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"Reno war nichts als ein Furunkel am Arsch der Welt, bevor die Union Pacific Railroad Company auf die Idee kam, ihre Schienen nach Westen durch unser Kaff zu treiben." Der Bartender wrang den Putzlappen über dem Eimer aus. Bis auf ihn und seinen letzten Gast war der Schankraum leer, deshalb brannten nur noch zwei Funzeln über der Theke. Trotzdem war zu erkennen, dass das Putzwasser dunkelrot war vom Blut auf den Dielen. Er lachte bitter. "Aber dann... dann wurde ein richtig übles Geschwür daraus."
"Also waren Sie ganz froh über den Mann mit dem Marshalstern", brummte der Gast an der Theke.
"Kann man sagen", gab der Barkeeper zu. "Unsere Sheriffs waren meist Witzfiguren, der Stern wechselte dauernd den Besitzer. Entweder sie bissen ins Gras, oder sie verpissten sich. Aber dieser junge Bursche... der war aus 'nem anderem Holz geschnitzt."
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Der befleckteStern
Vorschau
Impressum
DerbefleckteStern
von Kolja van Horn
»Reno war nichts als ein Furunkel am Arsch der Welt, bevor die Union Pacific Railroad Company auf die Idee kam, ihre Schienen nach Westen durch unser Kaff zu treiben.« Der Bartender wrang den Putzlappen über dem Eimer aus. Bis auf ihn und seinen letzten Gast war der Schankraum leer, deshalb brannten nur noch zwei Funzeln über der Theke. Trotzdem war zu erkennen, dass das Putzwasser dunkelrot war vom Blut auf den Dielen. Er lachte bitter. »Aber dann... dann wurde ein richtig übles Geschwür daraus.«
»Also waren Sie ganz froh über den Mann mit dem Marshalstern«, brummte der Gast an der Theke.
»Kann man sagen«, gab der Barkeeper zu. »Unsere Sheriffs waren meist Witzfiguren, der Stern wechselte dauernd den Besitzer. Entweder sie bissen ins Gras, oder sie verpissten sich. Aber dieser junge Bursche... der war aus 'nem anderen Holz geschnitzt.«
»Zweifellos.« Lassiter leerte seinen Whisky und griff nach dem Abzeichen, das vor ihm auf dem Tresen lag. Ein paar Spritzer befleckten den Marshalstern, doch er rieb sie nicht ab.
Der Besitzer dieses Abzeichens hatte ihn nach Reno geführt, auch wenn er nicht mehr lebte. Ein toter Marshal und eine brutal ermordete Farmerfamilie in Sacramento, hundertfünfzig Meilen südwestlich von hier. Es hatte eine Weile gedauert, bevor er die Zusammenhänge erkannt und die Spur aufgenommen hatte.
Zu lange, um neuerliches Blutvergießen zu vermeiden.
»Erzählen Sie mir doch ein bisschen mehr über ihn, Brandon«, forderte er den Bartender auf. »Und geben Sie mir noch einen Whisky. ›Nen Doppelten, wenn's recht ist.«
Brandon seufzte vernehmlich, ließ den blutgetränkten Feudel in den Eimer plumpsen und lehnte den Wischer gegen einen der Tragebalken, auf denen die Galerie ruhte. Er starrte seinen letzten Gast für einen Moment fast vorwurfsvoll an. Dann schlurfte er hinter die Theke wie ein alter Mann, obwohl er höchstens dreißig Lenze zählen mochte und körperlich in guter Verfassung zu sein schien.
Lassiter nahm es ihm nicht übel. Der Abend im Rooky Inn war turbulent gewesen, um es mal freundlich auszudrücken. Außerdem hätte es durchaus auch Brandons letzter Abend gewesen sein können.
Es stank hier immer noch nach Pulverdampf; über eine Stunde, nachdem der letzte Schuss gefallen war.
Draußen herrschte Totenstille. Niemand ließ sich mehr auf der Mainstreet blicken. Alles andere als typisch für das sündige Reno – es war, als hätte die ganze Stadt sich verkrochen und die Decken über die Köpfe gezogen.
