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Als der FBI-Special-Agentin Mia North ein Mord angehängt und sie zu Jahren im Gefängnis verurteilt wird, sind ihr Leben und ihre Karriere vorbei. Doch als Mia, die nicht willens ist nachzugeben, entkommt und zu einem entflohenen Häftling wird, jagt sie weiter Mörder und löst aktive Fälle – während sie versucht, entlastende Beweise für ihren eigenen Fall zu finden. In WIE SIE FLÜCHTET (Ein Mia-North-FBI-Thriller – Buch eins) ist die Special-Agentin Mia North ein aufsteigender Star im FBI – bis ihr durch eine ausgefeilte Falle ein Mord angehängt und sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Durch einen glücklichen Zufall kann sie zwar entkommen, aber jetzt ist Mia ein entflohener Häftling auf der Flucht und zum ersten Mal in ihrem Leben auf der falschen Seite des Gesetzes. Sie darf ihre junge Tochter nicht sehen – und sie hat keine Hoffnung, wieder zu ihrem ehemaligen Leben zurückzukehren. Schnell wird sie sich bewusst, dass sie ihr Leben nur zurückbekommen kann, indem sie die Person verfolgt, die ihr die Falle gestellt hat. Ein diabolischer Mörder, den Mia einst hinter Gitter gebracht hat, ist auf Bewährung frei. Er peinigt sie, während sie im Gefängnis sitzt – allerdings jetzt auf der anderen Seite der Besucherscheibe – und prahlt mit einem Mord, den er in kürze begehen will. Mia, die im Gefängnis festsitzt, wird unfähig sein, ihn aufzuhalten. Die Zeit wird immer knapper und Mia muss ihre schärfsten Instinkte verwenden, um zu fliehen, den Gesetzeshütern auszuweichen und ihn aufzuhalten, bevor ein neues Opfer sterben muss. Kann sie den Mörder jagen und das Opfer – und sich selbst – retten? Wird sie wieder im Gefängnis landen? Oder noch schlimmer – in der Gewalt des Mörders ohne jegliche Unterstützung? Die MIA-NORTH-Reihe sind fesselnde Krimis voller Spannung, Überraschungen und Wendungen, die Sie nicht erwarten werden. Verlieben Sie sich in diese brillante, neue Protagonistin und Sie werden die Bücher bis spät nachts nicht aus der Hand legen. Bücher #2 und #3 in der Reihe – WIE SIE SICH VERSTECKT und WIE SIE SCHREIT – sind jetzt ebenfalls erhältlich.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 307
Veröffentlichungsjahr: 2022
W I E S I E F L Ü C H T E T
(Ein Mia-North-FBI-Thriller – Buch 1)
R y l i e D a r k
Rylie Dark
Debüt-Schriftstellerin Rylie Dark ist die Autorin der SADIE PRICE FBI THRILLER-Reihe, die bisher aus drei Büchern besteht; der MIA NORTH FBI THRILLER-Reihe, die bisher drei Bücher umfasst, und der CARLY SEE FBI THRILLER-Reihe, von der bisher drei Bücher verlegt wurden.
Rylie ist selbst eine begeisterte Leserin und lebenslange Anhängerin der Mystery- und Thriller-Genres, weshalb sie sehr gern von Ihnen hören möchte. Besuchen Sie www.ryliedark.com, um mehr herauszufinden und in Kontakt zu bleiben.
Copyright © 2021 by Rylie Dark. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig.
BÜCHER VON RYLIE DARK
EIN MIA-NORTH-FBI-THRILLER
WIE SIE FLÜCHTET (Buch #1)
EIN SADIE PRICE FBI-SPANNUNGSTHRILLER
INHALTSVERZEICHNIS
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
Das ist es.
Während sie sich auf dem Vordersitz des vom FBI zur Verfügung gestellten Camry nach vorn lehnte, beobachtete Mia North, wie der Stadtwagen, den sie seit einer Stunde beschattete, langsam vor einem mit Graffiti besprühten Save-All-Mini-Markt anhielt.
Sie behielt den Abstand bei und fuhr auf einen leeren Fünf-Dollar-Parkplatz auf der anderen Straßenseite, wobei sie hoffte, dass der Typ, der ihr Geld entgegennahm, nicht auch ihre Radkappen stehlen würde. Dann spähte sie durch die Windschutzscheibe, deren Scheibenwischer weiterhin den prasselnden Regen abwehrten, und drehte an dem Ring mit der falschen Perle an ihrem kleinen Finger, während sie darauf wartete, dass etwas geschah.
Die Fenster des Stadtautos waren verdunkelt, weshalb sie nicht erkennen konnte, ob sich darin etwas regte. Niemand stieg aus. Zumindest nicht zuerst. Die verschiedenen zwielichtigen Gestalten, die vor dem Mini-Markt herumlungerten – sie waren wohl dort, um Drogen zu verkaufen, andere auszutricksen oder was auch immer man in kaputten Stadtvierteln wie diesen machte – beobachtete den Wagen aufmerksam, denn es gab nur einen Grund, warum ein solches Auto sich nach Einbruch der Dunkelheit in der Stadtmitte von Dallas befinden konnte.
Und das wollte nichts Gutes verheißen.
Mia atmete zweimal tief durch, griff anschließend herüber, zog ein Stück Kaugummi aus seiner Verpackung und steckte es sich in den Mund, um ihre Nerven zu beruhigen.
Sie bot das Päckchen ihrem Partner David an, aber der schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass wenn du hier falsch liegst, Pembroke dir den Arsch dafür aufreißen wird.“
Damit hatte er recht. Zum Glück hatte Agent Pembroke eine Schwäche für sie. Zumindest dachte sie das. Nicht, dass der harte Kerl das jemals zugeben würde, aber die Erfolge logen nicht. Wegen ihrer Hartnäckigkeit war Mia als eine der Besten im Fort Worth Außenbüro von Dallas bekannt, also hatte sie das verdient. Zu den meisten Agenten war er hart wie eine Bulldogge, aber ihr gab er etwas Spielraum.
