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Zwei Freunde, zwei Frauen, ein Verrat – und eine Geschichte, die sich über zwei Jahrzehnte erstreckt. "Die Herren von Verona" ist eine fesselnde Neuinterpretation von Shakespeares "Die beiden Veroneser". Valentine und Proteus wachsen gemeinsam auf, doch Proteus' Verrat zerstört ihre Freundschaft und verändert ihr Leben für immer. Über Jahre hinweg kämpfen sie mit Liebe, Schuld und Vergebung, während sie ihren eigenen Weg suchen – von den Höfen Veronas und Mailands bis zu einem abgelegenen Dorf, das zur Hoffnung wird. Ein Roman über Freundschaft, Verrat, Liebe und die Kraft der Erlösung.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Anno Stock
Zwei Herren aus Verona - Kein Drama nach William Shakespeare
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Table of Contents
Zwei Herren aus Verona
Kapitel 1: Zwei Freunde in Verona
Kapitel 2: Der Abschied
Kapitel 3: Julias Herz
Kapitel 4: Mailländer Glanz
Kapitel 5: Der Jäger und die Gejagten
Kapitel 6: Väterliche Pläne
Kapitel 7: Die Reise und der erste Zweifel
Kapitel 8: Wiedersehen in Mailand
Kapitel 9: Das vergiftete Herz
Kapitel 10: Der falsche Freund
Kapitel 11: Der Verräter
Kapitel 12: Die Konsequenzen
Kapitel 13: Julias Unruhe
Kapitel 14: Sebastian am Hof
Kapitel 15: Im Dienst des Verräters
Kapitel 16: Im Wald der Geächteten
Kapitel 17: Silvias Flucht und die Folgen
Kapitel 18: Julias Rückkehr
Kapitel 19: Abschied von Mailand
Kapitel 20: Valentines Plan
Kapitel 21: Die Nachricht vom Frieden
Kapitel 22: Proteus' Läuterung
Kapitel 23: Neue Anfänge
Kapitel 24: Geburten und Hochzeiten
Kapitel 25: Verbindungen über Distanz
Kapitel 26: Prüfungen und Bewährungen
Kapitel 27: Leben und Verlust
Kapitel 28: Neue Hoffnungen
Kapitel 29: Reife und Veränderungen
Kapitel 30: Versöhnung
Nachwort
Impressum neobooks
Ein Roman nach William Shakespeare
Anno Stock
Verona, im Frühling. Die Stadt war erfüllt von Lachen, Musik und dem Duft von Orangenblüten, der durch die engen Gassen zog. Es war die Zeit, in der Hoffnung leicht fiel und das Leben seine Schwere verlor – zumindest für jene, die jung waren und noch glauben konnten, dass alles möglich war.
Valentine und Proteus, beide Söhne angesehener Familien, schlenderten an diesem Nachmittag gemeinsam durch die Arkaden der Piazza delle Erbe. Sie waren fast wie Brüder aufgewachsen, hatten zusammen gelernt, gekämpft, gestritten und geträumt.
„Du bist still heute“, bemerkte Valentine und warf einen Seitenblick auf seinen Freund. „Was wiegt schwer auf deinem Gemüt? Die Liebe? Oder der Gedanke an Mailand?“
Proteus lächelte schwach. „Du kennst mich zu gut. Beides, fürchte ich. Mein Vater drängt auf deinen Spuren – er will, dass ich Mailand besuche, wie du es bald tun wirst. Aber mein Herz… mein Herz bleibt hier.“
„Bei Julia“, sagte Valentine und stieß ihn freundschaftlich an. „Du hast dich verändert, seit du ihr das erste Mal begegnet bist. Früher hättest du nie gezögert, ein Abenteuer zu suchen.“
Proteus blieb stehen, ließ den Blick über den Platz schweifen. „Julia ist kein Abenteuer, Valentine. Sie ist… sie ist Ruhe. Verstehst du das?“
Valentine lachte. „Ich verstehe, dass du verzaubert bist. Aber Verona ist nicht die ganze Welt. Es gibt Orte, die du sehen musst, Dinge, die du lernen kannst. Mailand ist eine Gelegenheit – für uns beide.“
Sie gingen weiter, vorbei an Händlern, die lautstark ihre Waren anpriesen, und Straßenmusikanten, deren Melodien zwischen den Mauern tanzten. Über ihnen leuchtete der Himmel in sattem Blau, als wollte er beide Jungen versichern, dass alles gut werden würde.
„Vielleicht hast du recht“, sagte Proteus nach einer Weile. „Vielleicht sollte ich Mut fassen und gehen. Aber wie kann ich Julia verlassen? Ich fürchte, sie vergisst mich, sobald ich aus ihrem Blick verschwinde.“
„Wenn ihre Gefühle echt sind, vergisst sie dich nicht“, entgegnete Valentine leise. „Und wenn nicht, dann ist es besser, es zu wissen.“
Sie blieben am Rand eines Brunnens stehen. Valentine zog einen Silberling hervor, warf ihn ins Wasser.
„Was hast du dir gewünscht?“, fragte Proteus.
„Dass wir beide unseren Weg finden. Und dass unsere Freundschaft allem standhält.“
Proteus nickte. „Darauf, mein Freund.“
Sie wussten beide nicht, wie sehr diese Worte auf die Probe gestellt werden würden – wie das Schicksal sie trennen, herausfordern und verändern würde. Doch an diesem Tag, in diesem Frühling, war noch alles möglich.
Die Zukunft lag offen vor ihnen, ein Versprechen und eine Warnung zugleich.
Die drei Tage bis zur Abreise vergingen schneller, als Valentine es sich gewünscht hätte. Das Haus der Montecchios war erfüllt von jener geschäftigen Unruhe, die große Reisen stets begleitete. Diener eilten die Treppen hinauf und hinab, trugen Truhen und Kisten, Kleidungsstücke und Bücher. Valentines Mutter, eine würdevolle Frau mit früh ergrauten Haaren, überwachte die Vorbereitungen mit jener Mischung aus Stolz und Sorge, die nur Mütter aufbringen können, wenn ihre Söhne das elterliche Haus verlassen.
