Lassiter 2655 - Kolja van Horn - E-Book

Lassiter 2655 E-Book

Kolja van Horn

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Beschreibung

Die Marquesa Verónica Da Silva blinzelte gegen die aufgehende Sonne, als sie den Hufschlag vernahm, der von der Allee an ihre Ohren drang. Sie trat an die Zinnen des Turms, der über die Hazienda und die umliegenden Bäume emporragte, griff nach dem Fernglas und richtete es auf die Straße, die auf einem Bergkamm, fast einer Brücke gleich, über das Tal zum Anwesen führte.
Eine Kutsche näherte sich in rascher Fahrt. Als sie etwas genauer hinsah und der Mann auf dem Kutschbock den Kopf hob, erkannte sie sein Gesicht sofort. "Lassiter", murmelte sie, und ihr Herz schlug postwendend schneller. Dabei konnte sie sich nicht entscheiden, welchen Gefühlen sie die Oberhand geben sollte: freudige Erwartung oder Beklommenheit.


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Seitenzahl: 147

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Lassiter und die Marquesa

Vorschau

Impressum

Lassiter und dieMarquesa

von Kolja van Horn

Die Marquesa Verónica Da Silva blinzelte gegen die aufgehende Sonne, als sie den Hufschlag vernahm, der von der Allee an ihre Ohren drang. Sie trat an die Zinnen des Turms, der über die Hazienda und die umliegenden Bäume emporragte, griff nach dem Fernglas und richtete es auf die Straße, die auf einem Bergkamm, fast einer Brücke gleich, über das Tal zum Anwesen führte.

Eine Kutsche näherte sich in rascher Fahrt. Als sie etwas genauer hinsah und der Mann auf dem Kutschbock den Kopf hob, erkannte sie sein Gesicht sofort. »Lassiter«, murmelte sie, und ihr Herz schlug schneller. Dabei konnte sie sich nicht entscheiden, welchen Gefühlen sie die Oberhand geben sollte: freudige Erwartung oder Beklommenheit.

Ein Tag zuvor, Chihuahua, Mexiko

»Es sind acht von den Kerlen im Haus. Außerdem die beiden dort vor der Tür.« Lassiter nickte dem Mann zu, der neben ihm in die Knie ging und wachsam über die Ladefläche des Murphy-Wagens zum schmucken Townhouse schräg gegenüber spähte.

»Okay.« Der Brigadeagent wischte sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. »Hauptsache, keiner von den Galgenvögeln hat Lunte gerochen.«

Sein Nebenmann schnaubte; ein wortloser Ausdruck milder Empörung. »Wir wissen genau so gut wie Sie, wie man so etwas angeht, Señor Lassiter«, entgegnete er leise, aber bestimmt. »Dorita hat sich als Hilfe des Gemüsehändlers ausgegeben, und Señora Gonzalez hat sie bereitwillig eingelassen. Sobald sich die Gelegenheit ergab, hat Dorita ihr erklärt, was wir vorhaben – und nach der Anzahl unserer Gegner gefragt.«

»Wie hat die Señora reagiert?«, fragte Lassiter.

»Überrascht – und wohl auch erleichtert. Schließlich steht sie seit einigen Wochen praktisch unter Hausarrest, und sein Leben unter den Augen von Banditen zu fristen, ist sicher kein Spaß. Aber natürlich hat sie auch Angst.«

»Sicher hat sie das«, brummte Lassiter. »Gut, dass die beiden kinderlos sind.«

Der Mann neben ihm, Rurales-Capitán Paco Lopez, aus gegebenem Anlass heute ohne seine Uniform, nickte grimmig. »Trotzdem wird das kein Kinderspiel. Außer Señora Gonzalez befinden sich noch drei Angestellte im Haus, und die haben keine Ahnung. Dorita hat der Señora eingeschärft, sich nichts anmerken zu lassen.«

»Ich übernehme den Vordereingang« sagte Lassiter. »Gleichzeitig gehen Ihre Kollegen über den Hinterhof hinein. Mit dem ersten Glockenschlag, okay?«

»Wie besprochen«, bestätigte Paco Lopez und schob dabei grimmig das von Bartschatten dunkle, energische Kinn nach vorn.