Doch selbst Mia musste zugeben, dass diese Ahnung weit außerhalb des Rahmens dessen lag, so viel stand fest.
Als sie angefangen hatten, den Mann von seinem Wolkenkratzer-Apartment im noblen Highland Park-Viertel zu verfolgen, hatte sie gehofft, dass dies einfach würde. Sie hatte gehofft, dass sie ein paar weitere belastende Beweise zur Akte hinzufügen könnten und bis zum Abendessen mit dem Job fertig wären.
Das war es, was sie gehofft hatte. Und was sie hoffte, glich eigentlich niemals dem, was wirklich geschah.
Weil das einfach nur zu gut war. Zu gut, um es aufzugeben.
Erneut ertappte sie sich dabei, wie sie an ihre achtjährige Tochter Kelsey dachte, die einmal mehr zu Bett ging, ohne einen Gute-Nacht-Kuss von ihrer Mutter zu bekommen.
Aber dieser kleine Ausflug nach Cedar Crest? Sie musste etwas auf der Spur sein. Als sie sich die Straßen voller Müll und die leeren Schaufenster ansah, wusste sie nur, dass dies das Stadtviertel sein musste, wo Träume hingingen, um zu sterben. Kein normaler aufstrebender Politiker würde auf dieser Straße voller Krimineller an einem Samstagabend Wahlkampf betreiben; aber ganz offensichtlich war Wilson Andrews alles andere als normal.
Sie beobachteten, wie eine Prostituierte – sie musste eine Prostituierte sein, denn sie trug ein hautenges Kleid, das kaum ihr Hinterteil bedeckte – sich dem Auto des Verdächtigen näherte. Das Fenster wurde heruntergelassen.
„Darum ging es die ganze Zeit? Der will sich nur ein wenig amüsieren?“, murmelte David. „Toll. Ein verschwendeter Samstag.“
„Nein …“, erwiderte Mia, aber natürlich wäre eine Anklage wegen Aufforderung zur Unzucht schon ausreichend schädlich für die Karriere des aufstrebenden Politikers. Doch ihre Vorahnung hatte nichts damit zu tun. „Ich glaube nicht, dass es hierbei darum geht.“
Wie erwartet, zuckte die Prostituierte mit den Schultern und trat mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck weg vom Wagen.
„Das führt zu überhaupt nichts“, brummte David und sah auf sein Handy. „Wozu braucht der so lange? Wenn er was tun wird, dann soll er endlich damit anfangen. Ich verpasse Franks erstes Spiel.“
Vor zwei Jahren, bevor er vom FBI eingestellt worden war und sich in Quantico hatte ausbilden lassen, war David ein Mathelehrer in der Highschool gewesen, wo er sich daran gewöhnt hatte, dass die Dinge laut des Stundenplans verliefen. Aber nach zehn Jahren im Dienst wusste Mia eines: beim FBI ging es nicht darum, einen Stundenplan zu verfolgen.
„Sei einfach etwas geduldig.“
Er stieß einen schweren Seufzer aus.
Sie sah auf die Uhr auf ihrem Armaturenbrett und warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Ihre Kinder waren etwa gleich alt und Frank spielte dieses Jahr den First Baseman. David, ein alleinerziehender Vater, dessen Sohn sein ganzes Leben war, war so stolz gewesen.
Der Drang, aufzugeben und nach Hause zu fahren, war stark, aber sie war sich so sicher, dass sie dieses Mal auf der richtigen Spur war. „Warte. Warte einfach. Ein paar Minuten noch. Versprochen.“
David öffnete den Mund, um zu gähnen, als sich plötzlich die Tür des Wagens öffnete. Mia schubste ihn hart an.
Ihr Partner setzte sich stocksteif auf, als Wilson Andrews ausstieg. Sein dichtes, ergrauendes Haar war perfekt frisiert und sein Anzug komplett faltenfrei, als ob er vorhatte, eine Rede vor einer Reihe von Würdenträgern zu halten.
Genau das hatte er zuvor an diesem Tag auch getan. Er stand ganz oben auf der Liste, um der Kandidat für den Bundesstaatssenat zu werden. Die Leute liebten einfach Wilson Andrews, der ein ausgezeichneter Baby-Küsser war und nur zu gern Versprechen machte.
Leider waren sich seine vielen Fans und Bewunderer nicht bewusst, was für ein Widerling er war. Und das hatte nichts mit seiner Verweigerung zu tun, den Gesetzentwurf zu unterstützen, der Kindern kostenlose Gesundheitsfürsorge zusicherte.
Nein, wie Mia vorhatte zu beweisen, ging es viel weiter als die gewöhnliche Schäbigkeit von Politikern.
David, der kein Calvin Klein war und genau ein Paar Jeans besaß, das er ständig trug, starrte angewidert in seine Richtung. „Verdammt. Meinst du, der Typ trägt manchmal auch etwas anderes als einen Anzug?“
„Der muss sich um seinen Ruf kümmern“, murmelte sie, während sie ihn beobachtete.
Er passte hier wirklich überhaupt nicht hinein. Aber vielleicht war ihm das mittlerweile egal. Er hatte angeblich eine ganze Menge krummer Dinge gedreht, war in einen Haufen fragwürdiger Angelegenheiten verwickelt gewesen, und war noch nicht einmal dafür verwarnt worden. Jetzt dachte er wahrscheinlich, dass er unbezwingbar war. Die Familienmitglieder des Andrews-Clans waren berühmte Milliardäre mit Freunden auf hoher Ebene, weshalb sie hier als Adel galten; genauso unbezwingbar wie die Kennedys und die Clintons.
Was genau der Grund war, weshalb er dachte, dass er ungestraft davonkommen würde, als er die minderjährigen Mädchen entführt hatte.
Nun, er hatte sie angeblich entführt. Mia war allerdings zufälligerweise die Einzige, die dies behauptete. Aber in ihren Gedanken behauptete sie es nicht nur. Sie wusste es.
