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Der Mann auf der großformatigen Fotografie grinste selbstgefällig in das Objektiv der Kamera. Er war elegant gekleidet und hielt einen Stapel mit Dime Novels in Händen, die er präsentierte wie eine kostbare Trophäe. In der rechten unteren Ecke des Bilds befand sich eine Widmung, hastig auf das Papier geworfen:
In tiefer Verbundenheit, Rupert U. DeVries
"Dein schmieriges Grinsen wird dir bald vergehen", zischte eine Stimme hasserfüllt. "Du wirst Schmerzen haben, um Gnade winseln. Und dann wirst du langsam krepieren!"
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Seitenzahl: 140
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Reise ohne Wiederkehr
Vorschau
Impressum
ReiseohneWiederkehr
von Kolja van Horn
Der Mann auf der großformatigen Fotografie grinste selbstgefällig in das Objektiv der Kamera. Er war elegant gekleidet und hielt einen Stapel mit Dime Novels in Händen, die er präsentierte wie eine kostbare Trophäe. In der rechten unteren Ecke des Bilds befand sich eine Widmung, hastig auf das Papier geworfen: In tiefer Verbundenheit, Rupert U. DeVries
»Dein schmieriges Grinsen wird dir bald vergehen«, zischte eine Stimme hasserfüllt. »Du wirst Schmerzen haben, um Gnade winseln. Und dann langsam krepieren!«
Ein Feuerzeug flammte auf und wurde an den unteren Rand der Fotografie gehalten. Rasch leckten die Flammen über das Papier; es wurde schwarz, rollte sich auf, und schließlich blieb vom Abbild des attraktiven Mannes nur noch Asche übrig.
»Sie treiben Scherze. Bitte, Sir – sagen Sie, das ist nur ein Witz.«
Lassiter fixierte sein Gegenüber aus verengten Augen, die Miene ein Spiegel widerstreitender Gefühle: Argwohn, Hoffnung und die Ahnung einer Antwort, die ihm nicht gefallen würde, konkurrierten miteinander.
»Ganz und gar nicht, Lassiter.« In gespieltem Bedauern breitete Henry Metcalfe, Staatsanwalt und Kontaktperson der Brigade Sieben in Pittsburgh, die Hände aus, konnte dabei ein Schmunzeln aber nur mühsam unterdrücken. »Es handelt sich um eine reguläre Mission, und der Befehl dazu kommt von ganz oben.«
Lassiter lehnte sich ächzend auf dem Stuhl zurück und fragte: »Wie darf ich das verstehen?«
»Der Justizminister persönlich hat die Order erteilt.« Metcalfe faltete die Hände und stützte sein Kinn darauf. »Er ist ein großer Bewunderer der Werke von Mr. DeVries.«
Lassiter lachte auf, doch es klang nicht amüsiert. »Ist das wirklich Ihr Ernst?«
»Nun, es steht uns wohl nicht zu, über den Literaturgeschmack des ehrenwerten Ministers zu urteilen«, erwiderte Metcalfe und gestattete sich ein süffisantes Grinsen. »Ebenso wenig, wie ein Agent der Brigade Sieben über Sinn oder Unsinn eines Auftrags diskutieren sollte. Sie werden sich ohnehin fügen müssen, Lassiter. Betrachten Sie es doch einfach als eine Art Vergnügungsreise, auf der Ihnen ausnahmsweise einmal nicht ständig heißes Blei um die Ohren fliegt.«
Metcalfe erhob sich und ging zur Bar hinüber. »Wie wäre es mit einem Drink? Ich habe gerade einen hervorragenden Scotch erstanden, zwanzig Jahre im Eichenfass gereift.«
»Einen Doppelten, wenn's recht ist.«
Metcalfes Lächeln verbreiterte sich. »Okay. Schätze, den haben Sie nötig.«
