vor acht Jahren gemeinsam das Leben gerettet hatten, schienen geeignet, einen Anfang zu machen.
Er blickte auf ein Werbeblatt hinab, das er in den Fingern hielt, während ein Beben durch das Abteil ging, als der Zug über eine Bodenwelle hinweg fuhr. Auf der Titelseite der Broschüre hielt die Freiheitsstatue majestätisch und kraftvoll die Fackel in der erhobenen Faust.
Die gelungene, farbige Illustration war detailliert genug, um die Illusion zu erwecken, als würde Madame Liberté ihm mahnend zublinzeln.
Sie mochte allen Grund dazu haben. Schließlich wäre er damals auf der Brüstung fast draufgegangen. Die Entschlossenheit einer jungen Polizeibeamtin – und letzten Endes die Erfindung eines genialen Mannes aus Osteuropa – hatten ihn damals noch einmal gerade so davor bewahrt, den Löffel abzugeben.
Von jenem sympathischen Entrepreneur las man seitdem immer wieder in den Gazetten überall im Lande. Er war offenbar mit seinen bahnbrechenden Entwicklungen im Bereich der Elektrifizierung nicht nur zu einem erfolgreichen Unternehmer geworden, sondern galt auch als prominenter Entertainer bei Vorführungen in der feinen Gesellschaft. Dies natürlich vor allem in seiner Heimatstadt New York – und im Allgemeinen nur vor zahlungskräftigem, handverlesenem Publikum.
Lassiter hoffte dennoch, bis zu Nikola Tesla vordringen zu können, der mittlerweile in einem noblen Hotel an der 27th West Street residierte. Auch, weil er gelesen hatte, dass die Tesla Company gerade erfolgreich an der New Yorker Börse neues Kapital hinzugewonnen hatte.
Er hatte den kleinen, eleganten Gentleman als unkompliziert, menschenfreundlich und offenherzig kennengelernt; vielleicht würde Tesla ihm Hinweise geben können auf die Personen, nach denen er suchte. Zum Beispiel jenen mysteriösen Mr. Graham.
Zunächst jedoch wollte er Amber Steele aufsuchen.
Im Jahre 1886 noch war sie eine junge Beamtin bei der Metro Police gewesen, aber er hatte gehört, dass Amber mittlerweile als Captain des New York Police Department eine leitende Position innehatte. Eine steile Karriere, zumal für eine Frau, wenn man es von außen betrachtete. Doch Lassiter wusste es besser.
Denn das Ende der Brigade Sieben vor drei Jahren hatte Ambers Ambitionen, selbst in deren Dienst einzutreten, zunichtegemacht.
Er selbst hatte nach den dramatischen Ereignissen rund um die Statue of Liberty keinen Kontakt mehr zu Amber Steele gehabt, obwohl er seitdem ein paar Mal in der Stadt gewesen war. Warum, wusste er selbst nicht so recht.
Es mochte eine Mischung aus schlechtem Gewissen und einem Gefühl gewesen sein, das intensiver kaum sein konnte: Wenn einen die Hand einer Frau vom Absturz in den Tod trennte, war der Blick, den man mit ihr tauschte, etwas, das man nie vergaß.
Und man wusste nicht, wie es sein würde, diesen Augen noch einmal zu begegnen.
Deshalb hatte er es bei seinen letzten Besuchen in New York vermieden, Amber Steele über den Weg zu laufen, sich aber stets nach ihrem Werdegang erkundigt. Und war auf eine bestimmte Weise froh gewesen, als er erfahren hatte, dass sie von der Metro Police zum NYPD gewechselt und dort sofort in einem höheren Rang aufgenommen worden war.