Deshalb schlich er sich wie ein Krimineller herum. Ihm stand „Tunichtgut“ geradezu ins Gesicht geschrieben. Wilson Andrews, der Dritte, blickte um sich und schritt dann zu seinem Kofferraum, den er öffnete. Er zog einige Supermarkt-Plastiktüten heraus, die er alle in den Armen hielt und joggte über die Straße auf ihr Auto zu.
Sie rutschten auf ihren Sitzen herunter, als er an ihnen vorbeikam. „Wo will der hin? Meinst du wirklich, dass er diese Mädchen entführt hat?“
Sie nickte. Absolut. Sie hatte die Beweise, Haufen davon – Protokolle der Anrufe spätnachts, seltsame Internetrecherchen. Um gar nicht zu erwähnen, dass Sara die sechzehnjährige Tochter seines alten Kumpels und Mitbewohners in Rice war. Sie war eines Morgens auf dem Weg zur Schule verschwunden. Zwei Wochen später war dann auch ihre Klassenkameradin und beste Freundin Chloë Braxton verschwunden. Da es keine Zeugen und nur wenige Hinweise gegeben hatte, hatte die Fahndung gestockt, bis Mia sich entschlossen hatte, ein Auge darauf zu werfen.
Und alle Hinweise hatten zu einem Mann geführt. Als sie die Stapel von Beweisen durchgesehen hatte, die von der örtlichen Polizei zusammengetragen worden waren, hatte sie bemerkt, dass ein Name immer wieder erschien. Wilson Andrews. So beschäftigt er auch war, er hatte Suchtrupps organisiert, um sie zu finden. Er hatte eine Belohnung auf ihre sichere Heimkehr ausgesetzt. Und gemäß Gesprächen mit der Mutter hatte er, vor dem Verschwinden des Mädchens, ihr fast ungewöhnlich nahegestanden und ihr angeboten, sie zur Schule zu fahren und Ähnliches. Das hatte in Mias Kopf allerlei Alarmglocken läuten lassen.
Sie konnte es perfekt sehen: Er hatte sie verfolgt. Ihr vielleicht angeboten, sie zur Schule zu bringen. War ihr ein wenig zu nahe getreten. Sie hatte ihn abgewehrt. Dann hatte er Angst bekommen, dass sie ihn vielleicht verraten könnte.
Das hatte er nicht zulassen können. Also hatte er getan, was er hatte tun müssen.
Leider hatte niemand sonst auf dem Revier Mia geglaubt, trotz der sechs ungeklärten Fälle, die sie während ihrer neun Jahre beim FBI gelöst hatte. Es schien, dass Wilson Andrews mächtige Freunde hatte. Niemand wollte ihn anrühren.
Also hatte Mia getan, was sie hatte tun müssen. Sie war still geblieben, hatte auf den richtigen Augenblick gewartet, hatte ihn im Auge behalten und kleine Stückchen Informationen gesammelt, um sie seiner Akte hinzuzufügen, aber jetzt …
Jetzt war es an der Zeit zuzuschlagen.
Das Kaugummi in ihrem Mund vermischte sich mit ihrem Adrenalin und schmeckte bitter. Sie spuckte es in sein Papier und warf es in den Getränkehalter. Nachdem Andrews sich weit genug von ihrem Auto entfernt hatte, stieg sie aus und schauderte im Nieselregen.
„Beeil dich“, murmelte sie David zu, während sie ihr Zielobjekt verfolgte.
David wuchtete seinen Bodybuilder-Körper aus dem Beifahrersitz und stellte sich neben sie. Als sie über den Parkplatz schritt, sah sie, wie ihr Zielobjekt sich durch ein Loch in einem Maschendrahtzaun duckte und zwischen zwei verbretterten Backsteingebäuden verschwand. Währenddessen blickte er ständig um sich, als hätte er Angst, dass ihn jemand sehen könnte.
Es sah genauso aus, wie das, was sie sich gleichzeitig erhofft und befürchtet hatte … Als ob er genau die furchtbaren Dinge tun würde, deren sie ihn verdächtig hatte.
Sie fuhr mit der Hand über den Griff ihrer Pistole an ihrem Brustkorb. Es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, sie dort zu spüren. Sie steigerte ihr Tempo, eilte hinter ihm her, während er durch die dunkle, schmale Gasse hastete, die nach Müll stank. Ihre Schuhe waren schon bald von den Schlammpfützen beschmutzt.
Als die Gasse in einem quadratischen Hof endete, blickte sie sich verwirrt um. Nein. Sie konnte ihn nicht verloren haben. Nicht nach all der Anstrengung.
Sie wandte sich entnervt zu ihrem jüngeren Partner um. „Wohin ist er –“
Plötzlich erklang ein Schuss. In der Nähe. Sie konnte hören, wie er in die Holzhütte neben ihr eindrang.
Mia ließ sich zu Boden fallen, um in Deckung zu gehen. Jemand schießt auf mich.
Sie blickte verzweifelt auf und versuchte herauszufinden, woher er gekommen war. Aber es war schon dunkel geworden und ein dünner Nebel hatte sich auf dem leeren Hof ausgebreitet. Alles war in Dunkelheit getaucht.
„Da!“, rief David und rannte hinter ihm her.
Sie tat es ihm gleich und versuchte, ihn zu überholen. Das war nicht besonders schwer, denn er war eher stark als schnell. Sie wäre verärgert, wenn David und nicht sie ihn verhaften würde, nach all der Arbeit, die sie erledigt hatte.
Sie hatte jede Menge Vorsprung vor David, bog um eine Ecke und war plötzlich in einer schmalen Gasse mit freier Schussbahn auf den Mann, während er auf einen Maschendrahtzaun zu rannte. Kein Ausweg.
Sie hatte ihn in der Falle.
Ohne zu zögern, umschloss ihre Faust den Griff ihrer Glock und zog sie aus dem Schulterhalfter.