Als die beiden Männer kurz darauf nebeneinander am Fenster standen und hinunter blickten auf den Tolliver Square, nippte Lassiter an seinem Drink und spitzte respektvoll die Lippen. »In der Tat ein feiner Tropfen, Mr. Metcalfe.«
»Nicht wahr?« Der Staatsanwalt nahm selbst einen Schluck, ehe er zum Thema zurückkehrte. »DeVries ist nun einmal ein berühmter Autor und hat eine treue Leserschaft. Seine Erzählungen werden in Auflagen von vielen tausend Exemplaren unter das Volk gebracht.«
»Klar«, brummte Lassiter, und seine Miene verfinsterte sich wieder. »Für einen Dime. Der Mann schreibt billige Schundheftchen, Sir. Edle Helden, böse Schurken, willige Weibchen – Himmel, dieser Unsinn spielt zwar oft im Wilden Westen, hat aber mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun!«
»Eben deshalb will Mr. DeVries ja diese Reise unternehmen. Er möchte den wahren Westen kennenlernen und trägt sich wohl mit der Absicht, in Zukunft Anspruchsvolleres zu verfassen. Geschichten aus dem echten Leben gewissermaßen.«
»Tut er das?« Lassiter schnaubte verächtlich. »Und ich soll für den Burschen Fremdenführer und Kindermädchen in einer Person sein?«
»Nun«, entgegnete Metcalfe, »natürlich in erster Linie sein Leibwächter.«
»Wovor muss man ihn denn wohl beschützen? Vor zudringlichen Bewunderinnen?« Lassiter grinste boshaft. »Das wäre immerhin nicht ganz ohne Reiz.«
Metcalfes Miene wurde ernst. »Es hat Morddrohungen gegeben, Lassiter. Und obwohl DeVries selbst diese nicht ernst nimmt, sein Verleger tut es durchaus. Er war es auch, der den Minister daher um Hilfe ersucht hat.«
»Sprachen Sie nicht gerade eben noch von einer Vergnügungsreise, ganz ohne heißes Blei?« Lassiter hob herausfordernd die Augenbrauen.
»Es muss ja nicht wirklich etwas dahinterstecken. Berühmte Leute ziehen nun mal allerlei Wirrköpfe an, die selbst gern im Rampenlicht stünden«, schwächte der Staatsanwalt ab. »Aber man möchte auf Nummer sicher gehen. Zumal DeVries als prominenter Gast bei der offiziellen Einweihung des neuen Streckenabschnitts der Union Pacific Railway in Indiana erwartet wird. Er soll das Band durchschneiden, gemeinsam mit Gouverneur Lucius Wellingham.«
»Lassen Sie mich raten: Der ist auch ein begeisterter Leser von DeVries' Dime Novels.«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, antwortete Metcalfe. »Allerdings wurde mir zugetragen, dass die Initiative, DeVries zur Einweihung zu laden, wohl auf das Betreiben von Paul Bittencourt zurückgeht, des Präsidenten der Union Pacific Railroad Company.«
»Wunderbar«, sagte Lassiter lakonisch. »Wirklich beruhigend, wenn man weiß, auf welchem geistigen Niveau sich die Führungspersönlichkeiten in der Politik und Wirtschaft bewegen.«
Metcalfe leerte seinen Drink, bevor er sagte: »Das habe ich natürlich nicht gehört, Lassiter.« Er ging zum Schreibtisch zurück, stellte sein Glas ab und griff nach einem dünnen Ordner, den er Lassiter überreichte.
»Die Zugtickets, etwas Handgeld, einige Informationen über Mr. DeVries sowie die Reiseroute, die er geplant hat. Er wird natürlich bestimmte Vorstellungen darüber haben, was er sehen und erleben möchte. Es liegt in Ihrer Verantwortung, ihn von allzu riskanten Unternehmungen abzuhalten und Schaden von ihm abzuwenden.«
»Ich kann es kaum noch erwarten«, knurrte Lassiter mürrisch, während er Metcalfe die Hand schüttelte.