„Du wirst jeden Tag beten", sagte sie am Abend vor seiner Abreise, als sie gemeinsam im großen Salon saßen. Die Kerzen warfen tanzende Schatten an die mit Fresken geschmückten Wände. „Und du wirst dich vor schlechter Gesellschaft hüten. Mailand ist nicht Verona. Der Hof birgt Gefahren, die du dir noch nicht vorstellen kannst."
„Mutter, ich bin kein Kind mehr", erwiderte Valentine sanft, doch er nahm ihre Hand und drückte sie. „Vater hat mir die besten Lehrer gegeben, und Ihr habt mich gelehrt, was Anstand und Ehre bedeuten. Ich werde Euch keine Schande machen."
Sein Vater, Antonio di Montecchio, ein Mann von kräftiger Statur mit einem von Sorgenfalten durchzogenen Gesicht, nickte bedächtig. „Der Herzog von Mailand ist ein mächtiger Mann, aber auch ein launischer. Du wirst lernen müssen, wann man spricht und wann man schweigt. Am Hof zählt nicht nur, was man weiß, sondern auch, was man für sich behält."
„Ich werde auf Eure Worte achten, Vater."
„Und du wirst Proteus nicht vergessen", fügte seine Mutter hinzu. „Eine solche Freundschaft ist selten. Pflege sie, auch aus der Ferne."
Valentine lächelte. „Proteus wird mich eher vergessen, so sehr ist er mit seinen Liebesschwüren beschäftigt. Aber ja, ich werde ihm schreiben."
Die Nacht verbrachte Valentine rastlos. Er lag in seinem Bett, lauschte den vertrauten Geräuschen des Hauses – dem Knarren der alten Balken, dem fernen Bellen eines Hundes, dem Rauschen des Windes in den Zypressen des Innenhofs. Wie oft hatte er hier gelegen und von fernen Ländern geträumt, von Abenteuern und Ruhm? Nun, da der Traum Wirklichkeit werden sollte, spürte er zum ersten Mal so etwas wie Wehmut.
Der Morgen kam mit jenem klaren, kühlen Licht, das nur der frühe Frühling bringt. Valentine stand zeitig auf, kleidete sich sorgfältig in sein bestes Reisegewand – einen Umhang aus dunkelgrüner Wolle über einem Wams aus kastanienbraunem Samt. Sein Diener Speed, ein quirliger junger Mann von etwa achtzehn Jahren mit einem Gesicht voller Sommersprossen und einer Zunge, die nie stillstand, half ihm beim Anlegen des Gürtels.
„Mailand also", sagte Speed und verzog das Gesicht. „Ich habe gehört, dort regnet es jeden zweiten Tag, und die Menschen sind so kalt wie ihre Winter."
„Du hast noch nie auch nur einen Schritt aus Verona herausgesetzt", entgegnete Valentine amüsiert. „Woher willst du das wissen?"
„Von meinem Cousin Balthasar, der einen Freund hat, dessen Bruder einmal einen Händler aus Mailand getroffen hat." Speed nickte weise, als hätte er damit die unwiderlegbarste Quelle der Welt zitiert.
„Dann muss es ja stimmen", sagte Valentine trocken. „Pack die letzten Dinge. Wir brechen nach dem Frühstück auf."
Die Familie versammelte sich im Speisesaal, doch niemand aß viel. Valentines jüngere Schwester Beatrice, ein lebhaftes Mädchen von fünfzehn Jahren, versuchte die gedrückte Stimmung mit munterer Konversation zu vertreiben, doch selbst ihre Fröhlichkeit wirkte gezwungen.
„Wenn du am Mailänder Hof eine schöne Prinzessin triffst", sagte sie, „dann musst du sie hierher bringen, damit ich sehen kann, ob sie meiner Schwägerin würdig ist."
„Ich fahre nicht nach Mailand, um eine Frau zu suchen", erwiderte Valentine. „Ich suche Bildung und Erfahrung."
„Das sagen alle jungen Männer", bemerkte seine Mutter leise. „Und dann trifft sie der Pfeil Amors, wenn sie es am wenigsten erwarten."
Valentine dachte an Proteus und lächelte. „Wenn ich jemals so werden sollte wie mein Freund Proteus, schwankend zwischen Himmel und Hölle wegen eines Blickes oder eines Lächelns, dann habt Ihr meine Erlaubnis, mich nach Hause zu holen und meine Sinne wiederherzustellen."
Nach dem Frühstück wartete vor dem Palazzo eine kleine Kutsche, beladen mit Valentines Gepäck. Die Handelsdelegation, mit der er reisen sollte, würde am Stadttor auf ihn warten. Doch zuvor hatte Valentine noch einen Abschied zu machen.
Proteus erschien kurz nach der siebten Stunde, nicht allein, sondern in Begleitung seines Dieners Launce, eines vierschrötigen Mannes mittleren Alters mit einem Gesicht wie aus Eichenholz geschnitzt und einem Hund namens Crab, der die Angewohnheit hatte, stets die traurigste Miene aufzusetzen, die ein Tier überhaupt aufsetzen konnte.
„Ich konnte Launce nicht abschütteln", entschuldigte sich Proteus. „Er bestand darauf, dich zu verabschieden."
„Jemand muss ja Vernunft in diese Freundschaft bringen", brummte Launce. „Ihr beide, mit euren großen Worten und edlen Gedanken – aber keiner von euch hätte auch nur die geringste Ahnung, wie man ein anständiges Feuer macht oder ein Huhn rupft."
„Ich fahre an einen herzoglichen Hof, Launce", sagte Valentine belustigt. „Ich glaube kaum, dass man von mir erwarten wird, Hühner zu rupfen."
„Dann wird es Euch schlecht ergehen, wenn die Zeiten hart werden", prophezeite Launce düster. „Aber nun gut, fahrt nur. Fahrt nach Mailand und lernt, wie man mit feinen Leuten spricht, die nichts Nützliches tun können."