„FBI! Stehenbleiben!“, schrie Mia und zielte auf den Politiker.
Ohne jegliche Gegenwehr tat er, wie ihm geheißen worden war. Er wandte sich um, hielt beide Hände hoch – leere Hände, ohne jegliche Spur einer Waffe – und lächelte beunruhigend. Der Mistkerl dachte womöglich schon darüber nach, wen er anrufen würde, um ihn aus diesem Schlamassel zu ziehen. Den Polizeichef. Den Gouverneur. Sie waren alle seine besten Kumpels. Oder vielleicht sogar ein Mitglied seiner reichen Familie. Es musste auch ein paar schmierige Rechtsanwälte geben, die mit ihm verbunden waren. Wenn sie Andrews jetzt ohne handfeste Beweise verhaften würde, dann war es sehr gut möglich, dass er später an diesem Abend wieder auf freiem Fuß wäre.
„Was machen Sie hier, Andrews?“, bellte sie und näherte sich im vorsichtig über den Boden voller Fahrradspuren und Büscheln von Unkraut.
„Ich glaube nicht, dass ich das beantworten muss, Agentin“, sagte er ruhig. „Das geht Sie nichts an.“
„Oh, das geht mich sehr wohl etwas an. Sie haben auf uns geschossen. Sind vor uns geflohen. Und Sie tragen …“ Sie trat mit einem Fuß an die Tüten zu seinen Füßen: „Bleichmittel, Klebeband, Plastiktüten … Na klar, Sie machen nur einen Spaziergang.“
Er lachte amüsiert auf. „Erstens habe ich nicht auf Sie geschossen. Das war jemand anders. Leider ist dies nicht gerade das beste Stadtviertel.“ Er seufzte: „Sie können mich abtasten. Keine Waffe. Und zweitens hat Ihr Partner mich in der Dunkelheit verfolgt und sich nicht ausgewiesen. Ich hatte keine Ahnung, wer er war. Können Sie es mir übelnehmen, dass ich von Conan da drüben weggerannt bin? Der ist ein Tier.“
Sie blickte ihn prüfend an. Der Mann war aalglatt, was sie nur noch argwöhnischer machte. Dieser Widerling hatte einen Zwölf-Punkte-Vorsprung bei den Wahltagsbefragungen? Die Wählerschaft musste wohl blind sein, sonst wäre er nie so schnell aufgestiegen. Sie hatte seine Ausreden satt. „Wo sind Sara Waverly und Chloë Braxton?“
Seine Augen weiteten sich vor gespielter Empörung. Sie hatte sich sein Profil lang genug angesehen, um zu wissen, dass er ein hervorragender Schauspieler war. Er hatte sogar zur Theatergruppe in Rice gehört. Man konnte nichts von dem glauben, was er sagte oder tat. „Woher soll ich das denn wissen?“
Sie trat gegen die Tüte und spuckte jedes Wort einzeln aus: „Sagen Sie mir, wo sie sind.“
„Wenn Sie es wissen müssen: Ich habe ein Gebäude in dieser Gegend gekauft. Ich renoviere es.“
„Sie haben ein Gebäude in Cedar Crest gekauft?“, fragte David zweifelnd.
Andrews nickte.
Unfug. Der spann sich etwas zusammen. Dies war nicht gerade das richtige Stadtviertel für ein Sommerhaus oder auch nur für ein Miethaus. Aufgrund der hohen Kriminalitätsrate sanken die Immobilienpreise in der Gegend immer schneller. „Was ist die Adresse?“
„47 Prescott Road.“
„Das überprüfe ich.“
Er zuckte mit den Schultern. „Natürlich. Ich erwarte nicht, dass Sie mir das glauben.“
Sie hatte keine Wahl. Vielleicht würde sie etwas finden, dass ihr dabei helfen würde, Saras Verschwinden aufzuklären. Sie konnte nur darauf hoffen.
Selbst wenn sie weitere Hinweise erlangen würden, die sie zu Sara Waverlys Aufenthaltsort führen würden, würde sie wahrscheinlich vom leitenden Special-Agent Pembroke ordentlich gerügt werden – oder Schlimmeres. Aber sie tat nur ihren Job. Und vielleicht war es nur eine Ahnung oder weibliche Intuition, aber was richtig war, war richtig. Sie war bei der Pressekonferenz von Saras armen Eltern fast in Tränen ausgebrochen. Sie hatten Ringe unter den Augen gehabt und verzweifelt um die sichere Heimkehr des jungen Mädchens gefleht. Sie wusste besser als alle anderen, was die beiden durchmachten.
Dieser schäbige Typ hatte es verdient, hinter Gittern zu sein, und nicht nur wegen der armen Sara.
Sie ergriff ihre Handschellen und ordnete ihm an: „Drehen Sie sich um. Legen Sie Ihre Hände hinter Ihren Rücken.“
Er fügte sich, als hätte er das schon tausendmal durchgemacht, und war weiterhin mühelos gelassen: „Das wird Ihnen noch leidtun, Agentin North.“
Also kannte er ihren Namen. Wenn ihre Ahnung falsch sein sollte, dann würde man sie das vermutlich nie vergessen lassen. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Wilson Andrews sie in einem Jahrzehnt von seinem Schreibtisch im Oval Office aus schlechtredete.
Sie entschied sich, ihn noch nicht in Handschellen zu legen.
„Los.“ Sie stieß ihn an. „Zeigen Sie mir dieses Gebäude.“
Er zuckte unverschämt mit den Schultern und ging zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Gelegentlich schien er langsamer zu machen. Sie blickte herüber zu David, dessen Gesichtsausdruck zu sagen schien: Das ist wirklich eine schlechte Idee.
„Vertrau mir“, flüsterte sie ihm zu, aber in diesem Moment war sie sich nicht einmal sicher, dass sie sich selbst vertrauen konnte.