✰
Lassiter saß im Frühstücksraum des noblen Grand Hotels bei seinem zweiten Kaffee, als Rupert U. DeVries die Lobby betrat. Normalerweise legte der Agent der Brigade Sieben keinen großen Wert auf Komfort, aber als man ihn nach Pittsburgh beordert hatte und der Grund dafür im Telegramm genannt worden war, hatte er beschlossen, mit der kostspieligen Logis ein Zeichen seines Unmuts zu setzen, und würde die Rechnung dafür an Metcalfe senden lassen.
Die Türen zum Foyer standen weit offen, so dass der Brigadeagent seinen Schutzbefohlenen bereits sehen konnte, als der sich am Empfangstresen nach ihm erkundigte.
Der Portier streckte den Arm aus und deutete in Lassiters Richtung, vorauf DeVries sich umwandte und mit ausgreifenden Schritten in seine Richtung stolzierte.
Beim Anblick des Aufzugs des Schriftstellers wusste Lassiter für einen Moment nicht, ob er sich peinlich berührt abwenden oder laut loslachen sollte.
DeVries trug ein Ensemble aus Hirschleder in leuchtendem Rotbraun, mit Fransen an Jackenärmeln und Hosennähten, dazu ein paar opulent bestickte Schaftstiefel im selben Farbton, an deren Hacken versilberte Sporen schimmerten. Um die Hüfte hatte er einen mächtigen, schwarzglänzenden Revolvergurt mit Silberschnalle in Form eines Stierschädels gebunden, in dessen Holster ein langläufiger Army-Colt steckte; außerdem waren lederne Handschuhe mit Stulpen unter den Gürtel geklemmt, die aussahen wie aus der Kleiderkiste von General Custer. Auf dem Kopf trug er einen riesigen Stetson mit kühn geschwungener Krempe und einem Hutband aus aneinandergereihten Silberdollars.
Der Schriftsteller trat an seinen Tisch und entblößte zwei blendend weiße Zahnreihen unter einem perfekt getrimmten, graumelierten Schnurrbart zu einem selbstbewussten, fast schon triumphierenden Lächeln, bevor er mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopfte.
»Sie müssen Mr. Lassiter sein!« Die Stimme war sonor und volltönend. DeVries richtete sich zu seiner nicht unbeträchtlichen Größe auf und stemmte die Hände in die Hüften.
»Und Sie sind zweifellos Mr. Rupert U. DeVries«, brummte Lassiter, ohne sich die Mühe zu machen, dabei erfreut oder auch nur höflich zu klingen. Er griff nach dem Kaffeebecher und trank einen kräftigen Schluck, doch der groteske Anblick vor seinem Tisch wollte sich einfach nicht verflüchtigen.
Stattdessen breitete DeVries die Arme aus und riss auffordernd die Augen auf. »Und? Wie finden Sie meine Ausstattung? Hat mich eine schöne Stange Geld gekostet, aber in so ein Abenteuer will man sich ja nicht ohne geeignete Klamotten stürzen.«
Lassiter rieb sich über die Bartstoppeln, während er den Mann inspizierte. »Mir fehlen die Worte...«, brummte er schließlich.
»Ach, kommen Sie!« Grinsend schob sich DeVries den Stetson in den Nacken. »Frei von der Leber weg.«
»Na schön.« Unmerklich hoben sich Lassiters Mundwinkel. »Im Zirkus von Mr. Cody dürfte dieser Aufzug durchaus passend sein.«
»Cody? Sie meinen Buffalo Bill.« DeVries nickte zufrieden. »Ich habe keine Gelegenheit ausgelassen, seine Show zu besuchen, wenn er in der Stadt war.«
»Und da haben Sie sich vermutlich an den Pausenclowns ein Vorbild genommen, als Sie sich einkleiden ließen«, vermutete Lassiter, was DeVries' selbstbewusstes Grinsen ein wenig ins Wanken brachte.