Crab, der Hund, stieß ein klagendes Winseln aus, als hätte er Launces Worte verstanden und zustimmen wollen.
Valentine und Proteus spazierten ein letztes Mal durch die vertrauten Straßen Veronas, gefolgt von Launce, Crab und Speed, der nicht aufhörte, seinem neuen Kameraden Launce seine Lebensweisheiten mitzuteilen. Die beiden Diener bildeten ein seltsames Paar – der junge, überschwängliche Speed und der mürrische, pragmatische Launce.
„Ich habe gestern mit Julia gesprochen", sagte Proteus unvermittelt, als sie die Ponte Pietra erreichten, die gleiche Stelle, an der sie drei Tage zuvor gestanden hatten.
Valentine blieb abrupt stehen. „Du hast mit ihr gesprochen? Wirklich gesprochen? Nicht nur sie angestarrt und dann weggelaufen?"
Proteus' Wangen färbten sich leicht. „Ich bin ihr nicht weggelaufen. Nun, nicht beim letzten Mal. Es war... es war wunderbar, Valentine. Ihre Stimme ist wie Musik, und ihre Worte..." – er suchte nach den richtigen Worten – „...ihre Worte sind voller Anmut und Geist."
„Was hat sie gesagt?"
„Sie hat mich gefragt, ob ich die Messe genossen hätte. Und ich habe geantwortet, dass keine Messe so erhebend sein könne wie der Anblick ihrer Schönheit."
Valentine verzog das Gesicht. „Das hast du nicht wirklich gesagt."
„Doch. Und sie hat gelächelt. Sie hat gelächelt, Valentine!"
„Oder sie hat sich über deine übertriebene Metapher amüsiert", bemerkte Valentine, doch sein Ton war nicht unkind. „Aber im Ernst, mein Freund – wenn sie deine Aufmerksamkeit nicht abweist, dann ist das ein gutes Zeichen. Vielleicht ist Julia tatsächlich die Frau, die dein Herz verdient."
Sie lehnten sich gegen das Brückengeländer und blickten auf die Etsch. Der Fluss strömte ruhiger als vor drei Tagen, das Wasser glitzerte im Sonnenlicht.
„Ich wünschte, du würdest hierbleiben", sagte Proteus leise. „Mailand ist weit, und wer weiß, wann wir uns wiedersehen werden."
„Mailand ist drei Tagesreisen entfernt, nicht am Ende der Welt", entgegnete Valentine. „Und ich werde zurückkommen. Vielleicht nicht bald, aber ich werde zurückkommen."
„Als ein anderer Mann."
Valentine dachte darüber nach. „Vielleicht. Ist das nicht der Sinn des Reisens? Dass man sich verändert, wächst, mehr wird, als man war?"
„Oder weniger", sagte Proteus nachdenklich. „Man kann auch verlieren, was man hatte. Die Unschuld. Die Einfachheit. Die Fähigkeit, sich an den kleinen Dingen zu freuen."
„Du bist heute Morgen ungewöhnlich philosophisch."
„Der Abschied von einem Freund macht nachdenklich." Proteus wandte sich Valentine zu, und sein Gesicht war ernst. „Versprich mir etwas."
„Was immer du willst."
„Versprich mir, dass du dich nicht so sehr veränderst, dass ich dich nicht mehr erkenne, wenn du zurückkehrst. Versprich mir, dass du noch derselbe Valentine sein wirst – vielleicht erfahrener, vielleicht weiser, aber im Kern derselbe."
Valentine legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Ich verspreche es. Und du – versprich mir, dass du nicht völlig in deiner Liebe zu Julia aufgehst. Bewahre dir etwas von dem Proteus, der auch andere Dinge schätzt als nur die Augen einer schönen Frau."
„Das kann ich nicht versprechen", sagte Proteus mit einem schiefen Lächeln. „Aber ich werde es versuchen."
Sie standen noch eine Weile schweigend nebeneinander, zwei junge Männer an der Schwelle zum Leben, jeder mit seinen eigenen Träumen und Ängsten. Hinter ihnen unterhielten sich Launce und Speed über die relativen Vorzüge verschiedener Wurstarten, und Crab leckte sich gelangweilt die Pfoten.
„Weißt du", sagte Valentine schließlich, „ich habe immer gedacht, dass du und ich gemeinsam die Welt sehen würden. Als Kinder sprachen wir davon – erinnerst du dich? Wir würden nach Rom reisen, nach Venedig, vielleicht sogar ins Heilige Land."
„Ich erinnere mich. Wir waren zehn Jahre alt und dachten, wir könnten alles erobern."
„Und nun gehe ich allein, und du bleibst hier."
„Ich bleibe nicht wirklich hier", widersprach Proteus sanft. „Ich reise auch – nur in eine andere Richtung. Du reist nach außen, in die Welt. Ich reise nach innen, ins Herz."
Valentine lachte leise. „Siehst du, deshalb brauche ich dich. Du findest immer die Worte, die die Dinge schöner machen, als sie sind."
„Und du bringst mich dazu, die Realität zu sehen, wenn ich zu sehr in meinen Träumen verloren gehe. Deshalb sind wir Freunde."
Sie machten sich auf den Weg zum Stadttor. Die Sonne stand nun höher, und die Straßen waren voller Menschen – Bauern, die ihre Waren zum Markt brachten, Handwerker auf dem Weg zu ihrer Arbeit, betende Mönche. Verona lebte sein tägliches Leben, gleichgültig gegenüber dem kleinen Drama des Abschieds, das sich in seiner Mitte abspielte.
Am Porta Nuova wartete die Handelsdelegation bereits. Fünf schwer beladene Wagen, gezogen von kräftigen Pferden, und etwa ein Dutzend bewaffneter Männer als Eskorte. Der Anführer, ein älterer Kaufmann namens Eglamour mit einem von der Sonne gegerbten Gesicht und scharfen Augen, nickte Valentine zu.
„Seid Ihr bereit, junger Herr? Wir brechen auf, sobald Ihr Eure Abschiedsworte gesprochen habt."