Lassiter musste den Hals recken und sich ein wenig vorbeugen, damit er die Uhr auf dem Kirchturm erkennen konnte, der sich am Ende der Straße in den indigofarbenen, wolkenlosen Himmel erhob.

Ihm blieben noch fünf Minuten.

Er richtete sich halb auf und bewegte sich geduckt im Schutz der am Straßenrand abgestellten Karren und Kutschen über den Sidewalk. Zu dieser Zeit waren nur wenige Passanten unterwegs im vergleichsweise noblen Wohnviertel im Osten der Stadt. Einige Hausangestellte mit ihren Einkäufen, Lieferanten, Handwerker, Beamte, die auf dem Weg zur Arbeit spät dran waren.

Lassiter fingerte einen Zigarillo aus der Tasche seiner Langjacke und schob sich den verbeulten Glimmstängel in den Mund, ohne ihn anzuzünden. Mit einem Blick über die Schulter überzeugte er sich davon, dass der Abstand zum Eingang des Stadthauses nun groß genug war. Er drehte den Kopf nach links und rechts, lockerte seine Schultermuskeln und konzentrierte sich kurz, dann trat er auf die Straße – und erweckte im nächsten Moment den Anschein, als habe er die Nacht im Saloon verbracht und es dabei ordentlich krachen lassen.

Mit einem Griff in die Innentasche förderte er einen silbernen Flachmann zutage und schwenkte ihn, ein leicht debiles Grinsen auf den von Bartstoppeln umgebenen Lippen. Er warf sich ein wenig in die Hüfte und marschierte in leichten Schlangenlinien quer über die Straße. Übertreib's nicht, ermahnte er sich dabei, vielleicht sind die zwei Wachhunde cleverer, als sie aussehen.

Als er schon auf zehn Yards heran war, wurden die Banditen, die die Tür bewachten, auf ihn aufmerksam und musterten ihn aus verengten Augen. Lassiter hob die Linke mit dem Flachmann und prostete ihnen fröhlich zu, ohne eine Reaktion zu erhalten.

Er setzte den nächsten Schritt mit der Stiefelspitze in den Straßenstaub, geriet postwendend ein wenig ins Taumeln und lachte glucksend auf. »Hoppla«, murmelte er und warf einen kurzen Blick über die Schulter, wie um sich zu vergewissern, dass dort niemand seine Gleichgewichtsprobleme bemerkt hatte.

Einen Augenblick später hatte er die Öffnung im schmiedeeisernen Zaun erreicht, und nur drei Schritte trennten ihn noch von der Treppe zur Eingangstür. Einer weniger bis zu den beiden Gorillas, die ihn nun mit offenem Misstrauen beäugten. Einer der zwei legte die Hand auf den Griff seines Schießeisens, der andere knurrte: »Sieh zu, dass du weiterkommst, alte Saufnase.«

Lassiter lag eine schlagfertige Antwort auf der Zunge, die das kartoffelförmige, von geplatzten Adern durchzogene und dunkelrote Riechorgan seines Gegenübers betraf, doch stattdessen nuschelte er ein wenig beleidigt: »Warum so unfreunlich... Misser? Habienn doch nix getan, habich nich.« Er zog sich fahrig den Hut vom Kopf und deutete eine Verbeugung an, die ein wenig zu tief geriet und ihn ins Schwanken brachte. Mit einem Ausfallschritt fing er den Sturz ab – und stand nun fast unmittelbar vor den Wachposten.