Der Bartender nahm Lassiters Glas und füllte es bis zum Rand, dann goss er sich selbst einen Drink ein und kippte ihn sich in einem Zug hinter die Binde. Er hustete, rieb sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn und warf Lassiter einen Blick aus zu Schlitzen verengten Augen zu, bevor er fragte: »Was zum Teufel wollen Sie denn noch wissen?«
Lassiter nippte nur an seinem Glas. Es war bereits sein drittes, und dabei wollte er es bewenden lassen. »Wie wäre es mit dem Anfang? Erzählen Sie mir von dem Abend, als Sie ihn zum ersten Mal gesehen haben. Und danach schauen wir mal, wo wir landen.«
Brandon schnaubte und griff nach der Flasche, um sich nachzuschenken. »Ich habe zwar keine Ahnung, was Sie sich davon versprechen – aber von mir aus...«
✰
Drei Tage zuvor. Reno, Nevada
»Hey, Verdammt!«
Brandon griff nach dem Knüppel aus Hartholz und hob ihn drohend, während er den Gast auf der anderen Seite des Tresens in den Blick nahm. »Nimm deine Drecksgriffel von der Lady, sonst setzt es was, kapiert?«
Der Bursche – ein breitschultriger Kerl etwa im selben Alter wie der Bartender, aber mit verwegenem Bart, einem verschlagenen Ausdruck und mehreren schlecht verheilten Narben im verdreckten Gesicht – erwiderte den Blick und wirkte verblüfft.
Er hatte der Frau auf dem Barhocker neben sich bereits das Mieder geöffnet, so dass sich deren blanker Busen halb auf der Tresenplatte ausbreitete wie Frischfleisch in der Auslage eines Metzgers, und machte nun Anstalten, ihren Rock zu lüpfen. Sein Hosenlatz war ebenfalls schon aufgeknöpft; offenbar hegten die beiden die Absicht, es in Kürze direkt vor Brandons Augen an der Theke miteinander zu treiben.
Die »Lady« hob den Kopf und stierte Brandon sekundenlang verständnislos an, dann brach sie in meckerndes Lachen aus. Sie war derart betrunken, dass sie fast vom Hocker gerutscht wäre, wäre ihr Galan nicht so geistesgegenwärtig gewesen, sie an der nackten linken Brust zu packen und wieder in die Senkrechte zu hieven.
»Seiwann bissu dennso genann, Bran?«, rollten die Worte kaum verständlich über die schwere Zunge der Prostituierten, wobei sie ihm vertraulich zuzwinkerte. Irgendetwas schien mit ihren Gesichtsmuskeln nicht zu stimmen, denn als sie das rechte Auge einmal zugekniffen hatte, bekam sie es nicht wieder auf.
»Das ist ein Saloon und kein Bumsschuppen«, knurrte Brandon unwillig und straffte die Schultern. »Wenn ihr vögeln wollt, dann tut das gefälligst draußen.«
»Und was passiert sonst?«, fragte der Bursche und drückte die Brust der Hure, während er Brandon herausfordernd musterte. »Haust du mir dann etwa auf die Finger, Kleiner?«
Brandons Blick fiel auf die Parker Gun mit dem gekürzten Doppellauf, die unter der Theke lag – unsichtbar für die Gäste. Normalerweise reichte es, wenn er den Knüppel einsetzte, doch bei diesem Burschen war er sich nicht so sicher.
Er hatte den rothaarigen Kerl noch nie zuvor gesehen, was aber nichts Besonderes war. Denn seit der Bahnhof der Union Pacific Railroad vor vier Monaten eröffnet worden war, strömten täglich Dutzende von Fremden in die Stadt, auf der Suche nach Zerstreuung.
Schon vorher war Reno ein Anlaufpunkt für Glücksritter und Vergnügungssüchtige gewesen. Es gab ein halbes Dutzend Saloons, vier Bordelle, unzählige billige Absteigen und sogar ein kleines Vaudeville-Theater, deren Darbietungen mit frivol noch äußerst zurückhaltend beschrieben waren. Das Kaff hatte einen gewissen Ruf, weit über die Region hinaus, und nun, mit der Eisenbahn, explodierte das sündige Treiben geradezu.
Der Bahngesellschaft konnte das nur recht sein, allerdings fühlte sie sich keineswegs zuständig, wenn es darum ging, der ausufernden Gewalt, die nun einmal mit dem Saufen, dem Glücksspiel und der Hurerei einherging, Herr zu werden.
Es war schon vorher schlimm gewesen – nun geriet alles völlig außer Rand und Band. Die Eigentümer der diversen Etablissements hatten mehrfach das Gehalt für den Sheriff und zwei Deputies aufgestockt, doch nachdem nur innerhalb von vier Wochen drei Sternträger erschossen worden waren, fand sich niemand mehr bereit, das verwaiste Sheriff's Office zu besetzen.