Valentine wandte sich ein letztes Mal an Proteus. Was sollte er sagen? Was konnte man sagen, wenn man nicht wusste, wann man einander wiedersehen würde?
„Schreib mir von Julia", sagte er schließlich. „Schreib mir, wenn sie dein Herz erhört. Und wenn sie es nicht tut – schreib mir auch das. Ich möchte teilhaben an deinem Leben, auch aus der Ferne."
„Und du schreib mir von Mailand", erwiderte Proteus. „Von den Wundern am Hof, von den Menschen, die du triffst. Und wenn du..." – er zögerte – „...wenn du doch noch den Pfeil Amors spürst, dann verheimliche es mir nicht. Ich möchte der Erste sein, der davon erfährt."
„Das werde ich." Valentine umarmte seinen Freund, eine kurze, feste Umarmung, wie Männer sie austauschen, wenn ihnen die Worte ausgehen. Dann trat er zurück, nickte Launce zu, der überraschend feuchte Augen hatte, und wandte sich zur Kutsche.
Speed war bereits eingestiegen und hatte es sich zwischen den Gepäckstücken bequem gemacht. „Auf nach Mailand!" rief er fröhlich. „Ich habe gehört, die Mädchen dort sind sehr hübsch."
„Du hast gehört, dass es dort ständig regnet und die Menschen kalt sind", erinnerte ihn Valentine.
„Das war gestern. Heute habe ich von einem anderen Cousin gehört."
Die Kutsche setzte sich in Bewegung, begleitet vom Knarren der Räder und dem Schnauben der Pferde. Valentine lehnte sich aus dem Fenster und winkte ein letztes Mal. Proteus stand am Tor, eine einsame Gestalt, die kleiner wurde mit jedem Meter, den sie sich entfernten. Neben ihm stand Launce, und selbst aus der Distanz konnte Valentine sehen, wie der mürrische Diener seinem Herrn eine Hand auf die Schulter legte.
„Er wird es überstehen", sagte Speed, der Valentines Blick gefolgt war. „Und Ihr auch, Herr. Abschiede sind immer schwer, aber Ankünfte sind umso schöner."
Valentine lehnte sich zurück in seinen Sitz und beobachtete, wie Verona hinter ihnen verschwand. Die Stadt seiner Kindheit, seiner Jugend, seiner Freundschaft mit Proteus – all das blieb zurück, wurde Teil seiner Vergangenheit. Vor ihm lag die Zukunft, ungewiss und lockend zugleich.
Die Straße nach Mailand führte durch sanfte Hügel und fruchtbare Täler, vorbei an kleinen Dörfern und einsamen Bauernhöfen. Der Frühling hatte das Land verwandelt – überall blühten Bäume, und die Felder leuchteten im frischen Grün. Es war eine Landschaft von solcher Schönheit, dass selbst Valentine, der sich geschworen hatte, nicht sentimental zu werden, einen Moment lang Wehmut verspürte.
„Ihr denkt an Herrn Proteus", bemerkte Speed.
„Bin ich so leicht zu durchschauen?"
„Für jemanden, der Euch seit sieben Jahren dient – ja, Herr." Speed grinste. „Aber macht Euch keine Sorgen. Die Freundschaft überwindet auch die Entfernung. Und wer weiß? Vielleicht folgt er Euch eines Tages nach Mailand."
„Proteus in Mailand?" Valentine schüttelte den Kopf. „Nein, er ist zu sehr mit seiner Julia beschäftigt. Bis wir uns wiedersehen, wird er wahrscheinlich längst verheiratet sein und drei Kinder haben."
„Und Ihr, Herr? Was werdet Ihr sein?"
Valentine blickte in die Ferne, wo sich bereits die ersten Ausläufer der Alpen abzeichneten, majestätisch und herausfordernd. „Ich werde sein, was ich sein soll", sagte er langsam. „Was das ist – das wird Mailand mir zeigen."
Die Kutsche rollte weiter, und mit jedem Kilometer wuchs die Distanz zwischen Valentine und seinem alten Leben. Er wusste nicht, was ihn am Mailänder Hof erwartete. Er wusste nicht, dass sein Leben sich bald auf eine Weise verändern würde, die alle seine Überzeugungen auf den Kopf stellen würde. Er wusste nicht, dass die Liebe, über die er so oft gespottet hatte, ihn bald mit einer Macht treffen würde, die ihn völlig unvorbereitet fand.
Doch in diesem Moment, auf der Straße nach Mailand, mit der Frühlingssonne auf seinem Gesicht und dem Wind in seinen Haaren, war Valentine di Montecchio einfach ein junger Mann voller Hoffnung und Erwartung, bereit, sein Schicksal zu umarmen.
Hinter ihm, in Verona, stand Proteus di Verano noch immer am Stadttor und blickte der staubigen Straße nach, lange nachdem die Kutsche aus seinem Blickfeld verschwunden war. In seiner Brust kämpften zwei Gefühle – die Traurigkeit über den Verlust seines Freundes und die Freude darüber, dass er nun alle Zeit hatte, Julia zu erobern.
„Kommt, Herr", sagte Launce schließlich. „Das Starren auf eine leere Straße bringt ihn nicht zurück."
„Ich weiß", murmelte Proteus. Dann, mit einem letzten Blick auf die Straße, wandte er sich um und ging zurück in die Stadt. „Launce, wir müssen einen Plan machen. Julia muss erfahren, dass meine Gefühle wahrhaft sind."
„Ein weiterer Plan", seufzte Launce. „Der letzte Plan war, ihr Blumen zu schicken. Sie hat sie zurückgeschickt. Der Plan davor war, ein Gedicht zu schreiben. Sie hat es nicht gelesen. Vielleicht sollte der neue Plan sein, sie einfach in Ruhe zu lassen."
„Das ist kein Plan, das ist Aufgabe!"
„Manchmal ist Aufgabe die klügste Strategie", murmelte Launce, doch er folgte seinem Herrn gehorsam zurück in die engen Gassen Veronas.