Er schaute an sich herab und strich mit der Hand über die Fransen der Lederjacke, bevor er sagte: »Sie finden es also... ein wenig übertrieben?«
Lassiter zuckte die Achseln. »Jacke und Hose haben wenigstens den Vorteil, dass ich Sie selbst in der Dämmerung noch auf eine Viertel Meile Entfernung sehen kann, sollten Sie mir irgendwo im Busch verloren gehen.«
Mit einem Seufzer erwiderte DeVries: »Vielleicht hätte ich Sie vorher zu Rate ziehen sollen, bevor ich losziehe und mich auf Herrenausstatter verlasse.« Er kratzte sich an der Schläfe. »Und was machen wir jetzt?«
Lassiter zog seine Taschenuhr hervor und warf einen Blick darauf. »Der Zug nach Ohio fährt in einer halben Stunde, also werden Sie wohl damit leben müssen. Aber wenigstens den Hut würde ich hier lassen. Dasselbe gilt für die Sporen an Ihren Hacken. Es sei denn, Sie wollen das Risiko eingehen, damit ein Pferd derart zu verletzen, dass es durchgeht und mit Ihnen bis in die Rocky Mountains galoppiert.«
»Einverstanden.« DeVries grinste schief, nahm den riesigen Stetson vom Kopf und warf ihn achtlos auf einen der leeren Stühle an Lassiters Tisch. Danach bückte er sich und zog die Sporen von den Stiefeln, um sie auf den Tisch zu legen. »Mein Gepäck ist bereits zum Bahnhof gebracht worden. Wie steht es mit Ihrem?«
Lassiter deutete wortlos auf die Satteltaschen, die neben seinen Füßen am Boden lagen, worauf DeVries lachte. »Das ist alles? Nicht übel, Mr. Lassiter. So bereitet es keine Mühe, von einem Ort zum anderen zu gelangen, nicht wahr?«
Lassiter langte nach den Satteltaschen, erhob sich und warf sie sich über die Schulter. »Gehen wir«, brummte er einsilbig und marschierte an DeVries vorbei in Richtung Lobby.
Der Schriftsteller sah ihm einen Moment nach, dann zuckte er die Achseln und folgte.
✰
»Goddam«, knurrte Lassiter, als sie sich dem Bahnhof näherten und er der Menschenmenge gewahr wurde, die sich vor den Stufen gebildet hatte. »Was ist das denn?«
Ein gutes Dutzend uniformierter Ordnungshüter verwehrte den Leuten den Zutritt und hielt den Menschenpulk in Schach, der mehrheitlich aus Frauen zu bestehen schien. Doch Lassiter machte auch ein paar Männer mit Notizblöcken sowie zwei Fotografen aus, die ihre Apparate auf Stativen einige Schritte abseits positioniert hatten, damit niemand sie umstoßen konnte.
»Da kommt er!«
Die Stimme der älteren Dame, die sich umgewandt und DeVries an Lassiters Seite erkannt hatte, überschlug sich fast, und sofort drehten sich alle Anwesenden um in Richtung der beiden sich nähernden Männer.
Die Polizisten waren überrascht, weil die Menge plötzlich die Richtung wechselte und sich, statt in den Bahnhof zu drängen, auf einmal in die entgegengesetzte Richtung bewegte. Lassiters Blick weitete sich, als die Frauen mit aufgeregtem Geschnatter auf sie zu rannten – eine Stampede wild gewordener Weibsbilder, die sie in wenigen Sekunden überrennen mochte.
»Keine Sorge«, beruhigte ihn DeVries und klopfte dem Brigadeagenten dabei auf die Schulter. »Die Damen sind harmlos. Laut und etwas anstrengend vielleicht, aber in keinster Weise gefährlich.«
DeVries Einschätzung bestätigte sich, als sie wenige Augenblicke darauf von Dutzenden Frauen umringt waren, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten – junge Mädchen, alte Jungfern, gediegen und einfach gekleidet, hübsch oder eher unscheinbar. Nur die geröteten Wangen und der verliebte Ausdruck auf ihren Gesichtern war fast allen gemein.