Er stülpte sich den Stetson wieder über und hob entschuldigend die Hand. »Sorry... aber hatma einer der Gents Feuer fümich?«

»Zieh Leine, Hombre«, knurrte Kartoffelnase ungnädig, »ehe ich dir den Glimmstängel ins Maul stopfe!«

»Jetzt beruhige dich mal«, beschwichtigte sein Kumpan ihn, der offenbar mehr Verständnis für Lassiter aufbrachte, zog ein silbernes Feuerzeug hervor und trat nah an ihn heran. Der Bursche setzte eine strenge Miene auf und brummte: »Also, hier kriegst du dein Feuer, aber dann trollst du dich, comprende?«

Lassiter beugte sich vor und hielt den Zigarillo über die Flamme, paffte einen Zug, inhalierte tiefer und blies dem freundlichen Bandolero eine Rauchwolke direkt ins Gesicht.

Im selben Moment riss er das Knie hoch und rammte es dem Burschen wuchtig in die Kronjuwelen. Ein eigentümliches Pfeifen kam über die gespitzten Lippen des Malträtierten, und ihm traten die Augen so weit aus den Höhlen, dass Lassiter fest damit rechnete, sie ihm nächsten Moment herausfallen zu sehen.

Kartoffelnase öffnete den Mund, um einen Alarmschrei auszustoßen, kam aber nicht dazu. Denn Lassiters Rechte war ansatzlos vorgeschossen und traf den Kehlkopf des Mannes. Der griff sich ächzend an den Hals und lief binnen Sekunden so puterrot an, wie seine Nase es bereits gewesen war. Dann stürzte er erst auf die Knie und kippte kurz darauf seitlich in die niedrigen Blumenrabatten, die den kurzen Pflasterweg vom Bürgersteig zur Haustürtreppe säumten.

Es klapperte metallisch, als das Feuerzeug des anderen auf den Schieferplatten landete, und dessen Besitzer hatte sichtlich zu kauen an den Schmerzen im Unterleib, brachte es aber trotzdem fertig, seinen Revolver aus dem Holster zu ziehen. Lassiter schüttelte missbilligend den Kopf und verpasste dem Outlaw einen Schwinger gegen die Schläfe, der ihn die Augen verdrehen ließ, bevor er neben seinem Kumpel zu Boden sackte.

Lassiter wandte sich um und tauschte einen kurzen Blick mit Lopez, der sich vorsichtig hinter dem Sichtschutz des Murphy-Wagens aufrichtete und ihm zunickte.

Als er nach dem geschwungenen Messingtürgriff langte, schlug die Uhr im Kirchturm zum ersten Mal.

Der Brigadeagent stieß die Tür mit dem Stiefel weit auf und hielt den Remington schussbereit vorgestreckt, als sie mit einem dumpfen Laut gegen die Seitenwand des Korridors schlug.

Ein weinroter Teppich lief über die gesamte Länge des Flurs, auf etwa halber Höhe der acht Yards lagen sich zwei geschlossene Türen gegenüber, am Ende führte eine Treppe in den ersten Stock hinauf, und der Flur verbreiterte sich zu einem kleinen Vestibül. Links und rechts der Treppe erkannte Lassiter zwei weitere Türen, eine davon stand halb offen. Während er sich ihr lautlos näherte, hörte er leise Stimmen, die sich unterhielten.

Ludovigo Gonzalez, der Eigentümer des noblen Hauses, mithilfe seiner üppigen Einkünfte erworben, die er als Notar und Geldwäscher von seinem Boss, dem Bandolerofürsten El Jabalí – den Keiler –bezog, hatte bei einem konspirativen Treffen in der Botschaft der Vereinigten Staaten eine Skizze angefertigt, weshalb Lassiter sich hier so gut zurechtfand, als wäre er persönlich vom Hausherrn durch die Räume geführt worden. Hinter der offenstehenden Tür befand sich eine Art Vorzimmer, in der Besucher warten konnten. Dahinter gelangte man in den Salon, an den sich eine kleine Bibliothek und Gonzalez' Büro anschlossen.