Als sie auf der Broad Street ankamen, änderte sich die Kulisse nicht: ein Pfandhaus mit vergitterten Fenstern. Mehr verstreuter Müll als Mülleimer. Spritzen in den Rinnsteinen. Ein Haufen hart aussehender Typen mit ernsten Gesichtern, die auf den Stufen ihrer Eingänge herumlungerten, rauchten und Bier tranken. Sobald die beiden Agenten und der Politiker auf der Straße erschienen, waren alle Blicke auf sie gerichtet. „Hier entlang, Agentin“, wies Andrews freundlich hin, als wäre er ein Immobilienmakler, und zeigte ihnen das Gebäude.
Sie bogen um eine weitere Ecke auf eine schmale Seitenstraße namens Prescott. Wenn David Mia nicht begleitet hätte, so hätte sie sich Sorgen gemacht. Schon zuvor hatte sie raue Situationen nur mit ihrer Glock überwunden und war stolz darauf, keinen Mann zu brauchen, aber sie war kaum größer als ein Meter sechzig und schmal gebaut. Dies war nicht gerade der sicherste Schauplatz.
Er hielt vor einem ausgebrannten Backsteingebäude an, vor dem sich sogar Hausbesetzer gescheut hätten. Jedes Fenster war verbrettert. Die mit Moos überwachsene Stufe vor dem Eingang bröckelte ein wenig unter ihren Füßen, als sie auf einen Flecken Schwarzschimmel trat, wo einst ein Fußabtreter gelegen war.
David lachte bitter auf. „Mit dem Bleichmittel hätten Sie hier echt Wunder bewirken können, Mann.“
Mias Puls schnellte hoch und sie war nur noch überzeugter davon, dass sie auf der richtigen Spur war. David hatte recht. Bleichmittel wäre hier wie ein Pflaster auf Krebs. Keine noch so gründliche Renovierung könnte dieses Gebäude retten. Es war eine Gefahr. Es musste abgerissen werden.
Dennoch schien die Tür intakt zu sein. Andrews zog einen Schlüssel hervor, als müsste das, was sich darin befand, beschützt werden, und machte sich an der Tür zu schaffen. Währenddessen sprangen ein paar Typen in Kapuzenpullis über die Straße und näherten sich ihnen. „Hey, was machst du da drüben, Mann?“
Das könnte Ärger bedeuten. David war allerdings in einem solchen Stadtviertel aufgewachsen. Er verschränkte die Arme und warf ihnen einen Blick zu, der besagte: Verzieht euch. Er war schlau genug, hier nicht sein Abzeichen vorzuzeigen.
Es schien zu funktionieren. Die Männer zögerten und schätzten die Situation ab.
„Ah“, sagte Andrews mit einem Schulterzucken. „Sieht ganz so aus, als hätte ich den falschen Schlüssel.“
David schnaubte verächtlich. „Na klar. Ich bin vielleicht nachts geboren worden, aber ich wurde nicht gestern Nacht geboren.“ Er drängte sich vor. „Geben Sie mal.“
Die Männer fuhren zwar mit ihren Rufen fort, aber näherten sich ihnen nicht weiter. Mia blickte über ihre Schulter, während David mit dem Schlüssel herumhantierte. Kein Glück.
Mia seufzte tief und trat zurück. Zuvor war es einfach nur Lärm gewesen, etwas, das sie so einfach ignorierte, wie die Pfiffe, die sie manchmal erhielt. Aber in diesem Moment hörte sie auf das, was die Männer auf der anderen Straßenseite eigentlich sagten. „Hey Mann, bist du nicht am falschen Haus? Das da ist dein Haus.“
Sie blickte über die Straße zu einem Haus, das jenes, vor dem sie standen, richtig gut aussehen ließ. Vielleicht war die Schindelhütte während der Weltwirtschaftskrise ein Grund gewesen, stolz darauf zu sein, aber jetzt war sie dabei, sich wieder der Erde unter ihr einzufügen. Das Dach – und eigentlich auch alle Mauern – schienen sich auf unnatürliche Weise zu neigen, als ob das Haus schon von der Erde geschluckt würde.
Sie blickte auf und Andrews in die Augen. Er stand erstarrt an seinem Platz und sein Adamsapfel hüpfte in seiner Kehle auf und ab. „Wenn Sie mich zu meinem Auto zurückkehren lassen –“
Sie stieß David an, der immer noch den Schlüssel in verschiedene Richtungen drehte und versuchte, die Tür zu öffnen. Als er sie ansah, zeigte sie auf die andere Straßenseite. Das ist das Haus.
„Hä?“
Sie schnappte den Schlüssel aus seiner Hand und marschierte über die Straße. „Entschuldigen Sie, meine Herren“, sagte sie zu den Männern, die zur Seite gingen, um sie durchzulassen.
Kein Wunder, der Schlüssel passte.
Andrews schluckte, als sie die Tür aufstieß. „All diese alten Häuser sehen gleich aus“, sagte er, wobei die Arroganz in seiner Stimme verschwunden war und er nur noch mit den Schultern zuckte.
Mia trat in den dunklen Raum und war sich fast sicher, dass ihr erster Schritt eine Falltür wäre. David und Andrews folgten. Letzterer hielt seinen Kopf gebeugt und murmelte zu sich selbst.
Ich habe ihn, dachte sie und ignorierte die Männer erneut, die sie jetzt anschrien, dass dies ihr Revier war und Fremde nicht willkommen waren.
Als die drei eingetreten waren, wies Mia David an, die Tür zu schließen und zu verriegeln. Ihm gelang dies gerade rechtzeitig, denn sobald der Schlüssel sich im Schloss umgedreht hatte, begannen die Rowdys gegen die Tür zu schlagen.
Aber sie hatte andere Dinge im Kopf, als mitten in einen Revierkampf zu geraten.