Lassiter hatte nur einmal ein Heft von DeVries in der Hand gehabt, das jemand auf der Sitzbank zurückgelassen hatte – und es mangels anderer Zerstreuung auf der Zugfahrt fast bis zum Ende gelesen. Für die dünnen Druckwerke waren dazu kaum mehr als zwei Stunden nötig. Doch er wusste, dass DeVries' schwülstige Prosa vor allem bei weiblichen Lesern beliebt war.
Sie hielten DeVries Hefte mit seinen Geschichten oder auch billig reproduzierte Fotografien hin, und er signierte sie mit nachsichtigem Lächeln, wechselte auch mal ein paar Worte, wenn die Bewunderin jung und attraktiv genug war. Bis Lassiter irgendwann der Geduldsfaden riss und er den Schriftsteller kurzerhand am Arm packte, während die Uniformierten sich darum bemühten, ihnen eine Gasse durch den Pulk zu bahnen.
»Danke, dass sie so zahlreich erschienen sind!« DeVries warf den Frauen noch eine Kusshand zu, während Lassiter ihn mit sich zerrte Richtung Bahnhofshalle – und löste allein mit dieser Geste ein Raunen in der Menge aus.
Vor den Stufen warteten die Reporter, und das Magnesium der Fotografen flammte auf, als sie die Treppe erreichten.
»Mr. DeVries, bitte, nur eine Frage: Was hat es auf sich mit dieser mysteriösen Reise?« Der junge Reporter vor ihnen starrte den Schriftsteller aufgeregt an und ignorierte Lassiter dabei völlig.
»Bitte, Gentleman«, erwiderte DeVries. »Wenden Sie sich doch an Salmon Redwood, meinen Verleger.«
»Der hält sich bedeckt und verrät kein Sterbenswort. Außer, dass Sie heute nach Westen aufbrechen«, rief ein anderer Reporter. »Was genau ist Ihr Ziel, Sir? Nur ein kurzes Statement für die Times, ich bitte Sie.«
»Zu gegebener Zeit, Jim«, gab DeVries lächelnd zurück. »Jetzt pressiert es gerade ein wenig. Auf bald!«
Er ließ sich von Lassiter die Stufen hinaufführen, und als sie durch das Portal in die Wartehalle traten, waren die Polizisten schon wieder vor den Türen und achteten darauf, dass die Horde von DeVries' Bewunderern ihnen nicht folgen konnte. Mit einem Blick über die Schulter sah Lassiter, wie die Uniformierten jeden aufhielten und befragten, weshalb er den Bahnhof betreten wollte.
Aber natürlich waren auch im Inneren der Halle genügend Menschen zugegen, die sie mit neugierigen Blicken bedachten, als Lassiter und DeVries zum Bahnsteig eilten. Der Zug nach Ohio stand bereit, und eine attraktive Frau in einem taubenblauen Kostüm winkte ihnen zu. Sie stand neben einem Gepäckwagen, auf dem sich mehrere Koffer und Taschen türmten.
Als sie die Blondine erreicht hatten, schlug DeVries ihm auf die Schulter und deutete mit dem anderen Arm auf die junge Dame.
»Mr. Lassiter, das ist Geneviève, meine Sekretärin, Köchin, Garderobiere und tausenderlei mehr. Geneviève – Lassiter. Der Bursche wird mir den wahren Westen zeigen und dafür sorgen, dass ich in drei Wochen in einem Stück zurückkehre!«
Er lachte dröhnend, während Lassiter völlig perplex dachte: Drei Wochen?