Und so begannen die beiden Freunde ihre getrennten Wege – der eine gen Mailand, der andere tiefer ins Labyrinth der Liebe. Beide ahnten nicht, dass ihre Pfade sich auf eine Weise kreuzen würden, die ihre Freundschaft auf die härteste Probe stellen sollte.
Das Haus der Capuletis lag in jenem Teil Veronas, wo die wohlhabenden Kaufmannsfamilien residierten – nicht ganz so prächtig wie die Paläste des hohen Adels, aber eindrucksvoll genug, um Reichtum und Ansehen zu demonstrieren. Die Fassade aus hellem Stein glänzte im Nachmittagslicht, und durch die hohen Fenster des ersten Stocks konnte man kunstvoll gewebte Teppiche erkennen, die von fernen Reisen und erfolgreichen Geschäften zeugten.
In einem dieser Räume, einem kleinen, sonnendurchfluteten Gemach mit Blick auf den Innenhof, saß Julia di Capuleti an ihrem Stickrahmen und versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Es gelang ihr nicht. Die Nadel glitt ihr immer wieder aus den Fingern, und das Muster, das eine Rose darstellen sollte, sah eher aus wie ein missglückter Kohlkopf.
„Ihr seid heute ungewöhnlich unruhig, Herrin", bemerkte Lucetta, ihre Dienerin und Vertraute, die am Fenster stand und Wäsche zusammenlegte. Lucetta war eine Frau von etwa dreißig Jahren, mit einem klugen, freundlichen Gesicht und jener praktischen Weisheit, die Menschen eigen ist, die das Leben aus der Nähe betrachtet haben. Sie diente Julia seit deren Kindheit und kannte ihre Herrin besser als diese sich selbst.
„Ich bin nicht unruhig", widersprach Julia, doch ihre Stimme klang nicht überzeugend. „Ich bin lediglich... nachdenklich."
„Nachdenklich über einen gewissen jungen Herrn di Verano, vermute ich?"
Julias Wangen färbten sich leicht. Mit ihren zwanzig Jahren war sie in jenem Alter, in dem eine junge Frau eigentlich längst verheiratet sein sollte. Ihre Eltern hatten bereits mehrfach das Thema angeschnitten, doch Julia hatte jeden Kandidaten mit höflichen, aber bestimmten Worten abgelehnt. Sie war keine Schönheit im klassischen Sinne – ihre Züge waren zu markant, ihr Kinn zu entschieden, ihre Augen zu durchdringend. Doch es lag etwas in ihrem Gesicht, das die Menschen anzog: eine Lebendigkeit, eine Intelligenz, die aus jedem Blick sprach.
„Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht", sagte sie und stach mit unnötiger Kraft in den Stoff.
„Natürlich nicht." Lucetta lächelte nachsichtig. „Genauso wenig wie Ihr bemerkt habt, dass besagter junger Herr jeden Tag an diesem Haus vorbeigeht, manchmal zwei- oder dreimal, und jedes Mal zu diesen Fenstern hochblickt."
„Vielleicht ist es der kürzeste Weg zu seinem Ziel."
„Und vielleicht ist die Etsch ein Rinnsal und der Himmel grün", erwiderte Lucetta trocken. „Herrin, Ihr mögt Eure Eltern täuschen können, aber nicht mich. Ich sehe, wie Ihr errötet, wenn sein Name fällt. Ich sehe, wie Ihr nach der Messe verweilt, in der Hoffnung, ihm zu begegnen."
Julia legte die Stickerei beiseite und seufzte. „Ist es so offensichtlich?"
„Für jemanden, der Euch kennt – ja." Lucetta kam näher und setzte sich auf den niedrigen Hocker neben Julias Stuhl. „Die Frage ist: Was gedenkt Ihr zu tun?"
„Tun? Was sollte ich tun?" Julia stand auf und ging zum Fenster, blickte hinab in den Innenhof, wo ein Springbrunnen sein ewiges Lied sang. „Ich bin eine Capuleti. Proteus di Verano ist... er ist ein netter junger Mann, gewiss, aber..."
„Aber?"
„Aber ich kenne ihn kaum. Wir haben einmal gesprochen, für wenige Minuten. Er sagte nette Dinge, übertrieben nette Dinge. Wie kann ich wissen, ob seine Gefühle echt sind oder nur die Schwärmerei eines jungen Mannes, der in jede hübsche Frau verliebt ist, die ihm über den Weg läuft?"
„Er läuft nicht jeder Frau hinterher", bemerkte Lucetta. „Er läuft nur Euch hinterher. Und das schon seit Monaten."
Julia wandte sich ab vom Fenster. „Was wisst Ihr von Liebe, Lucetta? Was weiß überhaupt jemand davon? In den Liedern und Gedichten klingt es so einfach – zwei Herzen finden zueinander, und der Rest ist Glückseligkeit. Doch das wirkliche Leben ist nicht wie ein Lied."
„Nein, das ist es nicht", stimmte Lucetta zu. „Im wirklichen Leben ist Liebe kompliziert und manchmal schmerzhaft. Aber das macht sie nicht weniger wahr oder wertvoll."
Bevor Julia antworten konnte, klopfte es leise an der Tür. Eine junge Magd steckte den Kopf herein, ihr Gesicht gerötet von der Eile.
„Verzeiht die Störung, Herrin, aber ein Junge hat dies am Tor abgegeben. Er sagte, es sei dringend." Sie hielt einen zusammengefalteten Bogen Papier hoch, versiegelt mit rotem Wachs.
Julia nahm das Schreiben entgegen, ihr Herz schlug plötzlich schneller. Sie erkannte das Siegel – es war das der Familie Verano. Die Magd zog sich zurück, und Julia stand mit dem Brief in der Hand, unschlüssig, als wäre es ein gefährliches Tier.
„Nun öffnet ihn schon", drängte Lucetta. „Er wird nicht beißen."
„Woher wisst Ihr, dass er von Proteus ist?"
„Wer sonst sollte Euch so heimlich schreiben?" Lucetta verdrehte die Augen. „Der Papst? Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches?"