Sie schaltete die Taschenlampe ihres Handys an und schwenkte mit dem Lichtkegel durch den Raum. Während sie dies tat, bemerkte sie, dass etwas sich regte. Ein paar Ratten huschten über die Sockelleiste eines Raumes mit einem vermoderten Sofa, einem abgewetzten Perserteppich und einem ramponierten mechanischen Klavier. Auf der anderen Seite des Flurs befand sich eine Küche mit einer abgeblätterten, verkohlten Tapete, die anscheinend ein paar Kochunfälle zu viel erlebt hatte. Eine Treppe mit einem recht hübschen Geländer führte zum zweiten Stockwerk, aber einige der Holzdielen fehlten.
Die Männer draußen schlugen jetzt hart gegen die Tür, versuchten hereinzukommen und fluchten wild. Sie suchten nur nach etwas, um sich die Zeit zu vertreiben. Schließlich würden sie es aufgeben und weggehen. Hoffte sie. In diesem Augenblick brauchten sie keinen weiteren Ärger.
Sie drang weiter in das Haus ein und leuchtete in der Hoffnung auf einen Hinweis mit der Taschenlampe überall aus, wo sie konnte. Sie erreichte eine Tür und öffnete sie, aber fand dort nichts außer einem Schrank. Im hinteren Winkel befand sich eine alte Kegelkugel, aber sonst nichts.
Vorsichtig stieg sie die Treppen hinauf, die unter ihr knarzten. Sie fand Schlafzimmer mit verrotteten Matratzen und rostige Bettgestelle, ein Bad mit einer riesigen Wanne auf Füßen. Jede Menge Insekten und Spinnweben.
Aber nichts, was darauf hinwies, dass Sara oder Chloë jemals hier gewesen waren.
Als sie sich umwandte, erhaschte sie einen Blick auf Andrews selbstgefälliges Grinsen. „Zufriedengestellt?“
Sie schüttelte den Kopf und schritt hin und her. Draußen schlugen die Männer weiter gegen die Tür und machten es ihr fast unmöglich, sich zu konzentrieren.
Sie war nicht zufriedengestellt. Es musste mehr als dies geben. Es musste einfach so sein.
„Gibt es einen Keller?“
Andrews schüttelte den Kopf. „Nein, und Sie verschwenden Ihre Zeit. Sie sind fertig, Agentin. Sie werden von meinem Rechtsanwalt hören und Ihr Abzeichen wird Ihnen so schnell entzogen werden –“
„Zwischendecke? Dachboden? Keller?“ Sie inspizierte die Decke, in deren Gipskarton Löcher waren, welche die Sicht auf die Dachsparren darüber freigaben. Nichts, was darauf hindeutete, dass sich hier jemals eine Tür befunden hatte.
„Nein. Nicht, dass ich wüsste. Wie schon gesagt, mir gehört das Haus erst seit –“
„In Ordnung.“ Sie vermerkte in ihren Gedanken, dass sie sich die Eigentumsurkunden ansehen würde. Nicht noch eine Sackgasse.
Das Klopfen fuhr fort.
Ihre Hände zitterten vor Verzweiflung und sie schnappte: „David. Kannst du die Typen loswerden? Ich kann mich nicht einmal selbst denken hören.“
„Schon dabei“, sagte er und ging die Treppe hinunter.
Sie folgte gereizt einen Augenblick später. Dabei fand sie David am Ende der Treppe, wie er mit aufgerissenen Augen zum Boden starrte. Das Klopfen fuhr fort.
„David!“, murmelte sie. „Was ist das Problem? Ich habe dir gesagt, du sollst diese Typen loswerden.“
Er schüttelte den Kopf. „Sie sind weg.“
Sie hielt inne und lauschte. Nein, das Geräusch kam wirklich nicht von der anderen Seite der Tür. Es kam von unten, unter dem Fußboden. Und es war nicht der Klang von Knöcheln auf Holz. Es war ein metallisches Scheppern.
Sie wandte sich zu Andrews um. „Es gibt also keinen Keller?“, verlangte sie zu wissen.
Zum ersten Mal wirkte er jetzt eher nervös. Er zuckte mit den Schultern. „Nun, ich weiß nicht –“
Aber sie hatten schon angefangen, nach der Tür zu suchen. Kurz darauf fand sie Mia unter dem Teppich im Wohnzimmer. Nachdem sie den Riegel aufgezogen hatte, leuchtete sie mit ihrer Lampe auf eine Leiter, die in einen Keller hinunterführte. Auf dem Erdboden darunter befanden sich Fußabdrücke, die aussahen, als gehörten sie zu einem Paar Herrenschuhe.
Sie war sich ziemlich sicher, wem die gehörten.
„Heiliger –“, begann David, als das Klopfen lauter wurde.
„Hey“, sagte Andrews und seine Stimme klang jetzt eine Oktave höher. Als sie mit der Lampe in sein Gesicht leuchtete, bemerkte sie, dass ihm ein paar Schweißtropfen auf der Stirn standen. „Ich wusste nicht einmal, dass das –“
„Halt ihn fest“, wies Mia David an und stieg schnell die Leiter hinunter. „Stelle sicher, dass er nicht abhaut.“
Unten war es kühler und roch nach Schimmel. Die Betonziegelwände des Kellers waren feucht. Sie schien mit ihrer Lampe in alle Richtungen, bevor sie bei etwas anhielt, was ihr wie ein Haufen Decken erschien.
Aber dann wurde sie sich bewusst, dass es blasse Gliedmaßen und zerzaustes, blondes Haar war. Das Mädchen kauerte in einer Ecke, war in eine Wolldecke eingewickelt und mit Handschellen an die Rohrleitungen gefesselt.
Auch wenn das verwahrloste Mädchen vor ihr nur ein Schatten des lächelnden Jahrbuch-Fotos war, das sie an ihrem Arbeitsplatz an die Wand geklebt hatte, erkannte sie es dennoch sofort. „Chloë?“
Mia näherte sich ihr mit rasendem Herzen und hatte Angst davor, was sie möglicherweise vorfinden würde. War sie … am Leben?