Sein Lächeln geriet ein wenig säuerlich, als er Geneviève die Hand schüttelte. »Freut mich, Miss«, brummte er, bevor sein Blick zunächst auf das halbe Dutzend Gepäckstücke fiel und er anschließend DeVries anschaute: »Das ist aber nicht alles Ihr Zeug, oder?«
Mit unschuldigem Augenaufschlag hob DeVries die Achseln. »Drei Wochen in der Fremde, Lassiter! Ich denke vorausschauend. Außerdem hoffe ich darauf, dass die übrige Garderobe Ihnen besser gefällt als das, was ich am Leib trage.«
Er winkte einem Gepäckträger zu, bevor er ergänzte: »Natürlich können wir das ein oder andere am Bahnhof deponieren, bevor wir uns auf den Weg in die Wildnis machen.«
Er umarmte seine Sekretärin, während der Gepäckträger näher kam und dabei ähnlich ungläubig den Berg an Koffern und Taschen anstarrte wie Lassiter.
Der fragte: »Miss Geneviève begleitet uns?«
»Nicht doch, Lassiter. Das wird ein Trip unter Männern«, gab DeVries mit einem vertraulichen Zwinkern zurück, bevor er sich seiner Sekretärin zuwandte.
»Ich werde mich regelmäßig bei dir melden, meine Liebe«, versprach er. »Eine kurze Anekdote pro Woche, wie wir es besprochen haben. Alles Weitere besprichst du dann mit Redwood, okay?«
Geneviève nickte, bevor sie sich an Lassiter wandte. Ihre dunkelblauen Augen blickten besorgt. »Passen Sie gut auf ihn auf, ja? Rupert neigt manchmal dazu, sich in Schwierigkeiten zu bringen.«
»Jetzt mach Lassiter nicht schon Angst, bevor wir aufgebrochen sind, Geneviève«, mahnte DeVries, lächelte dabei aber schalkhaft und knuffte den Brigadeagenten gegen die Schulter. »Wir Zwei werden uns schon gemeinsam durchschlagen, nicht wahr?«
Lassiter nickte Geneviève zu, bevor er DeVries kurz in den Blick nahm und auf die offenstehende Tür des Wagens deutete, ohne auf dessen Frage einzugehen.
»Der Zug fährt gleich ab, Mr. DeVries.« Er ging an dem Schriftsteller vorbei und stieg ein.
✰
Sie hatten getrennte Abteile im Erste-Klasse-Wagen, die aber benachbart waren.
»In einer Stunde im Speisewagen?« Rupert DeVries' Frage klang eher wie eine Anordnung, dennoch nickte Lassiter wortlos, und der Schriftsteller tippte sich salutierend an die Stirn, bevor er hinter der Tür seines Abteils verschwand.
Lassiter stellte sich für einen Moment im Gang ans Fenster und schaute auf den Bahnsteig hinaus, während der Zug sich in Bewegung setzte. Er war froh, der schmutzigen, lärmigen Stahlmetropole Pittsburgh den Rücken kehren zu können.
Im eigenen Abteil zog er das Dossier der Brigade Sieben aus seiner Satteltasche und schlug das Deckblatt zur Seite.
Auf den ersten Seiten wurde Rupert DeVries' Vita abgehandelt. Er war ein paar Jahre älter als Lassiter, hatte die Vierzig schon länger hinter sich gebracht. Im Gegensatz zu dem, was gern in der Presse kolportiert wurde, stammte er keineswegs aus ärmlichen Verhältnissen, sondern war der Spross einer Dynastie wohlhabender Tuchhändler aus Boston. Ein Studium der Rechte hatte er nach nur einem Jahr abgebrochen, war stattdessen zur Boston Tribune gegangen, wo er als Kriminal- und Gerichtsreporter gearbeitet hatte. Dann folgte der Umzug nach Pittsburgh, vom Vater wohl aufgezwungen, denn DeVries sollte die dortige Filiale des Familienunternehmens leiten.