Seit ein paar Tagen war Reno eine Stadt ohne Gesetz; oder wenigstens ohne jemanden, der es durchsetzte.
Daher würde es kaum helfen, dem gefährlich aussehenden Freier von Edelgund mit dem Ordnungshüter zu drohen. Doch Brandon verspürte genau so wenig Lust darauf, die Schrotflinte zu packen und es auf ein Feuergefecht ankommen zu lassen. Ihm waren die beiden großkalibrigen Schießeisen im Doppelholster des Galgenvogels nicht entgangen, und er hatte das vage Gefühl, der Bastard lauere nur darauf, einen oder beide ziehen zu können, um ihm das Hirn wegzublasen, bevor er die Parker auch nur hochreißen konnte.
Also änderte er seine Strategie.
»Entweder, ihr zwei Turteltäubchen sucht euch eine dunkle Ecke vor der Tür, Edelgund«, sagte er an die Dirne gewandt und tat dabei sein Bestes, um die Worte mit einer strengen Miene zu unterstreichen. »Oder du wirst diesen Schankraum ab morgen nicht mehr betreten. Zwing mich nicht dazu, Mr. Heathernan hiervon zu erzählen.«
Edelgund kicherte höhnisch, doch der Name des Saloonbesitzers schien wenigstens etwas Licht in ihren vom Schnaps vernebelten Hirnkasten zu bringen. Die Dirne hatte bereits in mehreren Saloons Hausverbot, wie Brandon wusste. Und hier im Rooky Inn fand sie stets noch willige Kunden, obwohl die besten Jahre längst hinter ihr lagen.
Der Bartender erkannte am Zucken ihrer Mundwinkel, dass Edelgund bereit war zu einem kontrollierten Rückzug. Vorher streckte sie ihm allerdings noch die Zunge raus, nannte ihn Wichser und wünschte ihm Sackratten und ein Geschwür an den Hals, das sein Geschlechtsteil abfallen lassen möge, bevor sie vom Hocker rutschen wollte.
Doch ihr Freier hinderte sie daran. Er hielt sie mit der linken Hand auf der nackten Brust fest in ihrer Position. Und zielte im nächsten Moment mit einem Revolver auf Brandons Stirn.
»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, zischte er und entblößte dabei ein Gebiss, das ähnlich schadhaft war wie das von Edelgund. »Denkst du tatsächlich, ein Rowdy Hanks lässt sich von einem Wicht wie dir vor die Tür setzen?«
Im Schankraum war es schlagartig still geworden. Keiner sprach mehr ein Wort, und alle Augen waren nun zum Tresen gerichtet, vor dem ein Revolvermann mit halb entblößtem Gemächt den Bartender bedrohte und dabei eine Frau im Griff hielt, deren Kleidung sogar noch derangierter wirkte.
Der Anblick hätte auf groteske Weise komisch sein können, dennoch lachte niemand. Es war so still, dass Brandon glaubte, sein mühsames Schlucken wäre bis zur hintersten Ecke zu hören, als er vergeblich versuchte, den steinharten Kloß in der Kehle loszuwerden.
»Hey, Schätzchen«, krächzte Edelgund, »ruhig Blut, okay? Meine Kammer ist nicht weit weg, nur ein paar Schritte um die Ecke. In zwei Minuten können wir da sein, dann besorg ich's dir so gut, wie du es noch nie erlebt hast.«
Rowdy Hanks grinste, dann ließ er Edelgunds Brust los, und sein Arm legte sich um ihren Hals. »Nein, du Schlampe. Ich besorge es dir, und zwar genau hier vor all diesen Leuten!«
Sein Arm schloss sich eng um den Hals der Prostituierten, während er sie rückwärts vom Hocker zerrte. Dabei zielte Hanks unverwandt mit dem Schießeisen auf Brandon, der nun den Knüppel fallen ließ und langsam die Hände hob. Er spürte, wie seine Schließmuskeln zu versagen drohten, als der Revolvermann den Hahn des Sechsschüssers spannte.
Dann bemerkte er eine Bewegung an der Schwingtür und blinzelte.
Hanks hatte Edelgund gezwungen, sich vorzubeugen und ihr den Rock über den Rücken geworfen, bevor er ihre Unterhosen mit einem Ruck zerriss. Er war gerade dabei, seine eigenen Hosen herunterzulassen, als der junge Mann im schwarzen Anzug durch die Schwingtür trat und einen Revolver auf den Galgenvogel richtete.