Rechts hinter der Tür, über der die Treppe nach oben verlief, befand sich ein Aufenthaltsraum für die Bediensteten, die Küche, ein Bügelzimmer und eine Vorratskammer. Oben lagen die Privatgemächer des Ehepaars.

Lassiter trat vor die Tür, stellte fest, dass die Stimmen zu leise waren, als dass sie direkt aus dem Raum dahinter stammen konnten, und schob die Tür mit dem Revolverlauf weiter auf.

Er behielt recht – das Zimmer war leer. Rasch schlüpfte er hinein, schlich mit wenigen ausgreifenden Schritten hindurch und baute sich neben der ebenfalls nur angelehnten Tür hinter einer mannshohen Zimmerpalme auf.

Jeden Moment müsste...

Er grinste grimmig, als das Geschrei am Hintereingang einsetzte. Lopez' Männer griffen an, und schon krachten Schüsse. Der Brigadeagent wappnete sich – eine Sekunde später brüllte jemand im Salon etwas auf Spanisch, die Tür wurde aufgestoßen und zwei verwegen aussehende Kerle stürmten in den Raum.

Lassiter wartete ab, bis sie an ihm vorbei und kurz vor dem Durchgang zum Vestibül waren, bevor er den Remington hob und rief: »Stehenbleiben und hoch die Pfoten!«

Die Gesetzlosen erstarrten nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann taten sie das, womit der Agent der Brigade Sieben gerechnet hatte. Sie griffen nach ihren Sechsschüssern.

Einem der beiden gelang es noch, seine Waffe zu ziehen und herumzuwirbeln, der andere hatte die Knarre erst halb aus dem Holster, als Lassiters Remington Feuer spuckte. Die Schüsse dröhnten und brachten die Trommelfelle des Brigadeagenten zum Klingeln, als mehrere Projektile den Lauf verließen und sämtlich ihre Ziele fanden.

Der kleinere der beiden Bandoleros wurde in die Brust getroffen und von der Wucht des Geschosses zwei Yard weit nach hinten geschleudert, bis er auf einem Beistelltisch landete, der unter dem Gewicht des Burschen zertrümmert wurde. Mann, Möbelstück und die darauf stehende Wasserkaraffe mitsamt einem halben Dutzend Gläser gingen lautstark in der Ecke zu Boden.

Lassiters zweiter Gegner riss fluchend seinen langläufigen Revolver hoch, doch der Brigadeagent traf ihn in die Schulter und einen Sekundenbruchteil später in den Hals. Der Bandit vollführte eine Pirouette, stieß einen gurgelnden Laut aus, während eine dunkelrote Fontäne über dem Hemdkragen hervorschoss, und brach schließlich auf dem Läufer zusammen. Das helle Muster des Teppichs färbte sich rasch dunkel, und der Blick des Bandolero brach.

Lassiter sprang über die Toten hinweg und war mit zwei Sätzen draußen auf dem Flur. Nun, da das Überraschungsmoment dahin war, kam es vor allem auf Schnelligkeit an, um alle Gegner auszuschalten, bevor Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Die Bandoleros in den Gesinderäumen musste er den Männern von Lopez überlassen, doch oben im ersten Stock vermutete er nicht nur Lupa Gonzalez, die Gattin des Anwalts, sondern auch mindestens zwei weitere Bewacher. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete er die Treppe hinauf. Er hatte den Absatz im ersten Stock gerade erreicht, als ein Schrei ertönte und direkt vor ihm eine Tür aufsprang.

Ludovigo Gonzalez zuckte regelrecht zusammen, als die Kirchturmuhr eine halbe Meile entfernt zu läuten begann – obwohl er den Klang der Glocke herbeigesehnt hatte, seit er vor zweieinhalb Stunden in sein Büro gekommen war.