Julia brach das Siegel mit zitternden Fingern. Das Papier war von guter Qualität, die Schrift sauber und elegant. Sie begann zu lesen:
An die anmutigste Julia, deren Schönheit die Sterne beschämt,
Vergebt die Kühnheit meiner Worte, doch mein Herz lässt mir keine Ruhe, bis ich Euch meine Gefühle offenbart habe. Seit dem Tag, da ich Euch zum ersten Mal sah, sind meine Gedanken nur noch bei Euch. Euer Lächeln ist das Licht, das meine Tage erhellt, Eure Stimme die Musik, die in meinen Träumen erklingt.
Ich weiß, dass ich nicht würdig bin, auch nur den Saum Eures Gewandes zu berühren. Ich weiß, dass meine Hoffnungen vermessen sind. Doch die Liebe kennt keine Vernunft, keine Vorsicht. Sie ist wie ein Feuer, das alles verzehrt, was ihr im Wege steht.
Wenn Ihr auch nur den kleinsten Funken von Zuneigung für mich empfindet, so lasst es mich wissen. Ein Wort, ein Zeichen würde genügen, um mich zum glücklichsten Mann in ganz Verona zu machen. Solltet Ihr jedoch meine Gefühle nicht erwidern, so werde ich schweigen und Euch nie wieder mit meiner Gegenwart belästigen, auch wenn mein Herz dabei bricht.
In ewiger Verehrung, Proteus di Verano
Julia las den Brief zweimal, dreimal. Mit jeder Zeile spürte sie, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog – eine Mischung aus Freude, Verlegenheit und etwas, das sie nicht recht benennen konnte.
„Nun?" fragte Lucetta ungeduldig. „Was schreibt er?"
„Er... er schreibt von Liebe." Julias Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Das überrascht mich nicht im Geringsten. Und? Wie fühlt Ihr Euch dabei?"
Julia faltete den Brief zusammen, ihre Bewegungen hastig, beinahe panisch. „Ich fühle gar nichts. Es ist lächerlich. Diese übertriebenen Vergleiche, diese schwülstigen Worte – als hätte er sie aus einem schlechten Gedicht abgeschrieben."
„Ihr sagt das, aber Eure Hände zittern."
„Sie zittern nicht!" Julia presste die Hände zusammen, als wollte sie Lucetta widerlegen, doch das Zittern war nicht zu übersehen. Plötzlich, in einem Anfall von – was? Wut? Angst? Verzweiflung? – riss sie den Brief in zwei Hälften. Dann noch einmal. Und noch einmal. Die Schnipsel flatterten zu Boden wie verwundete Vögel.
Lucetta betrachtete die Szene mit hochgezogenen Augenbrauen. „Das war sehr überzeugend. Niemand, der einen Brief gleichgültig findet, würde ihn mit solcher Leidenschaft zerreißen."
Julia starrte auf die Papierschnipsel zu ihren Füßen. Ihre Augen brannten, und sie wusste nicht, ob es Tränen der Wut oder der Traurigkeit waren. „Was soll ich tun, Lucetta? Meine Mutter würde... sie würde sagen, es schickt sich nicht, dass ein junger Mann mir so schreibt. Mein Vater würde seine Familie konsultieren, Verhandlungen führen, alles in die richtigen Bahnen lenken wollen."
„Und was wollt Ihr?"
„Ich weiß es nicht!" Die Worte brachen aus Julia heraus, lauter als beabsichtigt. Sie sank auf ihren Stuhl zurück und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich weiß es nicht, Lucetta. Ich dachte immer, wenn die Liebe käme, würde ich es wissen. Es würde eindeutig sein, klar wie ein Sommertag. Aber das hier..." – sie deutete hilflos auf die Papierschnipsel – „...das ist alles andere als klar."
Lucetta kniete sich hin und begann, die Schnipsel einzusammeln. „Darf ich Euch etwas fragen, Herrin? Und mögt Ihr mir ehrlich antworten?"
„Natürlich."
„Als Ihr Herrn Proteus nach der Messe begegnet seid und mit ihm gesprochen habt – wie habt Ihr Euch da gefühlt?"
Julia schloss die Augen und erinnerte sich. Es war vor zwei Tagen gewesen, ein sonniger Vormittag. Die Messe in Santa Anastasia war gerade zu Ende, und die Gläubigen strömten hinaus in das helle Tageslicht. Sie hatte Proteus am Rand des Platzes gesehen, wie er unschlüssig dastand, offensichtlich auf sie wartete, aber nicht wagend, sich zu nähern.
Fast hatte sie ihn ignoriert, wäre einfach weitergegangen. Doch etwas – Neugier? Mitleid? Oder vielleicht doch mehr? – hatte sie innehalten lassen. Sie hatte ihrer Anstandsdame ein Zeichen gegeben, ein paar Schritte zurückzutreten, und war zu Proteus getreten.
„Herr di Verano", hatte sie gesagt, ihre Stimme ruhig und kontrolliert. „Genießt Ihr die Frühlingssonne?"
Er hatte sie angestarrt, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen. Dann hatte er sich gefasst, eine tiefe Verbeugung gemacht. „Die Sonne ist nichts im Vergleich zum Licht Eurer Gegenwart, Herrin."
Sie hätte lachen sollen über diesen plumpen Vergleich. Stattdessen hatte sie gespürt, wie ihr Herz einen seltsamen Sprung machte.
„Ihr seid sehr freundlich", hatte sie geantwortet und sich bemüht, kühl zu klingen. „Habt Ihr die Predigt genossen?"
„Ich... ehrlich gesagt, ich habe kein Wort davon gehört." Seine Ehrlichkeit hatte sie überrascht. „Ich konnte nur an Euch denken. Vergebt mir meine Kühnheit, aber ich musste es sagen."
Da hatte ihre Anstandsdame sich genähert, hatte bedeutsam geräuspert, und Julia hatte sich verabschieden müssen. Aber für diesen kurzen Moment, als ihre Blicke sich getroffen hatten, hatte sie etwas gespürt – eine Verbindung, eine Erkennung, als würden zwei Teile eines Ganzen zueinander finden.