»Lass das Schießeisen fallen und greif an die Decke!«, rief der Fremde, den Pistolenlauf auf Hanks gerichtet. »Ansonsten schieße ich dir liebend gern die haarigen Eier weg.«
Jeder im Raum schien den Atem anzuhalten. Brandon biss die Zähne zusammen und erkannte etwas Glänzendes an der Weste des Mannes vor der Schwingtür. Es sah aus wie ein...
»Fahr zur Hölle!«, brüllte Hanks, stieß sich von den breiten Hüften Edelgunds ab und wirbelte gleichzeitig herum. Sein Revolver spuckte Feuer, doch der junge Bursche hatte damit gerechnet und war schneller. Nur eine Kugel verließ den Lauf des langläufigen Army Colts – und sie traf Hanks mitten ins Gesicht.
Brandon sah entsetzt, wie der Schädel des Banditen zerplatzte wie eine Tontaube, schloss rasch die Augen und duckte sich hinter die Theke.
So hörte er nur, wie Hanks' Revolver belferte, wohl, weil dessen Besitzer im Tode zuckend den Abzug betätigte. Hörte den Schmerzensschrei eines Getroffenen, dann das entsetzte Kreischen von Edelgund, das Sekunden später in ein Wimmern überging.
Und schließlich ein Klopfen auf der Tresenplatte, das ihn sich zögernd erheben ließ.
Der schwarzgekleidete Fremde stand vor ihm, und nun erkannte Brandon, dass er sich nicht getäuscht hatte: Ein Marshalstern glänzte an der Brust des jungen Mannes, der nun mit schmalem Lächeln fragte: »Alles in Ordnung? Keine Sorge, der Abschaum da unten wird keinen Schaden mehr anrichten. Könnte ich jetzt einen doppelten Bourbon bekommen – bitte?«
✰
Wesley Mitchell zuckte zusammen, als die Schüsse an seine Ohren drangen. Doch er war der einzige, der sich umwandte und zum Ausgang des Casinos schaute.
Sein Bruder hatte gerade einen kleinen Stapel Chips auf die Achtzehn geschoben und warf ihm nur einen kurzen Seitenblick zu, während der Croupier die Kugel mit einer geschickten Bewegung aus dem Handgelenk in den Kessel schleuderte.
»Was zum Teufel ist los mit dir?«, fragte Cain zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, während er einer drallen Blondine, die auf der gegenüberliegenden Seite des Roulettetisches stand, zulächelte.
»Da wurde geschossen«, knurrte Wesley und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »Muss direkt gegenüber gewesen sein. Vielleicht im Rooky Inn.«
»Na und?« Cain griff nach dem Whiskyglas und prostete der Blondine gegenüber damit zu. »In Reno wird in einer Nacht mehr Pulver verschossen als bei der Schlacht von Gettysburg. Was kümmert's dich?«
Die Blondine rollte mit den Augen und wandte sich gelangweilt ab; Cains Grinsen verschwand, als hätte man ihm eine Ohrfeige verpasst.
Sein jüngerer Bruder rang mit den Händen und sah sich noch einmal zur Tür um. »Jemand ist uns auf den Fersen, Cain«, murmelte er. »Das spüre ich ganz deutlich. Wir sollten abhauen nach Osten. Solange es noch geht.«
»Hör endlich auf mit diesem Geschwätz«, erwiderte Cain und leerte sein Whiskyglas. »Niemand ist hinter uns her, und hier in Reno sind wir so sicher wie in Abrahams Schoß.«
Die Roulettekugel war kaum zu erkennen, so schnell kreiste sie auf ihrer Bahn im Kessel. Cain winkte einer Kellnerin, und sie kam postwendend zu ihm. »Noch einen doppelten Scotch, Süße«, sagte er, und das Lächeln des jungen Mädchens verlor nicht die Spur an Glanz, als er ihr dabei den Hintern tätschelte.
Wesley sog nervös an seiner Zigarette, dann erhob er sich. Sein Bruder sah ihn mürrisch an. »Was hast du vor, zum Teufel?«
»Ich geh was trinken.«
»Das kannst du doch wohl hier genau so gut!«
Wesley schob seinen Bruder beiseite und ging steifbeinig zum Ausgang. Cain schaute ihm einen Moment lang nach, dann tauchte die Kellnerin mit seinem Drink auf, und er nahm ihn entgegen, bevor er sich wieder auf das Rouletterad konzentrierte, das jetzt ganz allmählich an Geschwindigkeit verlor. Gebannt starrte er auf die rasende Kugel, während er einen langen Schluck aus dem Glas nahm.