So sehr er die großen Städte hasste, waren sie doch immerhin die Plätze, an denen sich der Fortschritt schneller entwickelte als andernorts. Die Moderne, die die Zivilisation mit der Eisenbahn inzwischen auch in die hintersten Winkel des Landes trug, hatte genau hier ihr Herz, im Guten wie im Schlechten. Frauen, die so viel leisteten und schafften, endlich auf Augenhöhe zu begegnen, selbst wenn man dafür den Kopf senken musste, war hier in New York immer öfter im Alltag zu erleben – und etwas, dem Lassiter zwar ein wenig irritiert, aber dennoch offen gegenüberstand.
In Lassiters Kindheit und Jugend waren Mädchen eine Gattung, der man mit einer Mischung aus Verehrung und Beschützerinstinkt begegnete. Als er älter wurde, wollte er diese faszinierenden Wesen erforschen und erobern. Eine Zeitlang glaubte er, als Mann dem so genannten schönen Geschlecht grundsätzlich überlegen zu sein. Was physisch meist zutraf, aber dennoch eine Haltung war, die ihn oft in die Bredouille gebracht hatte.
In all den Jahren war Lassiter Hunderten von Frauen begegnet und ihnen auf eine Weise nahegekommen, die ihn davon überzeugt hatte, sich kein Urteil zu bilden, das auf einer kurvigen Statur und der Reaktion seiner Cojones gründete.
Amber Steele war ein – aber nicht das einzige – Beispiel gewesen, das ihn zu dieser Ansicht gebracht hatte.
Unwillig runzelte der ehemalige Brigadeagent und Pinkerton-Detektiv die Stirn, als sich vor dem Fenster triste Ziegelbauten erhoben. Der Himmel über den Häusern hatte die Farbe eines halb verheilten Blutergusses, und ein böiger Wind trieb den Regen gegen die Fenster des Zugabteils.
Ein Schaffner öffnete neben ihm die Tür und rief den Passagieren zu: »Zehn Minuten bis New York Grand Central Station, Ladys und Gentlemen...«
Lassiter verzog die Lippen und murmelte: »Als wenn man das nicht sehen würde.«
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Lassiter beschloss, es zunächst in Amber Steeles Wohnung in der West 57th Street unweit des Broadways zu versuchen, weil er möglichst unbefangen mit ihr sprechen wollte. Auf Ambers Dienststelle unter den Blicken Dutzender neugieriger Kollegen wäre das ein Ding der Unmöglichkeit. Er hoffte, sie lebte immer noch in dem Apartment im Herzen Manhattans, denn das war die letzte ihm bekannte Adresse.
Das Mietshaus mit der Hausnummer 210 war kein Nobelbau, aber immerhin gut genug situiert, um über einen Portier zu verfügen. Der füllige Schwarze mit grauem Haarkranz trug eine olivgrüne Livree, deren Stoff fadenscheinig glänzte und an den Säumen etwas ausgefranst war, glich diesen oberflächlichen Makel aber mit würdevoller Herablassung aus, während er den unbekannten Besucher einer eingehenden Musterung unterzog.
»Sie wünschen, Mister?«, schnarrte er im näselnden Yankee-Zungenschlag, der auf Lassiter immer so wirkte, als litten die Leute an einer chronischen Verstopfung der Atemwege.
»Ich möchte zu Miss Amber Steele. Ist sie zu Hause?«
»Miss Steele hat mir keinen Besuch angekündigt«, gab der Portier, den ein Namensschild an der Brust als »Wallace« auswies, kurzangebunden zurück.
»Was daran liegt, dass sie nichts von meiner Ankunft in New York weiß.« Lassiter bemühte sich um ein freundliches Lächeln. Immerhin wohnte Amber noch hier und schien daheim zu sein. »Glauben Sie mir, Wallace. Sie wird sich freuen, mich wiederzusehen.«
»Es tut mir leid, Mister«, antwortete der Portier und erweckte nicht den Eindruck, diese Worte aufrichtig zu meinen, »aber zu dieser späten Stunde darf ich keine unangemeldeten Besucher mehr durchlassen. Eine strikte Anweisung der Bewohner.«
»Aber Miss Steele...«
»Das gilt im Besonderen