„Ich fühlte..." – Julia öffnete die Augen und sah Lucetta an – „...ich fühlte mich lebendig. Mehr als je zuvor. Als ob die Welt plötzlich heller, klarer, bedeutungsvoller geworden wäre."
Lucetta nickte weise. „Das klingt sehr nach Liebe, Herrin. Oder zumindest nach dem Beginn davon."
„Aber wie kann das sein? Ich kenne ihn doch kaum!"
„Kennen ist nicht dasselbe wie Fühlen. Man kann einen Menschen jahrelang kennen und nie etwas für ihn empfinden. Oder man kann ihm einmal begegnen und sofort wissen, dass er wichtig ist."
Julia erhob sich und ging zum Fenster zurück. Draußen neigte sich der Tag dem Abend zu, die Schatten wurden länger, und die Stadt tauchte ein in jenes goldene Licht, das nur der späte Nachmittag bringt.
„Was wäre, wenn ich ihm antworte?" fragte sie leise. „Was würde das bedeuten?"
„Es würde bedeuten, dass Ihr Euch erlaubt zu fühlen, was Ihr fühlt. Es würde bedeuten, dass Ihr den ersten Schritt tut auf einem Weg, der vielleicht zu großem Glück führt – oder zu großem Schmerz. Aber ist es nicht besser, zu gehen und das Risiko einzugehen, als stehenzubleiben und sich ewig zu fragen, was hätte sein können?"
Julia dachte lange nach. Draußen begann eine Glocke zu läuten, rief die Gläubigen zum Abendgebet. Das Leben in Verona ging seinen gewohnten Gang, gleichgültig gegenüber den inneren Kämpfen einer jungen Frau.
„Ich brauche Zeit", sagte Julia schließlich. „Ich muss nachdenken, überlegen..."
„Natürlich, Herrin." Lucetta erhob sich, die gesammelten Papierschnipsel in ihrer Hand. „Ich werde diese entsorgen..."
„Nein!" Das Wort kam so schnell und heftig, dass beide Frauen überrascht innehielten. Julia räusperte sich, versuchte, ihre Stimme zu kontrollieren. „Das heißt... gebt sie mir. Ich werde mich selbst darum kümmern."
Lucetta reichte ihr die Schnipsel mit einem wissenden Lächeln. „Wie Ihr wünscht."
Als die Dienerin den Raum verlassen hatte, stand Julia lange Zeit am Fenster und hielt die zerrissenen Stücke des Briefes in ihren Händen. Sie sollte sie ins Feuer werfen, vergessen, was geschehen war, sich auf die Aufgaben einer tugendhaften jungen Frau konzentrieren.
Stattdessen ging sie zu ihrem Schreibtisch, holte eine kleine Schatulle hervor, in der sie kostbare Dinge aufbewahrte – ein Medaillon ihrer Großmutter, ein getrocknetes Rose von ihrem ersten Tanzball, einen Brief ihrer Schwester aus Florenz. Sorgfältig legte sie die Papierschnipsel hinein, ordnete sie so, dass die Worte noch lesbar waren.
Euer Lächeln ist das Licht, das meine Tage erhellt...
Sie schloss die Schatulle und stellte sie zurück in die geheime Schublade ihres Schreibtisches. Dann setzte sie sich wieder an ihren Stickrahmen, nahm die Nadel auf und versuchte, sich auf das Muster der Rose zu konzentrieren.
Doch ihre Gedanken waren weit weg, bei einem jungen Mann mit dunklem Haar und ehrlichen Augen, der vielleicht in diesem Moment ebenfalls am Fenster stand und auf eine Antwort hoffte, die er nicht erhalten würde – jedenfalls nicht heute.
Die Nacht senkte sich über Verona. In ihrem Zimmer saß Julia, die Kerze brannte nieder, und sie starrte auf die Schatulle, als könnte sie durch bloße Willenskraft die Zukunft sehen, die darin verschlossen lag.
Was sie nicht wusste – was sie nicht wissen konnte – war, dass Proteus zu dieser Stunde ebenfalls an seinem Fenster stand, das Herz schwer von Hoffnung und Angst. Er hatte den ganzen Tag auf ein Zeichen gewartet, einen Boten, ein Wort. Nichts war gekommen.
„Vielleicht hat sie den Brief nie erhalten", sagte er zu Launce, der in der Ecke saß und an einem Stück Brot kaute.
„Oder sie hat ihn erhalten und ins Feuer geworfen", erwiderte Launce praktisch. „Was wahrscheinlicher ist, wenn Ihr mich fragt."
„Ich habe dich nicht gefragt."
„Ihr solltet aber. Ich bin der Einzige hier, der noch bei Verstand ist." Launce warf Crab ein Stück Brot zu, das der Hund ignorierte. „Seht Ihr? Selbst der Hund weiß, dass verlorene Liebesmüh' keine Früchte trägt."
Doch Proteus hörte nicht zu. Seine Gedanken waren bei Julia, bei der Hoffnung, dass sie vielleicht, nur vielleicht, seine Gefühle erwiderte. Er wusste nicht, dass sie in diesem Moment seine Worte las und wieder las, dass sein Brief sicher verwahrt lag in einer Schatulle, die sie wie einen Schatz hütete.
So endete dieser Tag in Verona – mit zwei Herzen, die füreinander schlugen, getrennt durch Mauern aus Zweifel und Konvention, doch verbunden durch jene unsichtbaren Fäden, die das Schicksal spinnt, wenn es entscheidet, dass zwei Leben sich verflechten sollen.
Und irgendwo zwischen diesen zwei Herzen, wusste niemand, dass die Geschichte gerade erst begonnen hatte – eine Geschichte von Liebe und Treue, von Verrat und Vergebung, die alle Beteiligten auf eine Weise verändern würde, die keiner von ihnen sich hätte vorstellen können.
Die Reise nach Mailand hatte drei Tage gedauert, drei Tage auf holprigen Straßen, in unbequemen Herbergen und unter einem Himmel, der zwischen strahlendem Sonnenschein und plötzlichen Frühlingsschauern wechselte. Valentine hatte die Zeit genutzt, um von Eglamour, dem Anführer der Handelsdelegation, mehr über den Mailänder Hof zu erfahren.