Die Regung war nicht nur eine Sinnestäuschung gewesen. Sie hielt einen Metallbecher in der Hand und schlug damit immer noch rhythmisch gegen das Rohr; ihr Gesicht war schmutzig, ihr Blick verwirrt und ihre Unterlippe zitterte.
Hinter ihr klang Andrews Stimme plötzlich ganz anders als jene, die er verwendete, wenn er sich an seine Wählerschaft wandte. „Ich habe nicht … Ich wusste nicht … Wie ist sie …?“
„Sei still“, bellte David und keuchte dann: „Lieber Himmel.“
„Ist in Ordnung. Du bist jetzt in Sicherheit“, beruhigte sie Mia und streckte ihre Hand aus, um das Haar des Mädchens zurück zu streichen. Sie wirbelte herum und schien ihre Taschenlampe in alle Ecken. Nichts regte sich. Nichts. Sie schien die Lampe in Andrews’ Gesicht. „Wo ist das andere Mädchen? Wo ist Sara?“
Er schüttelte weiterhin ratlos seinen Kopf und blinzelte in das helle Licht, während er seine Unschuld beschwor.
Aber einen Augenblick bevor sie das Licht von seinem Gesicht abwandte, hätte sie schwören können, dass sie sah, wie der Mann lächelte.
Eine Woche später
„Also, erzähl mir alles über diesen Fall“, sagte Mias ältere Schwester Francine und lehnte sich nach vorn, während sie ihre Margaritas am folgenden Wochenende unter dem Sonnenschirm tranken. Es war das perfekte Wetter für ein Barbecue und Mias Zuhause im Vorort von University Park schien einfach der beste Ort für ihre Familientreffen, weil es für alle günstig gelegen war. „Haben sie Andrews wirklich gehen lassen, selbst nach allem, was gefunden wurde?“
Mia nickte und fühlte immer noch Bitterkeit über die ganze Sache. Aber sie war lang genug beim FBI, um zu wissen, dass die Dinge manchmal so ausgingen. „Er ist auf Kaution. Aber Pembroke meint, er kommt ungestraft davon.“
Ihre Mutter stöhnte und nippte an ihrer Margarita. „Ach Mädchen, müssen wir die ganze Zeit über Arbeit reden?“
Francine arbeitete an der Rezeption der DFW-Polizei und obwohl sie schon jede Menge Kriminalgeschichten gehört hatte, war diese wirklich außergewöhnlich. Sie ignorierte ihre Mutter und flüsterte: „Wie kann das überhaupt möglich sein? Details!“
„Die finden ein Hintertürchen. Du weißt doch, was er für Verbindungen hat“, entgegnete sie ihrer Schwester mit einem Seufzen. „Sie haben entschieden, dass es keine Beweise gab, um ihn festzuhalten. Aber das liegt hauptsächlich daran, dass er alle in seiner Tasche hat, vom Polizeichef bis zu allen Richtern im Kreis.“
„Aber du hast ihn im Grunde genommen auf frischer Tat ertappt.“
Mia nickte. „Aber das Haus gehörte wirklich ihm, sowie fünf weitere auf dem Block. Er renoviert und vermietet sie. Seine Geschichte stimmte und Chloë konnte ihn nicht eindeutig identifizieren.“
„Und keine Sara Waverly?“
„Nein.“ Mia starrte tief in ihre Margarita. „Der hat sich sofort mit Anwälten eingedeckt und in Schweigen gehüllt. Aber es könnte letztlich von Vorteil sein, wenn man bedenkt, dass Sara weiterhin verschwunden ist. Die Chance besteht, dass er einen Fehler begeht und uns zu ihr führt, wenn sie noch am Leben ist.“
„Meinst du wirklich, dass sie noch lebt?“
„Ich weiß es nicht.“ Sie musste zugeben, dass es zweifelhaft war. Sie hatten Blut am letzten Ort gefunden, wo sie gesehen worden war, und wenn sie nicht bei Chloë war? Mia hatte die wahrscheinlichste Geschichte in ihren Gedanken zusammengefügt: In der Hoffnung, seine Besessenheit mit dem jungen Mädchen zu bezwingen, hatte Andrews Sara entführt und umgebracht. Nachdem er die Leiche losgeworden war, hatte er bemerkt, dass sein Hunger nur weiter gewachsen war. Deshalb Chloë.
Aber ohne eine Leiche gab es natürlich immer noch Hoffnung.
Und Chloë war gefunden worden. Das war etwas Positives.
„Hat das Mädchen etwas darüber gesagt, was geschehen ist?“
„Chloë hat im Grunde genommen nichts gesagt. Sie hat so viel Trauma erlebt.“ Mia blickte über ihren Hinterhof, wo ihre achtjährige Tochter Kelsey auf dem kleinen Basketballplatz stand und ihrem Großvater zeigte, wie gut sie geworden war, indem sie einen perfekten Korbleger nach dem anderen warf. Sie wollte wirklich nicht, dass ihre wissbegierige Achtjährige Fragen über den Sara und Chloë Fall stellte.
Die meisten Eltern mussten ihre Kinder nur von den Nachrichten abschirmen … Aber Mia musste ihre Tochter vom Leben abschirmen. Sie war nicht nur wegen dieses letzten Entführungsfalles so beschützend, was ihre Tochter anbelangte, sondern war es schon zuvor gewesen. Einmal hatte sie bemerkt, dass jemand Kelsey an der Bushaltestelle beobachtete. Er war weggefahren, bevor sie sich ihm nähern konnte, aber sie hatte sich immer gewundert …
Ein flüchtiger Gedanke an Ellis Horvath ging ihr durch den Kopf, aber sie verdrängte ihn.
Mia hatte Feinde. Und sie wollte sie wirklich nicht nach Hause zu ihrer Familie bringen.
„Wer hat das nicht?“, murmelte Francine und leerte ihr Cocktailglas.