Klackernd sprang die Kugel über die Fächer, hüpfte auf und ab, bis sie endlich ihr Ziel gefunden hatte.
Cain verzog die Lippen, und der Croupier verkündete: »Zero, Ladies and Gentlemen. Die Null.«
»Goddam!« Cain schlug mit der Faust auf den Tisch und erntete dafür ein halbes Dutzend konsternierte Blicke.
Diese arroganten Bastarde, dachte er, während sich sein zerfurchtes Gesicht zu einem ironischen Lächeln verzog.
Vielleicht sollte er es für heute gut sein lassen. Er hatte nicht ein einziges Mal gewonnen und bereits über fünfzig Dollar verpulvert. Zwar war das nur ein verschwindend geringer Teil ihrer Beute, aber er und Wesley hatten es seit ihrer Ankunft in Reno auch ordentlich krachen lassen. Zwei Mahlzeiten jeden Tag, Bier, Whisky und jede Menge Nutten – er hatte keine Ahnung, wie viel noch im Koffer war, der im Schrank ihres Pensionszimmers lag. Besser, er schaute heute mal nach, damit er den Überblick behielt. Schließlich war er der Ältere und trug die Verantwortung für sie beide, was die Zukunft anging.
Vermutlich hatte Wesley sogar recht damit, dass sie in Reno keine Wurzeln schlagen sollten. Zwischen ihnen und dem Galgen lagen nur eine Staatsgrenze und hundertfünfzig Meilen, wenn man es genau betrachtete.
»Möchten Sie einen Einsatz machen, Sir?«, ließ sich der Croupier vernehmen und deutete auf die Chips zwischen Cain Mitchells Händen. Der nickte bereits und ließ den Blick über den grünen Samt mit den Feldern wandern, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.
»Wir müssen weg. Sofort!« Wesleys Augen waren aufgerissen, und seine Finger krallten sich so heftig in die Muskeln von Cains Schulter, dass der die Lippen verzog.
»Was soll der Mist?«, knurrte er, bemerkte den fragenden Blick des Croupiers und winkte verärgert ab.
»Es ist der Marshal«, zischte Wesley, und Cain runzelte die Stirn.
»Blödsinn! Was redest du da...«
»Er ist drüben im Rooky Inn«, fiel ihm sein Bruder ins Wort. »Ich hab ihn erkannt, Cain! Der schwarze Anzug, der Hut... Wie es aussieht, hat er jemanden erschossen.«
Cain schnaubte, aber er erhob sich. Er wusste, wenn Wesley mal wieder einen seiner Anfälle hatte, machte es keinen Sinn, ihn zu ignorieren.
»Also gut«, brummte er und legte der Kellnerin die übriggebliebenen Chips auf ihr Tablett, bevor er Wesley mit der Hand in dessen Rücken in Richtung Ausgang schob. »Dann werde ich mir selber mal anschauen, was los ist.«
Draußen auf dem Boardwalk schüttelte Wesley seine Hand ab. Cain ließ sie sinken und starrte hinüber zum Rooky Inn.
Durch die dreckigen Scheiben war nicht viel zu erkennen, aber gerade schleppten zwei Männer einen Leichnam hinaus auf die Straße und warfen ihn wenig respektvoll auf die Ladefläche eines Murphywagens.
Drinnen war es so voll wie immer, aber geschossen wurde nicht mehr. Nur konnte Cain beim besten Willen niemand im Schankraum identifizieren. Also fragte er seinen Bruder: »Bist du etwa drin gewesen?«
Wesley schüttelte den Kopf. »Nein. Ich war nur draußen auf der Straße und hab rein gesehen. Da stand er mit dem Rücken zu mir an der Theke. Die Leute haben ihm auf die Schulter geklopft und er hat's genossen. Hat 'nen Whisky getrunken und gelacht.«
»Aber sein Gesicht hast du nicht gesehen, oder?«, fragte Cain und legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. Sein Gesicht verriet Mitgefühl.
Sein Bruder verzog das Gesicht. »Er hat diesen scheiß schwarzen Anzug und den Hut getragen, verdammt. Die haben ihre Biergläser gehoben, und jemand rief ›auf den Marshal‹! Hältst du mich etwa für verrückt, Cain? Er ist es, kein Zweifel!«
Der ältere Mitchell rieb sich die Stirn, ohne zu widersprechen – auch wenn die Worte seines Bruders keinen Sinn ergaben. Dennoch wusste er, wenn Wesley seine spinnerten Minuten hatte, war es besser, ihm seinen Willen zu lassen.