„Der Herzog ist ein Mann von großer Bildung", hatte Eglamour erklärt, während sie an einem Abend in einer Herberge bei Brescia saßen, „aber auch von unberechenbarem Temperament. Er schätzt kluge Worte, aber verabscheut Schmeichelei. Er liebt die Künste, aber fordert zugleich militärische Stärke. Ein komplizierter Patron, wenn Ihr versteht, was ich meine."
„Und seine Tochter?" hatte Valentine gefragt, mehr aus Höflichkeit denn aus echtem Interesse.
„Ah, die schöne Silvia." Eglamour hatte gelächelt. „Sie ist das Juwel des Mailänder Hofes. Klug, gebildet, schön – und leider bereits dem jungen Thurio versprochen, einem Edelmann von beträchtlichem Reichtum, wenn auch von... nun, sagen wir, begrenztem Geist."
Nun, am späten Nachmittag des dritten Reisetages, stand Valentine vor den Toren Mailands und verstand, warum diese Stadt als eine der prächtigsten Italiens galt. Die Stadtmauern waren massiv und gut bewacht, die Türme ragten hoch in den Himmel, und durch das offene Tor konnte er breite Straßen sehen, gesäumt von prächtigen Gebäuden aus rotem Backstein und weißem Marmor.
„Bei allen Heiligen", murmelte Speed, der neben ihm stand und mit offenem Mund die Szenerie betrachtete. „Das ist ja wie Rom! Oder wie ich mir Rom vorstelle. Ich war ja noch nie in Rom."
„Du warst noch nie irgendwo außer Verona", erinnerte ihn Valentine amüsiert.
„Nun bin ich in Mailand. Das ist ein Anfang."
Sie durchquerten das Tor und tauchten ein in das pulsierende Leben der Stadt. Mailand war größer als Verona, geschäftiger, lauter. Händler priesen ihre Waren an in einem Dutzend verschiedener Dialekte, Soldaten in glänzenden Rüstungen patrouillierten durch die Straßen, und überall sah man die Zeichen des Wohlstands – kostbare Stoffe in den Schaufenstern, reich verzierte Kutschen, elegant gekleidete Damen und Herren.
Eglamour begleitete Valentine bis zum Palazzo Ducale, dem herzoglichen Palast, der im Zentrum der Stadt thronte wie eine Krone. Es war ein gewaltiger Bau aus rotem Backstein mit einem Innenhof, der von Arkadengängen umgeben war. Brunnen plätscherten, und in den Gärten blühten bereits die ersten Rosen.
„Hier verlassen Euch meine Wege", sagte Eglamour und reichte Valentine einen letzten Brief. „Dies ist Eure offizielle Empfehlung an den Herzog. Zeigt sie dem Kammerherrn, er wird Euch weiterhelfen. Und Valentine" – der alte Kaufmann legte ihm eine Hand auf die Schulter – „seid klug, aber nicht zu klug. Hört mehr, als Ihr sprecht. Und vertraut niemandem vollständig, bis Ihr wisst, wo ihre Loyalitäten liegen."
„Ich danke Euch für Eure Weisheit, Signore."
„Es ist nur die Weisheit eines alten Mannes, der zu viele Höfe gesehen hat." Eglamour lächelte müde. „Möge das Glück Euch hold sein."
Der Kammerherr des Herzogs, ein dürrer Mann namens Pantino mit scharfen Augen und einer Nase wie ein Vogelschnabel, empfing Valentine in einem kleinen Empfangszimmer. Er las das Empfehlungsschreiben mit der Gründlichkeit eines Gelehrten, der eine antike Schrift studiert, nickte dann bedächtig.
„Euer Vater ist ein angesehener Mann", sagte er schließlich. „Und Euer Ruf als gebildeter junger Edelmann ist uns vorausgeeilt. Der Herzog wird Euch morgen in Audienz empfangen. Bis dahin werden Euch Gemächer im Westflügel zugewiesen. Euer Diener kann in den Unterkünften der anderen Bediensteten untergebracht werden."
„Ich bleibe bei meinem Herrn", erklärte Speed prompt.
Pantino zog eine Augenbraue hoch. „Das ist höchst unüblich."
„Speed ist nicht nur mein Diener, sondern auch mein Freund", sagte Valentine ruhig, aber bestimmt. „Wenn es möglich ist, würde ich es schätzen, wenn er bei mir bleiben könnte."
Nach kurzem Zögern nickte Pantino. „Wie Ihr wünscht. Folgt mir."
Die Gemächer, die Valentine zugewiesen wurden, waren bescheiden, aber komfortabel – ein Schlafzimmer, ein kleines Studierzimmer und ein Raum für Speed. Die Fenster gingen auf den Innenhof hinaus, und Valentine konnte die Arkadengänge sehen, in denen sich Menschen bewegten wie Schachfiguren auf einem Brett.
„Nicht schlecht", urteilte Speed und warf sich auf das Bett, um es zu testen. „Definitiv besser als die Herberge in Bergamo, wo die Matratze mehr Flöhe hatte als Stroh."
„Mach dich frisch", befahl Valentine. „Wir sollten den Palast erkunden, uns orientieren."
Eine Stunde später, in sauberen Kleidern und mit gekämmten Haaren, machten sie sich auf den Weg durch die labyrinthartigen Gänge des Palazzo. Überall waren Menschen – Höflinge in prächtigen Gewändern, Diener, die hastig ihrer Arbeit nachgingen, Gelehrte mit Büchern unter dem Arm, Soldaten, Musiker, Künstler. Der Mailänder Hof war eine Welt für sich, ein Mikrokosmos der Macht und des Einflusses.
Valentine ließ sich treiben, beobachtete, lernte. Er notierte die Gesichter, die wichtig schienen, die Art, wie Menschen miteinander sprachen – wer sich vor wem verbeugte, wer wen ignorierte. Das waren die unsichtbaren Hierarchien, die man verstehen musste, wollte man an einem Hof überleben.