Am liebsten hätte er darauf bestanden, an diesem Morgen irgendeinen Grund vorzuschützen, um daheimbleiben zu können – doch die Männer, die ihre Flucht vorbereiteten, hatten das kategorisch von sich gewiesen. Das Risiko, dass jemand Verdacht schöpfen würde, war viel zu groß, wie man ihm beschieden hatte, und deshalb müsse er sich benehmen wie an jedem anderen Tag. Bis die Rurales seine Frau befreit hatten und man ihn abholen würde, um sie auf schnellstem Weg aus der Stadt und über die Grenze in die USA zu bringen.

Er hatte lange gezögert, diesen endgültigen Schritt zu wagen – und den Mann ans Messer zu liefern, der ihn so lange gefördert und zu beträchtlichem Wohlstand verholfen hatte. Doch war ihm noch eine Wahl geblieben? Nach dem Gespräch, das er zufällig belauscht hatte – und in dem es ziemlich unverhohlen darum gegangen war, dass El Jabalí ihm nicht mehr über den Weg traute und darüber nachdachte, ihn zu beseitigen?

Wohl kaum. Dabei hatte er nichts getan, was seinem Boss Anlass dazu hätte geben können, ihn auch nur zu verdächtigen. Ludovigo Gonzalez war ein viel zu großer Hasenfuß, als dass er es wagen würde, den Keiler zu hintergehen. Einige andere in El Jabalís innerem Zirkel hingegen hatten es wohl versucht – und bitter bereut. Und eben dort lag der Hase im Pfeffer. Durch die Reihe von Verrätern und Männern, die geglaubt hatten, ihren Anführer gegen dessen Willen beerben zu können, war das Gift des Misstrauens tief in Herz und Seele von El Jabalí eingesickert, und der massige Herrscher über sämtliche Bandoleros im Nordosten von Mexiko witterte nun überall Heimtücke und Dolche im Gewande, die man ihm in den Rücken stoßen wollte. Wie ein einsamer, böser Fürst aus einem Shakespeare-Drama lauerte er darauf, dass sich jemand im Kreis seiner nun nicht mehr so Vertrauten eine Blöße gab – und passierte das nicht, dann konnte derjenige sich eben nur gut tarnen.

Ohnehin hatte die Bande des Keilers, dessen bürgerlicher Name Cristobal Santander lautete, den Zenit ihres Erfolges wohl überschritten. In jüngster Vergangenheit hatten die mexikanische Justiz und ihre Ordnungshüter die Anstrengungen verdoppelt, El Jabalís Organisation zu zerschlagen – und immer mehr Bandenmitglieder waren gefasst und hinter Gitter gebracht worden. Natürlich schob der Boss auch dafür die Schuld Verrätern in den eigenen Reihen zu.

Was ihn, Ludovigo Gonzalez anging, würde sich der Verdacht gegen ihn nun tatsächlich bald bestätigen – und es dann keine Rolle mehr spielen, dass El Jabalí dies selbst herbeigeführt hatte.

Gonzalez zog ein Taschentuch hervor, tupfte sich den Schweiß von der Stirn und griff nach der ledernen Aktentasche, die an der Seite des Schreibtischs lehnte. Mit dem elften Glockenschlag öffnete er die Tür zum Vorzimmer und zwang sich zu einem Lächeln.

Lionel hob sein Fuchsgesicht und starrte ihn wachsam an, ohne das Lächeln zu erwidern. Vermutlich hatte man seinem Sekretär aufgetragen, ein Auge auf ihn zu haben – und Lionel spekulierte längst darauf, bald seinen Posten zu übernehmen.

»Wollen Sie schon zu Mittag essen«, fragte sein Assistent mit stechendem Blick. »Ziemlich früh dafür, Señor.«

Gonzalez nickte und erwiderte kühl: »Ich muss ein Telegramm nach El Paso aufgeben und werde die Gelegenheit nutzen, auf dem Rückweg bei Luiz einen Americano zu mir zu nehmen.«

»Aber das kann ich doch für Sie übernehmen«, bot Lionel an und machte schon Anstalten, sich zu erheben.