Mia sah herüber zu ihrer Mutter und warf ihrer Schwester dann einen warnenden Blick zu. „Sie hat gesagt, dass ihr Entführer eine Maske trug, sodass sie ihn nicht identifizieren konnte. Vielleicht wird sie sich in der Zukunft an etwas erinnern, was die Dinge ändern wird. Also weiß ich nicht, ob es schon viel zu sagen gibt.“
Das war eine Lüge. Es gab sehr viel zu sagen. Die Mädchen wurden seit sechs Monaten vermisst. Die Polizei hatte den Fall praktisch vor einem Monat aufgegeben, zu welchem Zeitpunkt Mia sich eingemischt hatte. Aber in der Zeit war die arme, sechzehnjährige Chloë missbraucht und zu einem Schatten von sich selbst geschlagen worden. Die furchtbaren Erlebnisse, die sie durchgemacht hatten, würden sie vermutlich ihr Leben lang verfolgen – und wer konnte ihr das schon übelnehmen? Sie würde nie wieder das ganz amerikanische Mädchen auf der Bestenliste sein, bei der alles glattlief. Und wer wusste, ob sie jemals wieder ihre beste Freundin sehen würde?
Mia war bei Andrews’ Vernehmung, die vor ein paar Tagen stattgefunden hatte, nicht anwesend gewesen. Doch er hatte dabei jegliche Aussage verweigert, abgesehen davon, dass er seinen Anwalt zurate ziehen wollte, der ihn kurz darauf wie magisch freibekommen hatte.
Aber Mia konnte die leeren Stellen ausfüllen. Andrew hatte einen Annäherungsversuch bei Sara Waverly gemacht, während er sie zur Schule gefahren hatte und sie hatte ihn abgelehnt. Er hatte das Einzige im Leben gefunden, das er nicht besitzen konnte. In einem Moment des Wahns hatte er sich dazu entschieden, sie als sein Eigen zu behalten.
Und dann – typisch für machthungrige Männer wie ihn – hatte er entschieden, dass eine nicht ausreichte. Also hatte er die arme Chloë auch entführt.
Wo war also Sara Waverly?
Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um das zu diskutieren. Sosehr Mias Familie sich auch tagtäglich mit Straftaten auseinandersetzte, Kindesentführungen waren eine Sache, die sie nicht besprachen.
Alles wegen Sam Junior.
Es war vor über zwanzig Jahren geschehen, aber die Wunden waren nie wirklich geheilt. Mia musste sich nur die drei Fotografien auf dem Kaminsims im Haus ihrer Eltern ansehen, wo sie aufgewachsen war – zwei von ihnen, Francine und sie selbst, in ihrer College-Abschlusskleidung. Eine von Sam, direkt in der Mitte, mit seinem schrägen Haarschnitt und dem fehlenden Vorderzahn; für immer im Kindergarten.
So stark ihre Eltern auch waren, dagegen konnten sie nichts tun. Und Trauer nahm sich niemals einen Urlaub. Manchmal überraschte sie eine Person in einem absolut unerwarteten Moment.
Mia räusperte sich und blickte herüber zu ihrer Mutter, die sich gedankenverloren an ihrer Margarita festhielt.
„In Ordnung“, sagte Francine, verstand schließlich die Andeutung und umarmte ihre Mutter kurz. Dann band sie ihr hellblondes Haar zu einem zerzausten Pferdeschwanz zusammen. „Du hast also das Wochenende frei?“
Sie nickte. „Unglaublich, was? Wir haben nur selten die Gelegenheit, uns alle zu treffen.“
Ihre Mutter seufzte. „Die arme Kelsey hat mir erzählt, dass sie sich nicht daran erinnern kann, wann du sie das letzte Mal von der Schule abgeholt hast.“
Mia seufzte. Es stimmte. Sie war so mit dem Waverly-Fall beschäftigt gewesen – besessen war wahrscheinlich das passendere Wort. Und es fühlte sich an, als ob Kelsey vor einer Woche noch Windeln getragen hätte. Jetzt wuchs sie so schnell; sie war ganz schlaksig, hatte lange Beine. Bald würde sie schon größer als Mia sein. „Nun, das werde ich wieder tun. Ich hatte in letzter Zeit einfach nur so viel zu tun …“
Ihr Mann Aidan kam in seiner Grillmaster-Schürze mit einer ersten Auswahl an Hamburgern und Hot Dogs herüber – natürlich waren sie perfekt gegrillt. Es war gut, dass er von zu Hause aus in der Informatikbranche arbeitete, weil er immer da war, wenn ihr wahnwitziger Zeitplan sie davon abhielt. Um gar nicht zu erwähnen, dass er ein großartiger Koch war. Sie hatte keine Ahnung, was sie ohne ihn tun würde.
Er lehnte sich über sie und küsste sie auf den Kopf, als ob er gespürt hätte, wie sehr der Kommentar sie verletzt hatte. Sie lächelte dankbar zu ihm herauf. Sie hatten darüber gesprochen, mehr Kinder zu haben, aber Kelsey allein war schon ganz schön viel Arbeit.
Mia wählte den perfekten Hot Dog – Kelsey würde meckern, wenn er zu stark gegrillt wäre – und legte ihn auf einen Pappteller, bevor sie reichlich Ketchup darauf träufelte. „Zeit zu essen!“, rief sie ihr zu und legte eine saure Gurke daneben.
Als sie den Teller an Kelseys Platz stellte und sich daran machte, ihren eigenen Hamburger zu holen, fing ihr Telefon an zu klingeln.
Aidan verdrehte die Augen. „Das war es dann wohl mit dem Wochenende!“
Es war nicht ungewöhnlich, dass Mia zu jeder Tageszeit angerufen wurde. Und sie mochte es nie, ihr Telefon stumm zu stellen, denn es könnte schließlich etwas Wichtiges sein. Aber als sie auf ihr Handy blickte und erwartete, PEMBROKE auf dem Bildschirm zu sehen, legte sie die Stirn in Falten. Es stand unbekannte Nummer darauf.
Seltsam. Die Vorwahl war 214. Dallas.