»Danke, nicht nötig. Sie sind mit dem Transkribieren des Protokolls doch wohl sehr beschäftigt, mein Lieber.« Gonzalez zeigte auf den Papierstapel, der die Verhöre mit zwei Bandenmitgliedern sowie eine Klageschrift des Staatsanwalts umfasste. Wie üblich waren ihnen die Schriftstücke nur leihweise zum Abschreiben überlassen worden.

»Oh, das ist kein Problem«, versicherte Lionel. »Ich bin schon zur Hälfte damit fertig und mache gern etwas länger heute Nachmittag.«

»Sehr freundlich, Lionel. Aber ich möchte mir ohnehin gern ein wenig die Beine vertreten.«

Die Augenbrauen des Sekretärs wanderten ein gutes Stück die fliehende Stirn hinauf, und er fuhr sich vorsichtig mit der Hand über das pomadig glänzende, in einem Mittelscheitel streng nach hinten gekämmte rotbraune Haar. »Con permiso, Señor Gonzalez«, sagte er und lächelte mit geheuchelter Unterwürfigkeit. »Aber Sie wissen doch selbst, dass Gabriel Mondrago angeordnet hat, Sie sollen während der Bürozeiten nicht mehr allein die Kanzlei verlassen.«

Das wusste Gonzalez natürlich sehr wohl. Und Mondrago war El Jabalís rechte Hand – somit galt, dass alles, was der finstere Mordgeselle und Spezialist für Folter und schmerzhafte Tode sagte, so zu verstehen war, als hätte der Jefe selbst es verkündet.

Glücklicherweise war Mondrago aber gerade nicht im Raum, deswegen legte Gonzalez seine Stirn in Falten und so viel an Gewicht in seine Stimme, wie er vermochte, als er antwortete: »Ich weiß sehr gut, was ich zu tun und zu lassen habe, Lionel. Dafür bedarf es keiner Maßregelung durch einen Sekretär.«

Lionels linker Mundwinkel zuckte nervös, und man sah ihm an, dass ihm die Zurechtweisung gegen den Strich ging. Dennoch wagte er es nicht, aufzubegehren, denn er war ein noch viel duckmäuserischerer Bürohengst als der Mann, der vor ihm stand. Mit gesenktem Blick nickte er und murmelte ein »Selbstverständlich, verzeihen Sie...«, das Gonzalez mit würdigem Nicken zur Kenntnis nahm, ehe er zur Tür eilte und kurz darauf draußen die Stiege hinab hastete, während die Tür zur Kanzlei hinter ihm ins Schloss fiel. Unten im Foyer warf er beklommen Blicke durch die Scheiben nach draußen auf den Boardwalk, ehe er erleichtert aufatmete.

Die beiden Ganoven, die sich ansonsten von morgens bis abends vor der Tür herumdrückten, funktionierten so zuverlässig wie ein Uhrwerk; immer zur selben Zeit gingen sie um die Ecke frühstücken und ließen ihren Posten für etwa zwanzig Minuten unbewacht. Was perfekt in das Räderwerk des orchestrierten Fluchtplans passte.

Als Gonzalez hinaus auf den Boardwalk trat, sah er sich nur kurz verstohlen in beide Richtungen um, bevor er weiter eilte. Er würde zunächst genau das tun, was er Lionel gegenüber behauptet hatte. Nämlich über die Calle de San Pedro und die Plaza Marquez den Hügel hinaufzugehen zur Filiale der Wells Fargo.

Dort würde eine Postkutsche auf ihn warten, die äußerlich nicht von einem regulären Fuhrwerk des Transportunternehmens zu unterscheiden war. Allerdings kam die Linienkutsche erst dreißig Minuten später. Dann wäre Gonzalez mit seinen Beschützern hoffentlich bereits auf dem Weg hinaus aus der Stadt und würde dort auf seine Ehefrau treffen, bevor man sie gemeinsam in Sicherheit brachte.

»Was zum Teufel...?« Stirnrunzelnd hob Gonzalez den Blick und blieb für einen Moment stehen. Waren das Schüsse gewesen?